ASHUR
Das 4.837. Jahr seit dem Blutschwur von Adun
Immer noch an dem Fenster, richtete Varish seine Aufmerksamkeit auf das rasende Wesen vor seinen Augen. Hatte es vielleicht sichtbare Wunden, Schaum vor dem Mund, oder dunkle Stellen am Körper - Zeichen einer Verletzung doch Krankheit? Doch das Tier machte es ihm nicht leicht, zu einem Urteil zu kommen. Immer wieder stampfte und brüllte es, blieb in Bewegung. Und so sehr der Waldläufer sich auch bemühte, er konnte sich an kein Wesen in seiner Heimat erinnern, dass so aussah. Es schien eine seltsame Mischung zu sein, aus einer Echse, einem Drachen und vielleicht einer Art dornenbewährter Schildkröte? Eine riesige Echse war wohl der beste Quervergleich, den Varish ziehen konnte
[1].
Und ohne Kenntnis über die Art des Wesens war es auch schwer, Verletzungen zu identifizieren. So weit der Waldläufer sehen konnte, war das Tier unverletzt. Er konnte keine Biss- oder Schnittwunden erkennen. Zu den Füßen hin wurde die Hautfarbe etwas dunkler, ebenso an der Schweifspitze - aber da dies an allen fünf Gliedern der Fall war, war davon auszugehen, dass das dem natürlichen Farbverlauf entsprach. Aus dem Maul spritzte beim Gebrüll Geifer, doch das verhielt sich nicht anders, als mit den Wölfen und Bären, die Varish in den Wäldern Norwegens getroffen und gejagt hatte. Und die Augen leuchteten in einem hellen Blau - wieder dieses Blau, wie der Kristall in der Raummitte. Gerade als Varishs Gedanken sich um diesen Punkten zu drehen begannen, machte das Wesen noch einen Satz zur Seite und Varish erkannte knapp ein Dutzend Fuß hinter dem mächtigen Leib eine seichte Grube und beiges Rund. Er besah sich dies genauer und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - es war ein Nest und die drei kugelförmigen, beigen Steine darin mussten die Eier dieser Kreatur sein. Vielleicht war das Wesen nicht in Raserei, weil es verletzt war, sondern weil es die Neuankömmlinge als Bedrohung für seine Ungeborenen betrachtete?
Derweil hatte sich Aenor vom Fenster abgewandt und hin zur Bühne und auf den Kristall zubewegt. Gut fünf Fuß von diesem entfernt - ungefähr dort, wo er vorhin zu sich gekommen war und unweit des herabgestürzten Balkens - blieb er stehen und vollführte erneut ein kurzes Ritual. Für einige Augenblicke schob sich der Schleier der Astralebene vor seine Augen, durch den alles mundane in Grau getaucht war. Seine Fingerspitzen, die die letzten Bewegungen der magischen Formel vollführten, leuchteten dagegen in scharfem Kontrast dazu in hellem, warmem Licht; die Konturen waren in Weiß getaucht und zeugten von der Magie, die durch ihn floss. Und der Kristall leuchtete auch - viel heller, als vorhin; nun, auf der astralen Ebene betrachtet. Das helle Saphierblau pulsierte nicht länger innerhalb des Steins, sondern ströhmte förmlich aus ihm in alle Richtungen und machte ihn wie selbstverständlich zum Mittelpunkt des Raums.
Der Magier spürte deutlich, dass er es hier mit einer starken magischen Kraft zu tun hatte. Ihre Auswirkungen wurden zur Spitze hin schwächer, je weiter der Kristall aus dem Boden herauswuchs und die Aura ließ noch weiter nach in der Umgebung des Kristalls. doch an seiner Wurzel war die Magie deutlich zu spüren und Aenor vermutete, dass sie unter der Erde noch stärker sein musste.
[2]Während sich der Elf auf die Betrachtung des Kristalls konzentrierte, entschied sich Hogni für die naheliegendere Tat - und er tat dies nicht zu früh. Ein weiteres Mal stürmte das Wesen mit Gebrüll von Außen heran und ließ seinen mächtigen, dornenbesetzten Schweif von Außen an die Mauer krachen. Ein türgroßes Stück - mehrere, schwere Steine, die vom Putz zusammengehalten wurden - brach aus derselben, und krachte auf die Bühne. Staub stieg auf und verteilte sich im Raum. Mit einem Ächzen gab ein weiterer Dachbalken nach und krachte hinunter auf den Kristall, nur um von diesem abzuprallen und entzweigebrochen auf der Bühne zu landen. Dann rieselten mittelgroße Steine von der Decke über der Bühne und ein Riss lief längsseits durch die Raumdecke. Lange würde dieses Gebäude nicht mehr stehen.
Der Skalde stürme zwischen den Sitzbänken durch den Gang auf das Tor zu. Je näher er den Türflügeln kam, desto besser erkannte er, dass sie massiv gearbeitet waren. Die metallernen Verzierungen zogen sich über beide Türflügel und stellten offensichtlich eine Sagenszene des Erbauerfolkes dar. Er erkannte ein stilisiertes Bauwerk unten und große, fliegende Wesen am Himmel. Mehr Zeit für die Betrachtung blieb ihm nicht mehr. Hogni war am Tor und versuchte einen der Türflügel aufzudrücken - doch dieser gab nicht nach. Der Skalde erkannte kein Schloss auf der Innenseite - entweder hatte sich das Tor im Laufe der Zeit verbogen und steckte fest, oder es war von außen mit einem Vorhängeschloss gesichert.