Oder vielleicht erwähnt man doch zuerst den Vorfall, da Skip einmal die Wahrheit sagte, und zwar gänzlich ungeplant, aus einer Laune heraus? Nun könnte man meinen, dem Halbbruder stünde Skip vielleicht nahe genug für einen offenen und ehrlichen Umgang, aber gerade der (nebst Familie) ahnt die Wahrheit nicht (dass Skip also sein Halbbruder ist; man hält ihn für einen Händler aus Niewinter) und darf sie niemals erfahren (wie betrogen werden alle sich fühlen, rausschmeißen würden sie Skip und ihn nie wieder sehen wollen!) Also nein, nicht vor dem Halbbruder ist Skip die Zunge ausgerutscht und hat eine wahre Geschichte herabpurzeln lassen, sondern vor dem Halbbling, diesem berühmten Koch, dem großen
Gaston. Zu Skips Entschuldigung darf man gleich hinzufügen: er war sternhagelvoll gewesen an jenem Abend und auch an Speisen äußerst wohlig abgefüllt, dazu schläfrig und zufrieden wie ein Kater vorm Kamin. Man kannte sich bereits seit einigen Jahren, Gaston und er, fand sich ungemein sympathisch, dazu nützlich, besaß gemeinsame Interessensgebiete...
Doch halt, wie war es dazu gekommen, dass Skip in einem derart bürgerlichen Etablissement wie
Gastons willkommen war und sich dort so wohl fühlte? Die wichtigste Voraussetzung dafür ist wohl, dass Gaston ihn durchschaute. So sehr Skip an den Bewohnern von Tiefwasser nämlich die Einfalt und Gutgläubigkeit schätzte, welche ihm ein Auskommen und bisweilen gar ein angenehmen Leben bescherte, so fiel es ihm schwer, jemanden zu respektieren, der auf ihn hereinfiel. Wie dumm musste man dafür sein! Nein, wahrlich, das ging auf keine Kuhhaut. Aber Gaston hatte ihn schon beim ersten Treffen richtig eingeschätzt. Das war vor knapp sechs Jahren. Damals war der Halbling noch Küchenchef bei Raffael, als ihm eine zwielichtige Gestalt unter den Restaurantgästen auffiel. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. War der Kerl nicht vor drei Monaten schon einmal da? Allerdings mit blonden Haaren, Bart und Federhut? Und jetzt...! Da war doch etwas faul. Vielleicht lauschte er unauffällig dem Gespräch an Skips Tisch und kam zu dem Schluss, dass dieser dabei war, sein Gegenüber zu betrügen? Da musste man es ihm schon hoch anrechnen, dass er Skip nicht gleich vor diesem und allen Leuten zur Rede stellte, sondern den Rückzug von Skips Geschäftspartner auf ein stilles Örtchen abwartete, um sich auf den frei gewordenen Platz zu setzen. Darauf fackelte Gaston nicht lange, sondern nannte Skip ohne einleitenden Höflichkeiten einen Halunken und verlangte zu wissen, wie es ihm einfiele, seine Betrügereien ausgerechnet in
diesem Restaurant abzuwickeln! Nach anfänglichem Leugnen setzte Skip auf Charme und Schmeichelei. Die Küche sei hier eben die Beste! Und seine Geschäfte mache er eben gerne mit einem gewissen Stil! Und so redete er eine ganze Weile. Nun ja, der Charme und das Lob allein waren es wohl kaum, was Gaston einlenken ließ, vielmehr kam diesem, als Skip schließlich darauf hinwies, er sei ja ein Mann mit vielen Talenten und noch mehr Kontakten, unter denen sich gewiss auch einige fänden, die einem großen Küchenchef wie ihm nützlich wären, kam Gaston tatsächlich eine Idee. Er erkannte nämlich, dass vor ihm ein Mann von Geschmack saß, ein akzeptabler Kenner der Viktualien, der einen
Drachenfels von einem
Mönchsacker unterscheiden konnte und bei Erwähnung des
Frondorfer Nacktarsch weder grinste noch sich empörte, sondern vielmehr in genussvoller Anerkennung mit der Zunge schnalzte. Dazu die angenehmen Manieren, die Beredsamkeit, die gewinnend nonchalante Art, die so offen und ehrlich erscheint, obwohl sich darunter abgründige Verschlagenheit verbarg... Ja, das war sein Mann. So kam es also, dass Gaston dem zwielichtigen Gast folgenden Vorschlag unterbreitete: Warum trage er seine Geschäfte nicht in die Restaurants der Konkurrenz und wenn er dabei für Gaston ein wenig in deren Küchen und Vorratskammern herumschnüffeln würde, wolle der sich die Sache, gerne etwas kosten lassen. Skip sagte ihm sofort zu. (Das war doch eine feine Sache, denn so verdiente man doppelt: einmal mit den eigenen Geschäften, zum zweiten für das bisschen Umschauen, das bisschen Degustieren!)
So lief also das Zusammentreffen der beiden ab. In den kommenden sechs Jahren lernte man aber noch weitere Seiten (und Talente) am anderen kennen und schätzen.
Gaston etwa nutzte gerne Skips Kontakte zu diversen Schmugglern und Schwarzmarktanbietern zur Besorgung seltener, überteuerter, oder grundlos verbotener Zutaten für seine Kreationen; er schätzte es sehr, sich mit derlei zwielichtigen, oft unangenehmen Gestalten nicht selbst herumschlagen zu müssen, sondern seinen Einkaufszettel beim wesentlichen umgänglicheren Skip abgeben zu können—so blieb ihm auch mehr Zeit zum Kochen und Kreieren! Skip sprach eben deren Sprache (in mehr als einer Hinsicht), Gaston dann, bei aller Beredsamkeit, eben doch nicht. Und so bediente sich Gaston in den folgenden Jahren immer wieder gerne dieses nützlichen Zwischenmannes. Außerdem konnte er sich kaum satt hören, wenn Skip seine Küche zu loben begann. Nun hatte Gaston ja schon viel Lob gehört, aber erstens kann man davon gar nicht genug hören und zweitens ist Skip ein ganz und gar famoser Schmeichler! Da macht es gar nichts, dass Gaston ihn durchschaut—als jemanden, der schmeichelt, damit er bekommt, was
er will—das geht einfach runter wie Öl, dieses Lob, dieses Schmeicheln... (oder vielmehr wie ein '75er
Drachenfels), davon kann man ja eigentlich (als Künstler) gar nicht genug bekommen...
Skip andersherum fand bei Gaston immer eine Bleibe, sollte er einmal—abgebrannt wie so oft—auf der Straße landen, zu anderen Zeiten aber einfach ein gutes Essen, entspannte Stimmung (da Gaston ihn schon als Dieb und Betrüger durchschaut hatte, brauchte er hier ein Auffliegen nicht zu fürchten; gleichzeitig war Gaston selbst aber ein ehrlicher Bürger und nicht das übliche Gesindel, mit dem Skip zu tun hatte, bei dem man ständig auf der Hut sein musste), sowie ein hervorragender Zuhörer für seine Geschichten. Bisweilen testete Skip an Gastons kritischem Ohr die Glaubwürdigkeit seiner neuesten Masche und besserte sie gegebenfalls nach, bevor er sie an den Mann (oder die Frau) brachte. Man muss nun nicht denken, dass Gaston gar kein Problem mit Skips Beruf hätte. Wie erwähnt verbat er sich gleich beim ersten Treffen, dass Skip sein Restaurant (damals noch Raffaels) für dubiose Geschäfte oder gar Betrügereien nutze oder sich dort irgendwas zu schulden kommen ließe, das ihm, Gaston, den Ruf verderbe! Als zweites ging es Gaston aber schon bald gar nicht mehr allein um den Ruf seines Restaurants, sondern tatsächlich auch um Skip selbst, der ihm mehr ans Herz gewachsen war, als dieser ahnte. Wieder und wieder beschwor er ihn also, mit dem Unfug aufzuhören, es werde noch schlimm für ihn enden! Und er pries Skip das bürgerliche Leben an, wäre das nichts für ihn? Worauf Skip ihm begeistert versicherte: Ja, doch, natürlich, genau das ist ja sein Ziel! Nur diese eine Sache muss er noch durchziehen, damit kommt er richtig zu Geld und kann sich was ehrliches aufbauen, ein Haus, Geschäft, ...
Wie gesagt: eine für beide Seiten nützliche Beziehung. So würde Skip es nennen. Gaston vielleicht eher Freundschaft. Längst ist der Halbling nämlich zu dem Schluss gekommen, dass Skip kein schlechter Kerl ist. Ein Betrüger und ein Dieb, ja, man sollte besser auf seinen Beutel achten, dazu ein gewohnheitsmäßiger Lügner, der wirklich niemals die Wahrheit sagt, aber er ist unterhaltsam, fast immer gut gelaunt, optimistisch, nicht gar so verschlagen, wie Gaston zuerst vermutet hatte, dazu ein ganz famoser Schmeichler, und anders als viele seiner Kontakte weder grob noch grausam. Dazu ist Skip kinderlieb. Im Ernst: er ist wirklich richtig gut zu Kindern. Warm könnte einem ums Herz werden, wenn man sieht, wie er sich um die Straßenkinder kümmert. Wahrlich, dies sind wahrscheinlich die einzigen Kreaturen auf der Welt, denen Skip von sich aus immer wieder hilft, ohne darauf zu achten, dass nur ja auch für ihn etwas dabei herausspringt. OK, sie sind seine Augen und Ohren in der Stadt, aber er nutzt sie in keinster Weise aus, schickt sie niemals auf gefährliche Aufgträge, verlangt niemals, dass sie etwa für ihn stehlen oder auch nur Schmiere stehen, eher beschützt er sie vor solchen Leuten, die das verlangen, wo er nur eben kann. Als ehemaligem Waisenkind lässt Gaston sich davon sehr imponieren. Wenn man den Kerl jetzt bloß noch auf den rechten Pfad bringen könnte und ihm die Gaunereien austreiben! Und ach, mager ist der Junge auch, er isst nicht richtig. Man müsste ihn dazu bringen, regelmäßiger zu essen. Zwei Mahlzeiten am Tag nimmt er maximal zu sich, so gesteht er selbst, noch häufiger gar bloß eine. (Die Vorstellung würde selbst dem wackersten Halbling Schauder über den Rücken jagen.) Kein Wunder ist Skip Haut und Knochen! Ein wenig Speck muss da auf die Rippen, das will Gaston sich zur Aufgabe machen.
Aber zunächst sorgen die beiden zusammen dafür, dass ein wenig Speck auf die Rippen der Straßenkinder kommt. Da Gaston selbst Waisenkind war, wie bereits erwähnt, und überhaupt von einem Wesen, das ihn andere beglucken und umsorgen lassen wollte, ließ er sich leicht von Skip dazu überreden, die Unmengen an (noch völlig einwandfreien) Speiseresten, die in seinem Restaurant anfielen, unter den Straßenkindern zu verteilen. Skip half ihm auch, dies auf eine diskrete Weise zu tun, weit genug abseits des Restaurant, auf dass dies keinen Ruf dafür bekommen möge, der "Abschaum der Straße" versammele sich darum wie Ratten um den Abfall. (Das war nämlich immer das Problem gewesen: die Umsetzung. Die Idee selbst, dass man die Abfälle irgendwie den Bedürftigen zukommen lassen könnte, war Gaston nämlich selbst auch schon bisweilen gekommen—immer dann, wenn er die armen Kinder auf der Straße sah. Nur war er dann immer vor lauter anderen Dingen, um die er sich kümmern musste, nicht dazu gekommen, und die Frage nach der Organisation, unter Rufwahrung des Restaurants, hatte ihm Kopfschmerzen bereitet.)
Soviel muss man über die Vergangenheit der beiden wissen, um den eingangs erwähnten Vorfall zu verstehen, welcher sich vor zwei bis drei Jahren ereignete.
An jenem Abend also saß man nach einem ausgedehnten Mahl, begleitet von diversen edlen Tropfen, noch am Kaminfeuer beisammen, gemütlich zurückgelehnt, den Blick schläfrig auf die niederbrennende Glut gerichtet, wohligen Gedanken nachhängend, als Gaston plötzlich von seiner traurigen Jugend erzählte, um darauf kurzerhand den Spieß umzukehren und sich nach Skips zu erkundigen. Dass Skip sich so herzerwärmend um die Straßenkinder kümmere müsse doch einen Grund haben, vermutete der Halbling.
"Und komme mir diesmal nicht mit einer deiner Geschichten", mahnte er noch,
"ich spüre doch, dass da etwas wahrhaftiges hinter deiner Fürsorge steckt, echte Lebenserfahrung! Einer von ihnen warst du einmal, und wolltest du es noch so sehr leugnen."Doch Skip leugnete es ja gar nicht. (Zu seiner eigenen Überraschung und entgegen seines ersten Instinktes.) Und dann holte er gar aus und erzählte die Geschichte von der Mutter und dem Vater, also die wahre, welche hier nicht wiederholt werden muss, denn sie findet sich oben im ersten Teil dieser Erzählung. Es stimme also nicht ganz, dass er als Straßenkind aufgewachsen sei; die ersten elf Jahre seines Lebens lebte er bei der Mutter im Bordell und es ging ihm recht gut. Sie liebte ihn sehr und auch ein paar der anderen Damen waren nett zu ihm und schlimmes widerfuhr ihm dort nicht. Auf der Straße landete er erst, als die Mutter an einer Krankheit dahingesiecht war—und natürlich kurz darauf in den Fängen eines ebensolchen Halunken, vor denen er "seine" Kinder bewahren möchte, der sie schlug und ausnutzte und in Gefahr brachte.
"Wie hast du das überlebt?" fragte Gaston ihn darauf. Skip aber sagte achselzuckend:
"Mit viel Glück." Und mehr war aus ihm dann doch nicht herauszubringen. Allerdings war Gaston nicht entgangen, dass Skips Hand unwillkürlich seine rechte Wange berührt hatte, dort, wo eine Narbe sich vom Kieferknochen schräg hinauf, die Augenbraue zerteilend, das Auge selbst nur knapp verfehlend, weiter hoch über die Stirn bis zum Haaransatz zog.
Das versprach eine Geschichte, die er schon irgendwann noch aus Skip herauskitzeln wollte.
~~~
Erst zwei Wochen später, als er Gaston erneut besuchte, erkannte Skip, dass er an diesem weinseligen Abend offenbar noch mehr verraten hatte, als seine Erinnerung ihm gebeichtet hatte, denn der Halbling nannte ihn auf einmal "Malcolm". Hoppla, hatte er dem kleinen Kerl gar seinen richtigen Namen verraten, also vielmehr jenen, mit dem die Mutter ihn in der Wiege bedachte? Dem schien so zu sein. Aber wieso fiel es Gaston nun ein, ihn so zu rufen?
"Skip heiße ich", versuchte Skip richtig zu stellen, doch Gaston wehrte ab.
"Ich habe einen Ruf zu wahren", erklärte er,
"da kann ich nicht quer durch mein Restaurant nach einem Kerl namens 'Skip' schreien, was auch für jene, die von Straßennamen nichts verstehen, nach keinem rechtschaffenen Namen klingt." Skip versuchte es erneut:
"Aber so heiße ich nun einmal und wer sagt denn, dass du meinen Namen quer durch dein Restaurant schreien musst?" Doch auf derlei Haarspalterei ließ Gaston sich nicht ein.
"Und wenn ich dich mal jemandem vorstellen muss, hm? Auch das täte ich gerne mit einem ehrbar klingenden Namen." Worauf Skip ihm alle möglichen ehrbar klingenden Namen vorschlug, die Gaston gerne für ihn benutzen dürfe, von Alister bis Morisander, nur bitte nicht Malcolm! In diesem Namen fühle er sich so gar nicht wohl, damit angesprochen zu werden war jedes Mal so angenehm, wie in nasskalte Kleidung zu schlüpfen. Doch Gaston ließ sich weder beirren noch erweichen. Wann immer es ihm einfiel, so rief er Skip von nun an "Malcolm". Ein guter, ehrbarer, bürgerlicher Name war das.
"Dazu einer, den du gewiss noch in keinem deiner Geschäfte benutzt hast", bemerkte Gaston zufrieden.
"Und schlussendlich ist's ja auch dein richtiger."