Ein Grund, warum das Klostergebäude den Gefährten derart düster vorkommt, mag es sein, dass sie zum ersten Mal auf der Wanderung
gegen die Sonne blicken. Bislang war diese immer in ihrem Rücken oder in den Serpentinen mal links, mal rechts gewesen, doch der Anstieg hat sie ein Stück am Kloster vorbeigeführt, sodass sie sich ihm nun aus dem Osten nähern, der nahe Gipfel des Wächters und die wolkenverhangenen Höhen des Erlstavs nun mehr hinter ihnen. Der Wind ist deutlich frischer hier oben als unten im Dorf, die Vegetation kümmerlich: sommerdürres Gras zwischen Dornengestrüpp, einige Haseln, hier und da eine windzerzauste Hainbuche oder ein geduckter Ahorn.
[1]Vergeblich sucht
Lîf hier nach Anzeichen von Verderbnis; sie findet nicht einmal den Bach wieder. Wie kann das sein? Ist man nicht direkt oberhalb des Wasserfalls? Sein Tosen jedenfalls ist bis hierher zu hören! Auch
Abdo,
Aeryn,
Hjálmarr und Tristan wundern sich darüber. Nur Freydis und Talahan wissen Bescheid. Letzterer denkt momentan noch über Hjálmarrs Worte nach.
"Die Tollwut selbst könnte ein derartiges Verhalten schon erklären", schlussfolgert der Gotteskrieger,
"oder aber der Wahn, aber Krallen und Reißzähne? Angenommen, die Dörfler übertreiben damit nicht: bei solchen Verwandlungen ist immer Magie am Werk." Sein Blick geht halb misstrauisch, halb erwartungsvoll zu Freydis.
Doch
Freydis stellt plötzlich fest, wie wenig sie weiß. Wie wenig sie sich zu fragen und zu forschen getraut hat. Zu sehr hat sie sich ein normales Leben gewünscht, hat versteckt, verheimlicht, verleugnet, was sie ist. Geschichte, Geographie und Politik hat sie studiert, aber keine Magie. Ja, natürlich war da das praktische Training, natürlich hat sie sich mentale Tricks und Techniken angeeignet, die sie ihre Schmerzen und Visionen besser überstehen ließen, aber die großen Fragen hat sie nie gestellt: das Woher, das Warum, das Wie, das Wozu oder auch nur das Wer. Magiegeschichte? Unerträglich! Was soll sie sich das Herz damit beschweren, über all die Berührten zu lesen, die in den vergangenen Jahrhunderten qualvoll starben, weil sie ihre Fähigkeiten nicht zu meistern lernten, oder über jene, die trotz anfänglichem Erfolg schließlich dem Wahn verfielen? Und dann sind da noch die, die von Kirche oder aufgebrachtem Pöbel bei lebendigem Leib verbrannt wurden! An diese Zukunftsperspektiven wollte Freydis nicht ständig erinnert werden. Nur das Was hat sie ein wenig interessiert: was ist möglich? Aber da hielt Undis mit Antworten sehr zurück, sprach gerne kryptisch etwas von einem Weg, der für jeden anders verliefe und den jeder selbst finden müsse. Über Werwölfe, Verwandlungen oder derlei Flüche jedenfalls hat sie ihrer adligen Schülerin nie etwas erzählt und diese Themen waren Freydis auch in keinem Buch begegnet. Keinem ernsthaften. Das ist nämlich das Problem mit Büchern über Magie: die meisten sind von deren Gegnern geschrieben, die selbst keinerlei Ahnung davon haben, die bestenfalls zu deuten versuchen, was sie mit eigenen Augen gesehen oder zumindest meinten, gesehen zu haben; schlechtenfalls sind es reine Hetzschriften mit kaum einmal einem Körnchen Wahrheit in einem Berg voller Unrat. Bislang hat Freydis sich nicht überwinden können, mehr als ein paar Seiten solcher Bücher zu lesen, und echte Magiebücher, von einem Berührten geschrieben, sind so selten, dass sie in ihrem Leben nur eines jemals in der Hand gehalten hat und das nur für wenige Augenblicke.
[2]Daher hat Freydis jetzt für Talahan keine Antwort parat. Will sie ehrlich sein, kann sie nicht einmal zur Bestätigung nicken.
So nähern sich
die Gefährten ihrem Ziel. Etwa fünfzig Schritt vor dem Gebäude gabelt sich der Weg. Der breitere Teil führt geradeaus weiter auf den südlichen Anbau des Klosters, welcher für jeden, der auch nur ein wenig Ahnung von Sakralbauten hat, leicht als Kapelle zu erkennen ist; einer der beiden zierlicheren Seitentürme erhebt sich über dieser. Ein schmalerer Weg führt an Kapelle und Hauptgebäude vorbei zu einem zweiten Tor direkt vor dem Nordturm.
"In dem Gebäude kommen Pilger und sonstige Gäste unter", weiß Talahan über den nördlichen Anbau.
Es ist keine Menschenseele zu sehen. Das heißt erst einmal noch nichts, wie
Tristan mit einem Wort erklärt:
"Vesper." Und nur für den Fall, anwesende Gaja-Gläubige könnten dabei an Essen denken, präzisiert er:
"Also die Zeit, wo man gemeinsam betet und die Worte des Propheten aufsagt." Er nickt in Richtung Kapelle.
"Essen gibt's erst kurz vor Sonnenuntergang." Für diese Bemerkung erntet der Rûngarder einen überraschten Seitenblick Talahans.
Aeryn dagegen, die ihre eigenen, unausgesprochenen Pläne hegt, nutzt diese Information sofort aus und huscht vor, um am südlichen Tor zu lauschen, doch sie hört nichts. In der Kapelle herrscht Totenstille. Nicht einmal ein Husten ist zu hören, geschweige denn die vielstimmig rezitierten Worte des Propheten. Schade. Eine solche Gebetsversammlung wäre ihrem Plan sehr entgegen gekommen. Doch sie will es trotzdem versuchen. Jetzt, so dicht vor dem Gebäude, blendet auch die Sonne nicht mehr. Sie sucht nach einer günstigen Stelle—sowohl halbwegs vor Blicken geschützt, als auch mit entsprechenden Handgriffen—an der sich die Mauer erklimmen ließe. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuße. Das ist ja mehr eine Festung als ein Gotteshaus! Gut zwölf Schritt dürfte die Mauer hoch sein, fensterlos, und der Stock darüber mit Überhang! Die Steine messen eine Elle auf zwei, sind glatt behauen und nahezu fugenlos zusammengefügt. Niemals ist dies Menschenwerk! Riesen müssen hier Hand angelegt haben!
Doch Aeryn lässt sich nicht von ihrem Plan abhalten. Auch wenn sie nirgendwo eine Stelle entdeckt, an der ein Seil mit Haken (wie sie eines in Abdos Gepäck erspäht hat) Halt finden würde, meint sie, der Baum dort würde ihr helfen, wenn sie nämlich von dort aus den kleinen Vorsprung erreichen könnte... Gesagt, getan, gestürzt. Etwas verdutzt liegt die Elbin im Gras, unverletzt und soweit bei Sinnen, dass sie denkt: wie gut, dass es kein Dornenstrauch war oder blanker Fels.
[3] Von einem zweiten Versuch sieht sie ab, denn so ein Glück hat man nur einmal.
Mauern sind viel schwerer zu erklimmen als Bäume oder Felsen, nimmt sie vielleicht als Lehre mit auf den Weg.
Viel verpasst hat sie durch ihre Aktion nicht. Ihre
Gefährten sind inzwischen vor dem nördlichen Tor angekommen, aber scheinen sich noch nicht einig geworden zu sein, wer klopft und ob überhaupt geklopft werden soll und wenn ja, ob man vorher schon Waffe und Schild parat haben soll.
[4] Sie bekommt gerade noch mit, wie Talahan die Sache mit einem bissigen Kommentar entscheidet:
"Stünden wir vor der Tür einer Fischerhütte und begehrten Einlass, würde jeder hier ohne zu zögern klopfen. Welch arroganter Flegel müsste man sein, um es nicht zu tun!"Damit tritt er vor und betätigt den gusseisernen Türklopfer.
Dass hinter ihm die Leute nach eigenem Gutdünken die Waffen zücken oder auch nicht, scheint ihn nicht weiter zu kümmern.
Eine geraume Weile lang passiert nichts. Talahan klopft ein zweites Mal, ein drittes. Dann endlich öffnet sich ein Sichtfenster in der Tür und ein Mann lugt hinaus. Dunkles Haar, dunkle Augen, dunkle Robe, die Miene weder neugierig noch einladend, eher gelangweilt, die Stimme träge, fast schon monoton:
"Ja, was ist denn? Wer seid ihr und was wollt ihr hier zu so später Stunde?"