Das Gefühl, fremd zu sein - alleine unter Menschen - ist Suri nur allzu vertraut. Und das nicht erst, seit sie ihre Heimat verlassen hat. Schon wenige Jahre nach ihrer Geburt als
Sohn eines Kshatriyas hat sie mit absoluter Bestimmtheit gewusst, dass sie nicht dorthin gehört, wo ihre Familie ihren Platz gesehen hat. All die Entscheidungen - ihre Wurzeln hinter sich zu lassen, sich den Hijras anzuschließen und eines Tages auf eigene Faust ins Unbekannte aufzubrechen - sind ihr nicht leicht gefallen; an manchen Tagen kann die Heilkundige nicht anders, als zutiefst verwundert zu sein über den Frieden, den sie mit ihrem gegenwärtigen Zyklus des Samsara gemacht hat. Aber diese innere Stärke, das Licht, das Mitgefühl, sind für andere Menschen sichtbar und spürbar. Für Suris Landsleute, für philipinische Seefahrer, für japanische Krieger, für afrikanische Ex-Sklaven, für aztekische Ureinwohner und sogar für die selbstgerechten Conquistadors, die ihr am meisten unheimlich sind.
Die Heilerin schickt niemanden fort, der hilfesuchend zu ihr kommt. In der chaotischen Neuen Welt hat sie viele Bekanntschaften geschlossen und sich Freunde gemacht. Und kürzlich hat sie die Nachricht über den Tod zweier dieser Freunde ereilt. Ramalang, ein ehemaliger malayischer Matrose im Ruhestand, und seine Ehefrau Hawwat, deren mysteriöses Leiden Suri trotz wochenlangen Bemühungen noch nicht hat lindern können, hatten sich in die Hände der katholischen Mönche von
La Asunción begeben - und nun heißt es, sie seien der Krankheit erlegen, und Gott, der Herr, habe die Seelen der getauften Heiden in seinem Reich willkommen geheißen.
Nicht nur hat die Hijra keinen Abschied von ihren Freunden nehmen können, sie hat außerdem erfahren, dass das Schiksal von Ramalang und Hawwat kein Einzelfall gewesen ist. Nun fühlt sie sich verpflichtet, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, nicht um ihrer selbst willen, doch um all jener, denen unrechtens Leid angetan wurde. Und in dieser Suche ist sie diesmal nicht alleine.
Die erste Schwierigkeit für die Suchenden stellt bereits das Organisieren einer Überfahrt über den See dar. Doch wo ein Wille ist, ist immer ein Weg. Fast immer kann man Zugang zu den Herzen der Menschen erlangen. Instinktiv wendet sich Suri in die Richtung, die Morinozuka-sama eingeschlagen hat. Mit Spaniern zu kommunizieren, kostet sie viel mehr Überwindung, als sie zu ihrem eigenen Beschämen in den meisten Fällen aufbringen kann, und das nicht nur, weil sie fast kein Wort ihrer Volks- und Gelehrtensprachen versteht. Es fällt ihr nicht immer leicht, hinter den schroffen und hochmütigen Fassaden der Kreuzträger den menschlichen Kern zu sehen, schwerer noch, als in den martialischen Samurai.
Die Schritte tragen die schmale, in lange gelborangene Stoffe gekleidete Gestalt zu dem Segelboot des Afrikaners. In respektvollem Abstand bleibt sie stehen und deutet eine Verneigung an
[1].
"Herr, Verzeihungen. Herr, wir dürfen bitten für Hilfe, ja?," bringt Suri mit vor dem Bauch verschränkten Händen in einem uneleganten, gebrochenen Mischmasch aus mehreren Bantu-Sprachen hervor. Was ihre Zunge nicht vermitteln kann, tun die haselnussbraunen Augen, die Leid gesehen und dennoch nicht abgestumpft sind. "Nicht Nachteil sind, ja?"