Kälte machte ihre Glieder klamm und unbeweglich. Gleich zu Beginn des Sturmes war sie beinahe über Bord gegangen und seit dem keinen Moment mehr trocken gewesen, so dass sie jetzt all ihre Habe für nur einen Fetzen trockener Kleidung hergegeben hätte. Merope hatte sich in eine knappe, leichte Tunika gekleidet, in der Hoffnung, dass diese schneller trocknen würde, als das lange Gewand, in dass sie sich für gewöhnlich hüllte. All die Geschichten, die sie gelernt hatte, all die Lieder... nun fühlte Merope sich, als wäre sie selbst ein Teil von ihnen - von den Tragischen und Traurigen, vor allem.
Merope verzagte, wie konnte ein Mensch allein nur soviel Unbill erdulden müssen? Nach dem sie den zornigen Fluten nur knapp entronnen war, hatte sie sich im Schiff verkrochen und still jeden Gott, der ihr bekannt war um Gnade angefleht. Hätte Sie sich nur fallen gelassen und wäre ertrunken, dann hätte der Sturm mit Sicherheit früher aufgehört. Doch einmal mehr hatte Merope erfahren, wieviel ihr das eigene Leben bedeutete. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass ihr das Leben der anderen wohl weniger bedeutete - eine Erkenntnis, die sie mit einem merkwürdigem ambivalentem Gefühl zurückließ, mit Schuld und Scham, aber auch mit... Rausch?
Sie stand auf, nahm das nasse Päckchen mit ihrer spärlichen Habe und kletterte unbeholfen vom Schiff herunter. Das Gefühl, des Sandes unter ihren Sohlen, ließ sie milde Lächeln - eine wahre Freude, wenn der Boden sich nicht mehr zu bewegen wagte, so wie es sich gehörte. Am Strand sah sie sich schließlich nach den Anderen um. Eigentlich kannte Merope alle Flüchtlinge. Die Männer hatten sich mit nur einer Ausnahme schon allesamt bei ihr vorgestellt. Die Ausnahme war Charálampos, gerufen Charis, der gerade bei seinem Freund Triophthalmos, gerufen Trios, stand und mit diesem sprach. Entweder hatte dem Jungen noch niemand erzählt, was man so alles mit Frauen anstellen konnte oder er hatte einen anderen Geschmack. Letzteres traf vermutlich sogar zu, so wie er an dem älteren Trios klebte.
Die Kinder kannte Merope beinahe noch besser. Aus verschiedenen Gründen liebten sie die junge Frau, nicht zuletzt weil niemand so viele Sagen und Lieder kannte, wie sie. Und so schafften sie es auch regelmäßig Meropes Herz zu erweichen und ihren Wünschen nachzugeben. Die meisten Frauen versuchten Merope zu meiden, schafften es aber eigentlich nie, sich nicht doch dazu herabzulassen der Erzählerin ihre Meinung mitzuteilen und dass sie gefälligst ihre Männer in Ruhe lassen sollte. Allerdings gab es auch Frauen, die Meropes Nähe suchten. Es hatte den Anschein, dass es die meisten durch den Sturm geschafft hatten, vielleicht war der Zorn der Götter doch nicht so schlimm gewesen?
Trios brüllte herum, als hätte er es mit einer Abteilung Krieger und nicht mit einem abgerissenen Haufen von Überlebenden zu tun. Andererseits hatte er wohl schon recht und irgendwer musste ja schließlich die Führung übernehmen, also schritt Merope den Strand entlang auf die beiden Krieger zu.
"SAMMELN!" brüllte der alte Veteran ein weiteres mal, als Merope neben ihm erschien.
"Was, o großer Heerführer, sollen wir denn sammeln?" fragte sie mit einem schelmischen Lächeln, dass ihren unschuldigen Tonfall Lügen strafte. Sie konnte machen was sie wollte, sie zwang sich sogar regelrecht dazu stets freundlich und hilfsbereit zu sein, doch hin und wieder kam sie nicht umhin dem Drang zur Insubordination nachzugeben. Gerade bei Trios machte es ihr Spaß, kamen seine Befehle doch ihrem Empfinden nach wesentlich fordernder als die der anderen Krieger. Wenngleich Merope Führerschaft in einer Situation wie der jetzigen nicht in Frage stellte, beschwor der ihr eigene Freigeist doch immer wieder solche kleinen Spitzen herauf. Hatte sie noch vor Augenblicken finsteren Gedanken nachgehangen, hellte Meropes Gemüt immer mehr auf, während sich all ihre Gefährten langsam um sie herum sammelten. War die Freude am eigenen Leben nicht die schönste Freude? Breit lächelnd zwinkerte sie Charis zu und rief ausgelassen
"Die Erde hat uns endlich wieder! Niemand kann mir erzählen, dass der Mensch auf das Meer gehört." Leicht fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah die beiden Männer an
"Ein Feuer wäre eine gute Idee, meint ihr nicht? Zum Trockenwerden? Ich bin jedenfalls noch immer ganz nass." Merope hatte sich während ihrer Irrfahrt inzwischen einen gewissen Ruf als schnellste Entfacherin von Feuern jeglicher Art erworben, vom entflammten Herzen bis zum Lagerfeuer. Gerade Letzteres hatte so manchen Stolz empfindlich und nachhaltig verletzt
[1]. Als sie an Trios' Gesicht vorbei schaute, konnte sie Aristeas' Gestalt im Hintergrund aufragen sehen. Sie biss sich auf die Unterlippe, denn seit sie sich kannten, seit der letzten Nacht Trojas stand all das was geschehen und gesagt und all das was nicht geschehen und nicht gesagt wurde zwischen ihnen, aber dennoch mochte sie den Krieger, sehr sogar, außerdem hatte sie ja auch noch eine Schuld zu begleichen.
"ARISTEAS! HIER SIND WIR!" sie winkte mit einem Arm und zwinkerte Trios dabei übertrieben verschwörerisch zu. Der alternde Späher hatte sie gebeten, sie möge dem jüngeren Waffengefährten ein wenig mit ihrer Nähe erfreuen. Sie konnte sich zwar bisher nicht ausmalen was Trios damit bezweckte, doch dass er etwas bezweckte ahnte sie jedoch schon. Anstatt dies zu hinterfragen, hatte sie sich für den Gefallen mit einer wundervollen Lyra bezahlen lassen. Die Götter allein wussten, wie Trios an das kostbare Instrument gelangt war. Merope war es egal, genauso egal wie ihr Trios' Beweggründe waren.