ASHUR
Das 4.837. Jahr seit dem Blutschwur von Adun
Als Hogni den Trank vorsichtig an die eigenen Lippen hob und einen Schluck nahm, nickte ihm der Fremde, der sich als Venegor vorgestellt hatte, zu und trat einen Schritt zur Seite. Damit ermöglichte er dem Skalden, sich seinem Verletzten Kameraden zu nähern, der auf dem Boden neben dem Bach lag. Der Schütze sagte nichts, behielt jedoch auch den Bogen unten und entspannte die Sehne; es schien, als hätte Hognis Geste das Vertrauen der Fremden geweckt.
Der Skalde trat näher und kniete sich vor dem Verletzten hin. Aus dieser nächsten Nähe konnte er sich den sonderbaren Fremden genauer ansehen. Kleine Nasenlöcher verbargen sich im Gesicht, waren jedoch unter einem der mittigen Auswüchse, die die Fremden an der Stelle der Nase hatten, nahezu unsichtbar verborgen. Und der lippenlose Mund war ebenfalls kaum zu erkennen, so lange er geschlossen war. Die Haut - wenn man sie so nennen mochte - war eine Mischung aus grau, blau und grün, und obwohl sie sich ledrig anfühlte, hatte man den Eindruck, als wäre sie zugleich auch leicht schuppiger Natur. Kein Zweifel - diese Wesen waren das Fremdartigste unter den Humanoiden, was dem Norweger je begegnet war.
Zumindest seine Wunden machten einen vertrauten Eindruck. Nachdem er so viele Schlachten miterlebt hatte, konnte Hogni klar die Schnitte einer Klinge an einem Körper erkennen, auch wenn dieser Körper nicht menschlich war. Knapp oberhalb der rechten Hüfte des Fremden verlief ein langer und tiefer Schnitt, aus dem dunkles, nahezu schwarzes Blut quoll. Seine Kameraden hatten wohl versucht, ihn zu verbinden, doch der schwarze Verband - ein Stück Stoff, herausgerissen aus der Uniform - war verkrustet und lose, unfähig, weitere Flüssigkeit aufzunehmen. Und als wäre das nicht genug, erkannte der Skalde noch eine tiefe Wunde auf der linken, oberen Bauchseite - knapp unterhalb der Stelle, wo bei den Menschen das Herz lag. Hier hatte wohl jemand zugestoßen und die Klinge tief hineingetrieben. Immer mehr schwarzes Blut quoll auch aus dieser Wunde. Auch ohne genaueres über die Anatomie dieser Wesen zu wissen, war Hogni klar, dass der Fremde vor ihm einen aussichtslosen Kampf kämpfte, wenn er keine Hilfe erhielt.
Hogni fand den Mund des Verletzten, schob seine Linke unter dessen Kopf und hob ihn leicht an. Dann flößte er dem Bewusstlosen langsam die dunkelrote Flüssigkeit aus der Phiole ein. Für einen Augenblick tat sich nichts - die beiden Stehenden schauten angespannt und stumm auf sie hinab. Doch dann erkannte Hogni erleichtert, das vertraute, rötliche Leuchten, dass um die Wunden des Mannes erschien.
Der Schütze, den man ihnen als Suligor vorgestellt hatte, machte erstaunt einen Schritt zurück. "Amikor a sárkány! Mi ez?", rief er aus. Doch Venegor, wie er sich nannte, bleib zwar erstaunt, doch ruhig stehen. "Mágia, Suligor. Ez az magia. Ezek a dehir nahuri", sagte er.
Derweil nahm das Leuchten weiter zu und Hogni erkannte, wie sich die Wunden des Mannes zu schließen begannen. Der Blutfluss war unterbrochen und die lange Schnittwunde begann zu trocknen. Auch die tiefe Wunde auf dem Bauch zog sich zusammen. Es dauerte einige Augenblicke, dann begann die Kraft des Heiltranks nachzulassen und das Leuchten verblasste und verschwand. Als es entschwunden war, erkannte der Skalde helles, weißes Fleisch an der Stelle, an der sich der lange Schnitt befunden hatte. Nur noch ein dünner Strich in der Mitte des dickeren, hellen Streifens deutete an, dass die Wunde noch nicht völlig geschlossen war. Und auch die tiefe Wunde hatte sich stark zusammengezogen und die Blutung war deutlich zurückgegangen, wenn sie auch nicht völlig gestoppt war. Keine Frage, mit der Wirkung des Tranks waren die gröbsten Verletzungen beseitigt.
Dies sah wohl auch Venegor so - der Fremde kniete sich neben Hogni und sah sich seinen Kameraden an. Langsam kam dieser zu sich und murmelte einige Worte, auf die Venegor knapp antwortete. Dann schaute er zu Hogni hinüber. Als er sicher war, dass der Skalde ihn ansah, legte er sich eine Hand auf die Brust und führte dann die offene Handfläche in dessen Richtung. Dabei sprach er ein Wort aus: "Köszönöm."
Plötzlich fiel Hognis Blick auf das linke Bein des Verletzten. Er erkannte knapp oberhalb des Knöchels zwei helle Punkte nebeneinander - als hätte es dort zwei kleine Stichwunden gegeben, die der Heintrank wohl auch geheilt hatte. Als Venegor seinen Blick bemerkte, ballte er eine Hand zur Faust.
Dann geschah etwas. Aenor und Varish, die unweit standen, und die Szene aufmerksam beobachteten, hörten, wie der knieende Fremde, der sich Venegor genannt hatte, etwas in seiner Sprache sagte, während er auf das Bein und die Stelle mit den Stichwunden deutete. Es hörte sich an wie: "A Fekete Vipera."
Doch es war nicht das, was
der Skalde hörte. Während der Fremde zu ihm sprach, überkam Hogni plötzlich eine Nachwehe der Vision, die er erlebt hatte, bevor er in der Kapelle aufgewacht war.
Der riesige Kopf eines silberblauen Drachen starrte ihn an, während rigsherum Nebel war. Die Augen des Drachen leuchteten in grellem Weiß und Hogni hatte das Gefühl, als würde dieser Blick ihn messen und wiegen. Dann überkam ihn Dunkelheit.Das Ganze hatte nur einen Augenblick gedauert - ein einziges Blinzeln - und war wieder vorbei. Hogni war wieder auf dem harten Boden, vor dem Verletzten, den man Navaras genannt hatte, und hörte ebenfalls die Worte Venegors. Nur vernahm er nicht die unverständlichen Worte einer fremden Sprache, sondern verstand das Gesagte: "Die Schwarzviper."
Während der Skalde diese Erkenntnis noch verarbeitete, hörte er, wie der Schütze, der immer noch neben ihnen stand, plötzlich den Pfeil fallen ließ, mit dem Finger zu Varish deutete und seinem Neffen etwas zuschrie: "
Mivel - a Fekete Vipera! Vigyázat!"
Sowohl Aenor, als auch Hogni und Venegor folgten der Deutung und schauten zum jungen Nordmann. Auch Varish sah herunter, an seinem Bein entlang, als er die Worte hörte. Doch es war zu spät - der Waldläufer konnte nur noch erkennen, wie eine kleine, schwarze Schlange, ungefähr zwei Fuß von seinem Bein entfernt, sich spannte und sprang. Der Körper - einem Strich gleich - flog auf sein linkes Bein zu und die Zähne bohrten sich in das Fleisch, ungefähr auf Höhe der Wade.
Aenor hörte, wie sein neugewonnener Begleiter vor Schmerz aufschrie und zu Boden fiel. Ebenso vernahm es Hogni.