Mit der einbrechenden Nacht verliert auch der Zauber seine Kraft, welcher Kjartan die letzten Stunden trunken umfangen hielt. Oder war es dem Trunk aus des Satyrs Horn geschuldet, dass Kjartan den Tag so frei und ungezügelt in ihrer Mitte verbrachte? Einerlei. Kaum jedenfalls wendet er der kleinen Lichtung den Rücken, verblasst die schöne Erinnerung wie ein Traum. Zurück bleibt eine Müdigkeit, eine Leere. Ihm wird bewusst, etwas verloren zu haben, vielleicht gar unwiederbringlich. Ach, wie soll Ninae nur verstehen, was mit ihrem Kjartan los ist? Wehmut, Melancholie—dieser Gemütszustand ist den Feen völlig fremd! Ebenso die Scham, welche ihn nun auch wieder ergreift. Plötzlich stört es ihn, dass sie nicht allein sind, zuvor hat er es in seinem Traumzustand kaum bemerkt! Plötzlich fühlt er sich nicht mehr wohl in seiner Haut. (Das kann einer Fee wahrlich nicht passieren. Das kann sie sich nicht einmal vorstellen!)
Das einzige, das Ninae von seiner langen Rede begreift, ist, dass er geht. Dass er jetzt geht und nicht erst nach vielen, gemeinsam verbrachten Monden. Dass er geht mit dem Versprechen, wiederzukehren, und sie so dazu verdammt, auf ihn zu warten.
Sie stampft erbost mit dem Fuß auf. "Geh nicht!" ruft sie. "Geh nicht! Du behauptest, dass du mich liebst? Dann bleib! Statt mir Nacht für Nacht zu erzählen, was du mir später einmal schenken willst: Bleib und mach mir ein Kind, denn dies ist das Geschenk, das ich mir so sehnlich wünsch' von dir!"
Trotz dieses leidenschaftlichen und erstaunlich direkten Appells seiner Liebsten (oder vielleicht erschrecken ihn die Worte so, dass er gar noch ein wenig schneller flieht) verabschiedet Kjartan sich von ihr mit einem letzten Kuss und macht sich, gewappnet mit seinem Entschluss, so vage dieser auch in den Details aussieht, auf den Weg ins Dorf. Nach wenigen Schritten blickt er noch einmal über die Schulter zurück, doch Ninae ist bereits verschwunden.
Immer dem Bach folgt er, so nahe dieser ihn an sich heranlässt. So ist er seiner Liebsten noch nahe, weiß er sie doch in seinem kühlen Bett friedlich schlummernd geborgen. Seine Schritte gewinnen Kraft. Je weiter er sich von der Feenlichtung entfernt, desto tatkräftiger schlägt sein Herz. Ja, er ist noch immer traurig. Ja, er ist ein Mensch, der zu Wehmut neigt. (War er schon immer so, oder erst, seit er Ninea traf? Es fällt ihm schwer, sich an Dinge zu erinnern, wie sie vorher waren. Wer er selbst vorher war.) Aber in diesem Augenblick fühlt er sich frei. Traurig, fremd, einsam, losgelöst von allem—aber frei.
Eine Melodie kommt ihm in den Sinn und er summt sie zunächst vor sich hin. Bald darauf öffnet sich aber von selbst sein Mund und er singt es laut in den Abend hinaus, denn es beschreibt seinen Zustand perfekt:
"Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
und ruhig fließt der Bach,
die Gipfel der Berge funkeln
im Abendsonnenschein."
Eigentlich lautet die sechste Zeile ja: "und im Nebel ruht der See", denn das Lied, dessen Text jeder Fischer, der jemals auf den Loch Leskos hinausfuhr, im Schlaf aufsagen könnte, handelt natürlich von den drei Schwestern auf ihrer Insel. Die letzte Strophe lautet:
"Den Fischer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh,
er sieht nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn.
Das haben mit ihrem Singen
die drei schönen Schwestern getan."
Und dann kommt Ansdag auch schon in Sicht. Ohne zu überlegen lenkt Kjartan seine Schritte zu der kleinen Hütte ein wenig außerhalb. Am Vortag, auf seiner verzweifelten Suche nach Ninae, war die seltsam aussehende Frau, die dort lebt, nämlich die einzige gewesen, die ihm einen sinnvollen Hinweis geben konnte. "Wandere den Bach hinauf bis zur Felswand. Dort findest du am Fuß des Wasserfalls einen Teich. Setze dich an seinem Ufer zur Rast, wirf ein Opfer ins Wasser und bitte um Rat. Dann schlafe dort eine Nacht und wache einen Tag. Dann wirst du entweder einen Rat erhalten oder deine Liebste sehen." Und so kam es ja auch.
Als er sich der Hütte der hilfreichen Frau nähert, staunt er nicht schlecht über die Aktivität, die dort auf einmal herrscht: zwei Zelte sind davor aufgebaut, ein großes und ein kleines, etliche Pferde in der Nähe festgemacht, ein halbes Dutzend Bewaffnete lungern herum. Über einem Lagerfeuer köchelt das Nachtmahl. Aus dem großen Zelt dringt ein summender Gesang; Licht durchscheint die Zeltplanen; Menschen zeichnen sich darauf als Schatten ab. Die Hütte selbst liegt still, ohne Lebenszeichen, ohne Licht in den Fensterhöhlen da.
Entschlossen marschiert Kjartan darauf zu.