03. Zima - 49tes Jahr des Neubeginns - Do Glaz Ostanovki - Arbamanka - 20:05 Uhr
Während sich Djirris, Koska, Kosta, oder welche Namen, Identitäten, Ausformungen und Gestalten er noch alle sein und haben mochte, mit Sawelij unterhielt, füllte sich das Gasthaus langsam weiter. Gegen acht Uhr war eine typische Zeit, in der in vielen Kleinfabriken und in den Lagerhallen des Bahnhofs von Arbamanka der Hammer fiel. Wenig verwunderlich waren es jetzt jene abgekämpften Gestalten, die ihren Weg in das Gasthaus fanden. Der Monat hatte gerade begonnen, die Zahlungen durch die Firmeneigentümer, die Betreiber, durch die Arbeitgeber war getätigt und so manche Gestalt fühlte sich in den ersten Tagen des Monats wahrhaft fürstlich, lebte über die Stränge und verfeuerte seinen Lohn für wenige Momente der trunkenseligen Beliebtheit, wenn sie einige Runden schmiss. Und solche fürstlichen Gaben luden nicht nur des Trunkenfürsten Gesinde, sondern auch so manches Gesindel, welches auf diese Form der Almosen, auf die bierige oder geistige Mildtätigkeit gierte. Wie Geier umkreisten sie die Fürsten des Tages, auf dass die eine oder andere Spirituose in ihrem Hals landete. Und als Dank gaben sie dem Suffbaron das Gefühl, für diesen Tag von Bedeutung zu sein, für einen Tag mit dem höchsten Zeichen von Stärke und Macht geadelt: Gnade und die eben daraus erwachsende, sehr kostspielige, manches Leben in der Gosse am Ende des Monats beendete Mildtätigkeit.
Heute kam der Suffbaron - so sein unausgesprochener Ehrentitel - wie so häufig eher ungewollt zu diesem Vergnügen und nicht mit der bewussten Absicht, doch schnell war klar, wer es sein würde. Drei von Kohlen geschwärzte Männer mit ehemals blauweißer Bahnermütze kamen heran, zwei von ihnen noch jung, keine zwanzig Jahre alt, mit bubenhaften Gesichtern, weichem Flaum auf den Wangen und rostroten bzw. blonden, struppigen und schmutzigen Haaren. Sie umringten in dürstender Dienstbarkeit eine großgewachsene, hagere Gestalt mit einem schmalen Kinn, schlechten Zähnen und tief eingesunkenen Augen. Das Zerrbild der noch jugendlichen Kraft seiner Anhänger. Mit schmutzigen Fingern hob er drei Finger, um dem Wirt sein Anliegen zu gestikulieren. Besucher der Kneipe blickten ihn erwartungsvoll an, die beiden Bahnerjünglinge blickten ihren Kameraden an, der sich nur unbewusst über die Lippe leckte. Irgendwo aus einer Ecke lachte ein Zwerg, dass der Bahner doch an den ehrenwerten Namen des Gasthauses denken sollte. Do Glaz Ostanovki - Bis zum Augenstillstand. Lachen erschall durch die Kneipe und brandete auch über den Ratling und den Elfen am heißen Feuer hinweg. Der Wirt zwinkerte und fügte mit halben Satz hinzu, dass sie sowieso eine lange Nacht hätten, da heute Nacht der erste Schnee des Jahres fallen solle. In den Blicken unausgesprochene Forderungen, die jeder Kneipenstammgast verstand. Dann war es passiert, die rituelle Investitur des designierten, quasi-religiösen Suffbarons hatte geklappt und der schmale, hagere Mann fügte zu seinen Finger mit kehliger, ausgelaugter Stimme hinzu.
"Wenn ich drei Finger zeige, mein ich nicht drei Bier. Ich meine natürlich drei Runden für alle." Stürmisches Lachen, poltern auf den Tischen, Klopfen an der Decke, Gejohle. Das dürstende Volk hatte seinen Trunkenfürsten gefunden. Auf dessen Gesicht bildete sich das wohlige, wärmende, treudoofe Grinsen des mildtätigen Adligen, der sein Volk diesen Abend mit Schirm und Charme schützen würde, und dessen Mildtätigkeit ihren Ausdruck fand bis die Augen stillstanden.
Nach den Eisenbahnern strömten noch zwei Männer mit blutigen Schürzen in die Kneipe, wahrscheinlich Schlachter, doch selbst sie waren verhärmt und hager. Und schließlich kehrte auch die tanzende Frau mit dem Zwergen zurück, sich ganz in die Nähe von Sawelij und Djirris setzend. Der Zwerg setzte sich an den Tisch, Bröckchen Erbrochenes tanzten seinen grauschwarzen, ungekämmten Bart herab, während er seinen Kopf in den Armen verbarg, als machte ihm der Lärm, die Hitze und die Besucher Unbehagen, und als könnte er doch nicht fort von diesem Ort. Ihr entrückter Blick kehrte, unter der Schwere kohlerusiger Luft, zurück ins Hier und Jetzt und musterte Djirris einen Moment und lächelte dann. Abfällig betrachtete sie den Ratling mit seiner Katze, und schaute dann den Elfen an. Ein neckischer Blick, ihre Lippen bewegten sich, doch sie verkniff sich den anzüglichen Spruch, den ihr durch den Kopf gehen musste, da der Zwerg seine schieferige, dunige Stimme erhob.
"Scheiße.", ein tiefes Brummen folgte, seine knotigen Finger fuhren durch den Bart und schleuderten die erbrochenen Bröckchen aus ihm auf den ausgelatschten Boden.
"Wieso muss es immer mich erwischen?""Was, Schätzchen? Kotzen ist doch keine Schande.", sagt edie Frau im dünnen Hemd, welches zu tief blicken ließ, mit einer ähnlichen Abfälligkeit, mit der sie eben Djirris belächelt hatte.
Der Zwerg machte eine wegwerfende Geste und brummelte einen Moment, sein Kopf fühlte sich wie eine alte Bleikugel an, sein Nacken hing erschöpft. Beim Erbrechen waren kleine Äderchen um seine Augen geplatzt, seine Augen waren blutunterlaufen und er hatte bestimmt länger als einen Tag nicht geschlafen. Er trug an der Nase einen Nasenring, der ihm jetzt scheinbar Unbehagen bereitete.
"Wer redet denn vom Kotzen...Nein. Dass ich immer mit viertklassigen Nutten abstürzen muss und meine Termine verpasse..."Die blonde, erschöpfte Frau war wahrscheinlich Beleidigungen gewohnt und rümpfte die Nase spielerisch und versuchte eine gewisse Nonchalance zu bewahren.
"Drittklassig dann doch...", erwiderte sie in ihrer süffisanten Art, was der Zwerg nur mit einem Grummeln quittierte.
"Scheiße. Schau es dir an, Schicht ist durch. Ich habe die verdammte Versammlung verpasst." Ein fragender Blick des Zwergen traf die dürre, blondhaarige Frau.
"Hatte ich dich nicht gebeten, für mich auf die Uhrzeit zu achten?"Sie antwortete belustig und nahm einen Schluck aus ihrer grünen Flaschen, der sie vorher einen spielerischen Blick ins Innere widmete.
"Kann ich ahnen, dass der Blick in die Flasche so ein ungeeignetes Zeitmessinstrument ist?"Der Wirt schob sich von der Seite dazwischen, stellte sechs dünne Gläser mit dünnen, schaumlosen Bier vor dem Zwergen ab und erläuterte, dass der Bahner das ausgegeben hatte. Auch Djirris und Sawelij hatten im Nu je drei weitere Gläser der Hopfenkaltschale vor sich stehen. Ein Teil des Gespräches zwischen der Blonden, die möglicherweise eine Prostituierte war, und dem Zwergen mit dem Nasenring ging im tumulthaften Jubel unter, als der metaphorische Suffbaron für seine milde Gabe bejubelt und geherzt wurde - samt eines dreifachen Prosits für die dreifache Runde.
Als der Lärm in der kleine Kneipe wieder abschwall, war auch der Zwerg wieder zu hören, mit seinem tiefen, genervten Brummeln. Die Blonde hatte sich inzwischen ihm gegenüber gesetzt, schaute aber eher zwinkernd zu Sawelij als zu dem Zwergen, der sie aufgrund seines schweren Kopfes kaum im Blick hatte.
"...Großväterchen Istvan wird kaum erfreut sein, dass ich nicht aufgetaucht bin. Ob du glaubst oder nicht, die alten Volakhi[1] sind echte Eierquetschen. Von wegen verzweifelte Alte. Hurensöhne sind's. Scheiße. Das wird Ärger geben...""Was wollte er denn von dir?", fragte die Blonde mit gespielten Interesse und nippte an ihrem Bier, wobei sie dann jedoch das Gesicht ob der Bierwärme verzog.
"Dieses und jenes.", sagte der Zwerg lakonisch und nichtssagend, um dann doch nach einer Sekunde das Gesicht zu verziehen, sich zu der Blonden vorzubücken und zu flüstern
[2]. Ihr Gesicht verzog sich in Erschrecken, während der Zwerg sich grinsend zurücklehnte.
"Genau, Schätzchen. Und er wird scheiße sauer sein, dass ich deswegen nicht dort war." Das Grinsen verschwand schnell, nachdem er sich den Moment aufspielen konnte.
"Aber ich sag dir was. Wir saufen jetzt einen, den Volkov[3] finde ich schon bis morgen Mittag."Dann setzte er das erste Bier an und begann zu trinken, obwohl er noch vor wenigen Minuten seine letzten Biere mit dem Gehweg geteilt hatte. Aber hier in Demjanowka wurde das Sprichwort - Lieber den Magen verrenken, als dem Wirt was schenken - bekanntlich sehr ernst genommen.