"Ach, ich weiß nicht", erwidert Tristan leichthin auf Abdos Seitenhieb.
"Der Sinn und Zweck der Prügelstrafe ist letztlich doch, demjenigen, der in ihren Genuss kommt, das Gewissen zu erleichtern, und ein reines Gewissen habe ich eigentlich immer." Da bemerkt er jedoch, dass sein Weib ganz blass geworden ist. Von einer plötzlichen Schwäche ergriffen schwankt sie gar und taumelt in Richtung Tür. Sofort ist er an ihrer Seite.
"Was ist dir, Lîf? Du wirkst, als hättest du einen Geist gesehen."Und damit verfehlt er das Ziel nur knapp: statt 'Geist' hätte er 'Traumgestalt' sagen müssen, um es zu treffen. Je länger
Lîf die schreckliche Kammer betrachtet, und sei es auch nur aus den Augenwinkeln, desto sicherer weiß sie: der Ort gleicht nicht nur jenem aus ihrem Alptraum, es ist derselbe! Damit auch die Perspektive stimmt, müsste sie lediglich in eine der beiden Zellen treten und sich den geliebten Mann auf dem Tisch dort ausgestreckt denken, während ein Gehilfe des 'Beichtvaters' ihn blutig prügelt! Derart aufgewühlt nimmt sie das Schluchzen kaum wahr, das aus der Zelle dringt, hält es vielmehr für eine Erinnerung an ihren Traum oder fürchtet, es sei ihrer eigenen Kehle entschlüpft.
Auch ihrem Gatten, der beruhigend einen Arm um sie legt, entgeht das Geräusch. Die restlichen Gefährten aber schreckt es gründlich auf.
Abdo und
Aeryn treten sofort an die Zelle heran, aus welcher sie den Schluchzer gehört haben wollen, und suchen darinnen jeden Fußbreit mit ihren Blicken ab. (Von außen, denn die Zelle ist ja verschlossen.) Dazu hat Aeryn sich eine der Ruten geschnappt, die Linde
[1], und deren Spitze zum Leuchten gebracht, sodass sie damit weit durch die Stäbe hindurch in die Zelle hineinleuchten kann. Gerade, als Abdo neben ihr fragt, ob dort jemand sei, stößt die Elbin mit ihrem leuchtenden Stecken auf einen Widerstand.
Ist es Abdos Frage, der die Aufmerksamkeit
der restlichen vier auf die Zelle richtet, oder Aeryns Zauber? (Die Offenbarung, dass auch die Elbin zaubern kann, kommt für die Gefährten durchaus überraschend, hat sie dies auf der Reise doch kein einziges Mal getan. Für einen Fremden in Dalaran mag es gar so anmuten, als könnten hierzulande
alle Weiber, ob Elbin oder Menschenfrau, zumindest Licht herbeizaubern und unterschieden sich lediglich darin, ob sie es vorziehen, einen Kamm, ein Langmesser oder einen Holzstecken zum Glühen zu bringen.)
Einen atemlosen Augenblick starrt also alles die leere Zelle an—dann flimmert darin kurz die Luft, gleitet leise rauschend eine Decke aus grobem Sackstoff zu Boden, dann steht eine dunkelhaarige, weißhäutige, wunderschöne und gänzlich nackte junge Frau vor ihnen.
Rogar und
Freydis erkennen sie sofort, auch wenn sie in ihrer Zelle ganz anders erscheint als das Traumbild, das ihnen so unbekümmert, so aufreizend und verspielt, dazu selbst ganz und gar verträumt anmutete: dasselbe Weib steht verängstigt, bedrückt, mit großen, rotgeweinten Augen vor ihnen. Und die beiden erinnern sich an das vorherrschende Gefühl in ihrem Traum: eingesperrt, lebendig begraben, keine Luft zum Atmen haben! Und an das eine Wort, das ihnen beim Aufwachen im Sinn nachhallte: Hilfe.
Doch selbst eingesperrt und verschreckt ist die junge Frau noch immer strahlend schön, dass jeglichem Betrachter, ob Mann oder Weib, erst einmal der Atem stockt.
[2]Aeryn zieht erschrocken ihren Leuchtstecken zurück und starrt die Gestalt mit offenem Mund an. Wie kann jemand nur so schön sein! Eine Menschenfrau gar! Bisher ist Aeryn noch nie auf die Idee gekommen, sich mit einer solchen zu vergleichen, davon ausgehend, dass Elbinnen in jedem Fall hübscher seien, graziler, anmutiger, gewandter—aber diese Frau hier ist alles davon und könnte, selbst in ihrer Lage noch, jegliche Elbin darin übertreffen. So
schön ist sie, dass man selbst am liebsten im Boden versinken will vor Scham, weil man so hässlich ist, so plump und ungelenk, so unförmig... die Nase zu lang, die Ohren zu kurz, der Mund zu breit, der Hintern erst recht, die Brust zu flach, der Bauch zu fett, die Augen zu weit auseinander, die Haare zu rot, die Haut zu gebräunt... Die Gedankenkette reißt nicht ab und Aeryn wird immer mutloser dabei. Wie soll sie jemals einen Gefährten fürs Leben finden, wenn sie so hässlich und unzulänglich ist?
[3]Abdo erschrickt zwar auch, als plötzlich eine so schöne nackte Frau vor ihm auftaucht, aber er bewahrt in jeder Hinsicht Haltung. Vielleicht ist er Lîf in diesem Moment dankbar, dass sie in ihrer Verwirrung am frühen Morgen so unbedacht aufgesprungen ist und ihn dadurch auf eine solche Situation vorbereitet hat. Der Unterschied ist freilich, dass ihr die Decke aus Versehen von den Schultern glitt, das Weib vor ihm aber ihre Hüllen mit Absicht hat fallen lassen.
Auch
Rogar starrt die Erscheinung mit offenem Mund an. Was für ein wunderschönes Wesen! Und so hilflos! Er muss ihr helfen! Und wenn es das letzte ist, was er auf dieser Welt tut. Ja, er ist verheiratet, woher kommt dieser Gedanke bloß, der tut doch nichts zur Sache! Er will diesem armen Kind ja bloß helfen. Welcher Grobian hat sie bloß eingesperrt? Den sollte man gleich da über den Tisch ziehen und ordentlich verprügeln. Verprügeln... oh weh... man hat sie doch nicht... das arme, zarte Wesen? Man wird sie doch nicht...? Eine solche Unschuld, wer wollte sie denn... wofür...? Sie auch nur einer Untat zu verdächtigen... wie absurd! Unschuldsreines Ding!
[4]Ebensowenig wie der Zwerg kann
Tristan seine Augen von der fremden Frau abwenden. Auch die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, mögen ähnliche sein. Auf seiner Miene vermischt sich allerdings noch so einiges mehr: Anbetung dieses wunderschönen Geschöpfes, fast könnte man denken, er sinkt gleich mit einem Seufzer vor ihr auf die Knie, vergessen das eigene Weib neben ihm! Dazu glimmt ein begehrliches Feuer in den Tiefen seiner Augen: wäre man allein, er mit ihr, und ermutigtete sie ihn auch nur mit einem Wink, einem leichten Deuten ihres Kopfes, sofort wäre er bei ihr, auf ihr, in ihr! Zuletzt ist da noch ein stiller Zorn: auf die, welche das schöne Kind hier einsperrten und ihr wehewollten. Eine Hand ist am Schwertgriff: sollen sie nur kommen, er wird sie alle niedermähen!
Lîf und
Freydis bleiben dagegen so gelassen wie der Ya'Keheter. Die Berührte vielleicht deshalb, weil sie sich aus Schönheit so gar nichts macht? Weil sie seit einem Alter, wo diese für Mädchen wichtig wird, ganz andere Sorgen hatte? Überhaupt niemals auf diese Weise sich mit ihren Geschlechtsgenossinnen gemessen hat? Welche Hoffnung darf sie sich schon auf einen Ehegatten machen, oder auch nur auf einen Liebhaber? Und wer braucht so etwas schon! Lîf dagegen scheut den Vergleich mit der dunkelhaarigen Schönen aus ganz anderem Grund nicht. Sie weiß genau, wie verschieden die Geschmäcker der Männer sind. Da mag es solche geben, die sich eine Unschuld wünschen, die es mögen, wenn ein Weib hilflos tut und sich an ihn klammert wie an ihren Retter, aber ihr eigener ist nicht so! Er liebt sie so, wie sie ist! Was hat sie sich als frischgebackenes Eheweib gesorgt, sie sei nicht hübsch genug für ihn, zu flachbrüstig, zu schmal, nicht genug zum Zupacken, wie gründlich aber hat Tristan ihr derlei Bedenken ausgetrieben! Gut, der Blick, mit welchem er gerade die nackte Fremde betrachtet, könnte ein Eheweib verletzen, sie in Zweifel stürzen—nicht aber Lîf! Sie weiß, dass sein Herz nur ihr gehört, treu bis zum Tode. Wenn er also derart auf die da in der Zelle reagiert, dann kann ja wohl nur ein Zauber im Spiel sein. So wie er selbst die Menschen mit seiner Stimme in den Bann zieht, so zieht wohl das Weib dort die Mannsbilder in ihren Bann mit ihrer Schönheit! Richtig, der Zwerg schaut ähnlich drein. Die Frage ist nun: macht sie es absichtlich? Oder ist sie so ahnungslos in dieser Sache wie Tristan...?
Auch
Freydis kommt zum selben Schluss: die Frau in der Zelle ist von einem Zauber umgeben. Kein Wunder haben die Mönche das arme Weib hier eingesperrt.