Runde 7 – Kampf 4: Das Herz der Finsternis
Von Aeryns Pfeil im Oberschenkel getroffen, brüllt Merle vor Schmerz auf, doch aufhalten lässt sie sich davon nicht. Wer wenn nicht Berührte sind es gewohnt, Schmerz zu ignorieren? Auch Freydis' Zauber schüttelt sie ab wie nichts. Und doch steht ihr die Panik nun deutlich im Gesicht. Einen Schritt von Freydis und Kjartan zurückweichend, schleudert sie abermals mit beiden Händen Blitze auf ihre Gegner. Durch ihr Zurückweichen verfehlt sie diesmal allerdings Lîf, Tristan und Rogar.
[1]Kjartan, den Blitzen abermals aus dem Weg tanzend, folgt ihr ohne zu zögern, und diesmal zieht sein Sax eine tiefe Spur über ihren Arm. Blut spritzt. Merle wankt.
"Hilf mir!" ruft sie verzweifelt, obwohl doch all ihre Schergen am Boden liegen.
"Du hast es versprochen!" Und tatsächlich zuckt Kjartan vor Schmerz zusammen; mit der Linken fasst er sich an die Schläfe.
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Rogar, der kurz zuvor ebenfalls einen plötzlich stechenden Schmerz in seinem Schädel verspürte, erkennt:
Aha! Das habe ich mir also nicht bloß eingebildet! Weder hat mich der Helm gedrückt noch ein verirrter Blitz getroffen[3]. Etwas greift uns da an. Nur was? Und woher? Außer Merle sind doch alle außer Gefecht! Geht hier etwas Unsichtbares um? Rasch geht sein Blick von den Gefallenen zu Merle zu dem wimmernden Etwas auf dem Podest hinter ihr und wieder zu den Gefallenen, doch er kann die Herkunft der unsichtbaren Attacke nicht ausmachen. Dafür fällt ihm etwas anderes auf: ein Schatten, der über den Boden kriecht oder irgendwie zu fließen scheint, sich nachtschwarz um Tristan sammelt und auch Rogars Stiefel bedeckt. Oder bildet er sich das bloß ein? Sicherlich ist es bloß die Blutlache, die sich um Tristans Leiche sammelt? Er blinzelt. Der Schatten hat inne gehalten, wird weniger, als versickere er im Boden, oder wird er von etwas aufgesogen? Von Tristans Leichnam?
Rogar blinzelt abermals. Der Schatten ist verschwunden. Dafür scheint der Blutfluss gestoppt und kurz bildet Rogar sich gar ein, Tristans Brust hätte sich gehoben, hatte mit kaum hörbarem Hauch Luft eingesogen... Was bei allen guten Ahnen ist hier los? Auch wenn Rogar schon viele Kameraden hat sterben sehen, kann er sich getäuscht haben? Womöglich kam Lîfs Hilfe ja gerade noch rechtzeitig und ihre Gebete fanden das Gehör ihrer göttlichen Mutter? Doch das flaue Gefühl bleibt. Und als Tristans linke Hand sich bewegt– die Rechte hält Lîf umklammert – erfüllt ihn dies nicht mit Freude, sondern mit Schauer. Zumal diese sich vorsichtig zu Tristans Gürtel tastet, als suche sie dort ein Messer, doch dessen Scheide ist leer.
Der Mann sollte tot sein. Dass Gefallene sich wieder erheben und gegen die eigenen Kameraden wenden, das hat Rogar bisher nur einmal in seinem Leben erlebt. Es war der schrecklichste Kampf gewesen, den er je geschlagen hat.
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Lîf kniet an Tristans Seite, seine leblose Rechte an ihr Herz gedrückt und lässt die eigene Kraft in ihn fließen, während sie die Göttin um Hilfe anfleht.
Nein, das darf doch nicht sein! Das kann Gaja nicht zulassen! Sie war es doch, die Lîf und Tristan zusammenführte, und was hatte dafür alles geschehen müssen! Wieviele hatten leiden müssen für diesen angeblich höheren Zweck, wieviele Tränen vergoss auch Lîf selbst in den ersten, schrecklichen Monaten auf Jarlsö. Das darf doch nicht alles umsonst gewesen sein! Und was ist mit der Prophezeiung? Die Stimmen ihrer drei Ahnenfrauen klingen Lîf noch wie gestern im Ohr:
Du bist die, von der verlangt wird, dass sie der Ulme Versprechen einlöst.
Du bist die Sonne, von der die Große Mutter will, dass sie dem Mond Kinder gebiert.
Du bist der Tag, dein Bezwinger die Nacht. Doch so wie am Abend er dich verschlingt, verschlingst am Morgen du ihn du ihn du ihn.Oder haben Tristan und Lîf ihren Beitrag am Ende bereits geleistet? Schwanger ist sie ja schließlich und wen außer sie selbst kümmert wohl ihr Herz? Aber es war doch von Kindern die Rede! Wenn die große Mutter also große Pläne für Lîfs und Tristans KindER hat, dann darf sie Tristan doch nicht sterben lassen!
Dass du mit deiner Berührung einen Verletzten von der Schwelle des Todes zurückholen kannst, wie deine Mutter vor dir, dafür danke dem Satyr in deinem Blut, denn der ist gar nicht gern allein, klingen die Worte der alten Esja in ihrem Ohr.
Seine größte Angst ist es, dass andere ihn verlassen, er gar allein zurückbleibt! Droht ihm also eine, ihn zu verlassen, so klammert er sich fest an sie—erst recht, wenn der Tod sie holen will!Ja, Lîf klammert sich fest an ihren Gatten. Sie will nicht allein zurückbleiben. Will ihn nicht verlieren.
Ach Kind, deine Augen sind ja plötzlich schreckensweit! Warum, weil deine Kinder nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei Feenblutlinien in sich vereinen werden? Dryade, Satyr und Sirene? Macht dir das Angst? Halte dir nur immer vor Augen, dass es etwas ganz natürliches ist. Gaja hat es so eingerichtet, dass die Feen uns brauchen und wir sie und die Mutter selbst braucht uns beide."Die Mutter braucht uns beide", klammert Lîf sich verzweifelt an die Worte der alten Lehrmeisterin. "Sie braucht uns doch beide!"
Und dann endlich, als die Wellen ihrer Verzweiflung schon so hoch schlagen, dass sie darin zu ertrinken droht, zuckt Tristans Hand in den ihren, hebt und senkt sich seine Brust, streift sein Atemhauch ihre Wange, flattern seine Lider. Der Blutstrom versiegt, Schorf blättert von den schlimmsten seiner Wunden.
Lîfs Erleichterung, Dankbarkeit, in Worte nicht zu fassen, lassen sie am ganzen Leib zittern. Heiß und kalt ist ihr abwechselnd.
Oh Mutter, verzeih, wie konnte ich nur zweifeln? Oh, ich danke dir, danke dir so sehr...Da, jetzt öffnet er die Augen. Sein Blick findet ihren. Er erkennt sie. Zärtlichkeit erweicht seine Züge. Er lächelt...
Schmerz lässt ihn zusammenzucken. Sein Gesicht verzieht sich, die Zähne knirschen, der ganze Körper verkrampft. In seiner Miene spielt sich ein Kampf ab.
Doch dann glättet sich seine Miene und seine Augen öffnen sich. Doch es ist nicht Tristan, der sie daraus anblickt.
Lîf begreift nicht. Ihr schwindelt vor lauter Verwirrung. Gerade war Tristan noch da, da ist sie sich so sicher, wie sie sich in ihrem Leben erst einmal zuvor sicher gewesen ist, doch jetzt schaut jemand anderes aus seinen Augen... Jemand, der für sie nichts als Verachtung übrig hat, dem sie so gleichgültig ist, dass sie ein kalter Schauer durchfährt.
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Etwas lässt
Abdo über die Schulter zurückblicken.
War es ein Geräusch, eine Bewegung im Augenwinkel, eine dumpfe Vorahnung? Jedenfalls wendet er sich rechtzeitig um, um mitzuerleben, dass der Totgeglaubte sich zu regen beginnt. Sein erster Gedanke:
Ha, er lebt! Ich habe mal wieder die wundersamen Heilkräfte in diesem Land unterschätzt!Doch der schreckliche Druck auf seiner Brust bleibt. So eng wird seine Kehle, dass er kaum noch Luft bekommt. Etwas stimmt hier nicht. Und dann begreift er... Wie oft hat er daheim in Ya'Kehet davon erzählen gehört, etliche Male gar selbst erlebt, wenn auch noch niemals so hautnah wie hier... Gefallene, die sich erheben... der Dämon, welcher zuvor die Wolfskreatur beseelte, hat sich einen neuen, weniger zerstörten Leib gesucht...
Aber Moment mal. Tristan atmet. Heißt das, er lebt noch? Sein Körper, ja – wie die Kreatur zuvor ja auch – aber was war mit seiner Seele? Hat der Dämon sie ausgetrieben oder nur überwältigt? Und wie ließ sich das herausfinden?
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Aeryn bekommt von alledem nichts mit. Ihre Aufmerksamkeit gilt allein Merle.
Noch so ein Treffer wie gerade wäre gewiss ihr Ende. Warum gibt die Frau nicht auf? Sie muss doch erkennen, dass sie verloren hat, was treibt sie also an? Ist es tatsächlich Wahn, der aus Merles Augen glitzert?
Doch dann treffen sich ihre Blicke und Aeryn erkennt, dass dicht unter der menschlichen Oberfläche etwas Unmenschliches lauert. Ob Weiß Merle davon weiß? Natürlich weiß sie davon! Nur so erklärt sich, wen sie da gerade um Hilfe angerufen hat: den Dämon in sich selbst!
Bildet Aeryn es sich ein oder kommt er immer näher? Immer entmenschlichter scheint ihr Merles Blick, die Züge und Haltung. Jeden Augenblick könnte der Dämon die Oberfläche durchbrechen und Merles Leib übernehmen. Und was ist die wichtigste Überlebensregel eines jeden Dämonenjägers, der einem lebenden Dämon ins Auge blickt? Ihn zu erlegen,
bevor der Dämon die alleinige Kontrolle über seinen Wirtskörper erlangt. Solange der Wirt von eigenen Wünschen und Ängsten getrieben wird, solange sterbliche Schwächen ihn plagen, solange hat man als Solo-Jäger noch eine Überlebenschance.
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