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"Nun schlaf schon, Kind, die Geschichte werde ich dir morgen weitererzählen," verspricht Lorene ihrer kleinen Schwester, unter unaufhörlichem Trommelwirbel der Regentropfen an den geschlossenen Fensterläden. "Gute Nacht..."
"Aber Schwesterlein! Jetzt mag ich nicht mehr einschlafen! Ich bekomme noch Albträume, wenn du die Kerzen löschst! Dann muss ich immer an die böse Gorislava denken," verzieht die neuneinhalbjährige Sylee wehleidig das Gesicht und richtet sich im Bett auf.
"Nein, Liebes, wie kommst du darauf?," schüttelt die Ältere lächelnd den Kopf, "Gorislava ist doch nicht böse. Sie hat doch niemandem etwas zuleide getan, der es auch nicht verdient hat."
"Und warum hat sie dann schwarzes Haar, und trägt dunkle Kleider?," verlangt das Kind zu wissen.
"Aber Sylee, Tante Ilwyn hat doch auch rabenschwarzes Haar, du glaubst doch nicht, dass sie böse ist?"
"Nicht doch. Tante Ilwyn lächelt immer so lieb. Und sie hat keinen Arm aus Eisen."
Lorene muss nun laut auflachen; erheitert tätschelt sie die kleine Schwester am glatten braunen Haar. "Das stimmt wohl. Tante Ilwyn mit einem Eisenarm, du hast vielleicht eine Fantasie. Wie würde sie damit denn nähen können? Aber glaub mir, Gorislava würde gewiss auch öfter lächeln, wenn ein böser Mann - und der war wirklich böse! - ihre Schwester nicht entführt hätte. Ich würde doch auch nicht fröhlich sein können, wenn du plötzlich fort wärst, Liebes."
"Das ist aber traurig." Die Mundwinkel der Neunjährigen rutschen nach unten. "Wer war denn dieser gemeine Kerl? Schwesterlein, bitte erzähl!," fleht sie, am Ärmel der großen Schwester zupfend.
"Nun gut. Diese Geschichte erzähle ich dir noch, aber danach puste ich die Kerze aus und du schläfst brav ein, einverstanden?"
"In Ordnung," gibt das Kind widerwillig von sich, rollt sich aber gemütlich unter der flauschigen Decke ein und lauscht aufmerksam und gespannt.
"Fein, Liebes, dann will ich dir erzählen, dass Gorislava einst eine jüngere Schwester gehabt hatte, mit der sie zusammen in ihrem großen, alten Haus wohnte, nachdem ihrer Eltern nicht mehr da waren. Ja, es waren bittere Zeiten, der Letzte Krieg hatte in den Ländern gewütet und viele mußten leiden, ob Menschen oder Elfen, ob Gnome oder Zwerge. Schlimme Zeiten waren es, Sylee, die Gorsilava und Zarina - so hieß die Schwester - ihrer Eltern nahmen. Seitdem führten die beiden eigenhändig den Haushalt, mit den wenigen Dienern und Mägden, die noch verblieben waren. Wunderschön waren die beiden, und strahlend lächelten sie, als sie die Schrecknisse des Krieges allmählich vergaßen und einem neuen Leben entgegenblühten.
Doch leider brachten ihnen ihre Schönheit und ihr Reichtum auch viel Unglück ein. Randolt von Reckenmark, so hieß der junge Baron, der einst ungebeten und ungeladen die beiden Schwestern besuchte - er hatte wahrlich nicht an Gold und Zauberei gespart, mit Blumen und Lichtern überhäufte er die beiden, eigens gedichtete Lieder sang er ihnen vor..."
"Der war vielleicht blöd. Mir wäre das alles zu laut und zu langweilig," unterbricht Sylee mit ernster Miene.
"So ging es Gorislava wohl auch," nickt Lorene grinsend, "aber Zarina, sie schien ganz vom jungen Baron angetan. Es verging keine Woche mehr, in der der Schönling nicht zu Besuch kam, jedesmal zu Zarinas abgöttischer Freude und Gorislavas schrecklichem Verdruss. Die Beiden begannen sich sogar zu streiten, sodass die Jüngere sich immer mehr gekränkt und unerwünscht fühlte. Natürlich tat es Gorislava leid, ihre Schwester zu schelten, doch sie konnte das Gefühl nicht loswerden, dass Herr Randolt gar kein so respektabler und offenherziger Mann war, wie er zu sein vorgab. Wahrscheinlich waren es das tiefe, kalte Glänzen seiner Augen, das ihn der Älteren verraten hat, oder auch seine Stimme - jedenfalls wurde er ihr mit jedem verstreichenden Tag immer weniger geheuer.
Du kannst dir vielleicht vorstellen, Sylee, wie entsetzt Gorislava war, als ihre Schwester den Entschluss fasste, auf die Einladung des Barons diesem in sein Anwesen zu folgen. "Du, Schwester, liebst mich sowieso nicht mehr, also möchte ich lieber dort leben, wo ich geliebt werde!," warf Zarina ihr beherzt entgegen, und obwohl Gorislavas Worte beim Abschied harsch waren, weinte sie bitter in der Nacht darauf. Bald begann sie, Briefe zu schreiben, in denen sie ihre Schwester bat und anflehte, zurückzukehren, doch vergeblich: erst antwortete Zarina, dass es ihr wohl ergehe, dass sie Gorislava verzeihe und sie bei sich haben möchte, und irgendwann kamen von ihr gar keine Briefe mehr. Gorislava begann sich natürlich nur noch mehr Sorgen zu machen, bis sie einen Monat später, eines Abends ohne ein Wort zu sagen das Haus verließ und nach Rekkenmark aufbrach.
Es war finstere Nacht, als sie das stolze Anwesen aus weißem Stein erreicht hat, unheimliche Stille umgab es, und in keinem einzigen der vielen Glasfenster brannte Licht, bloß in den Laternen an der Hauptpforte. Gorislava nahm ihren ganzen Mut zusammen und dachte nur an ihre Schwester, während sie zur Türe schritt - doch etwas ließ sie noch davor innehalten. Unter einem weiten, traurigen Kastanienbaum stand ein Grabstein, auf einem Haufen frisch aufgewühlter Erde, und darauf stand - ja, was denkst du, was darauf stand? "Zarina Daal Garden, meine sanfte Blume, die allzu früh verwelken musste"!"
"Was? Warum war sie denn gestorben?," unterbricht Sylee erneut, diemal gähnend.
"Das kann ich dir nicht sagen, Liebes, und Gorsilava wußte es natürlich auch nicht. Sie warf sich nur auf die Knie vor dem Grabstein, beweinte ihre arme Schwester und verfluchte den unseligen Baron. Dieser aber trat plötzlich aus der Türe - so plötzlich, dass Gorislava erschrocken herumfuhr, und schon stand er da, schwarzgekleidet und finster, blickte sie aber liebevoll an. Sicher war es Gorislava nicht danach, Nettigkeiten mit dem Freiherr auszutauschen, sie sprang auf und verlangte wütend zu wissen, was er Zarina angetan hätte und wie er sterben wollte. Randolt aber schien gänzlich ungerührt, er sprach nur mit seiner hinterlistigen Stimme, wie leid ihm die unglückselige Verstorbene täte und was er alles bereit wäre, ihrer wunderschönen Schwester zu geben. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass Gorislava wenig davon begeistert war, sie schwor ihm auf der Stelle Rache und machte sich daran, den Mann zu verfolgen - doch der Halunke war wohl zu gewieft und schlüpfrig. Außerdem gehörte ihm das Haus, und er kannte es wie seine eigene Westentasche. Nun, in der Geschichte wird leider nicht erwähnt, ob er eine Weste trug, aber ich denke, das tat er ganz bestimmt. Jedenfalls vermochte Gorislava den Baron nicht einzuholen, als sie ihn durch die vielen wirren Säle und Gänge des Anwesens verfolgte, dafür lief sie stets in gemeine Fallen und wäre schon gestorben, wenn sie sich nicht gemahnt hätte, den Übeltäter zu fangen. Sie hat sich unterwegs einen Säbel geschnappt, und irgendwann gelang es ihr, Randolt in einen Eckturm zu treiben, ganz bis in die spitze Kuppel, wo er wie ein gestellter Wolf da stand und immer noch grinste. Denn der gemeine Schurke hatte noch einen Ass im Ärmel, oder besser gesagt, eine Kiste in den Händen. Diese öffnete er, ließ sie fallen und wich zum kleinen Turmfenster zurück, das da offen stand und schaurig klapperte. "Du hast es also nicht anders gewollt, meine Liebe. Mich dünkt es fast, du würdest mich ohnehin verbrennen mit deiner Leidenschaft. So lebe wohl, meine schöne Häscherin!" - mit diesen Worten sprang Randolt zum Fenster hinaus! Aus dem hohen Turm! Gorislava war es aber nicht mehr vergönnt, ihn tot am Boden liegen zu sehen, denn kaum hatte sie einen Schritt zum Fenster getan, sprangen viele heiße Funken aus der Kiste, und einen Augenblick darauf ertönte ein furchtbarer Knall, Rauch und Feuer wirbelten von allen Seiten, und Gorislava ging besinnungslos zu Boden.
Als sie wieder zu sich kam, war es hellichter Tag, und die Sonne schien fröhlich auf den zerstörten Turm herunter. Inmitten seiner Trümmer lag Gorislava, blutüberströmt, in zerfransten Kleidern, doch sie war noch am Leben. Es kostete sie eine Menge Kraft, sich wieder aufzurichten - dabei stellte sie fest, dass ihr linker Arm völlig schlaff an herunterhing, und das etwas in ihrem Rücken brannte, schlimmer als alle Wunden. Dieses etwas schien von ihrem rechten Schulterblatt auszugehen - natürlich konnte Gorislava nicht danach schauen. Und wo sie nun da stand, in der Ruine, mit dem mitgenommenen Säbel in der Hand, sah sie nun den Garten in hellem Tageslicht, und es schauderte sie, denn er war voller solcher Grabsteine, wie Zarina einen gestiftet bekommen hatte. Der Baron aber war nirgends zu entdecken, weder lebend noch tot.
Da wiederholte Gorislava ihren Racheschwur, steckte den Säbel in den Gürtel und machte sich unter Schmerzen mit zusammengebissenen Zähne in die nahe Stadt Rekkenmark. Dort ließ sie ihre Wunden versorgen und sich neue Kleider nähen, alle dunkel, als Zeichen ihrer Trauer um Zarina. Den linken Arm konnten allerdings selbst die besten halblingischen Heiler nicht gesund pflegen, und so ging Gorislava zu den berühmten zauberischen Schmieden des Hauses Cannith und ließ sie einen neuen Arm anfertigen, aus Eisen. Das was aber gebrannt hatte in ihrem Rücken, entpuppte sich als ein Drachenmal, aber kein gewöhnliches, wie es eins der noblen Häuser war, sondern ein ganz und gar absonderliches, das jedesmal zu kribbeln begann, wenn Gorislava zornig war oder wütend.
Und natürlich erkundigte sie sich überall in Rekkenmark nach dem verschwundenen Freiherr, doch anscheinend war er schon längst über alle Berge, denn niemand wußte, wo er stecken möge. Gorislava gab selbstverständlich nicht auf, sie forschte so lange, bis sie eine Spur entdeckte, die sie nach Sharn führte, in die gewaltige Stadt der Türme, wo ein jeder untertauchen konnte und wo man für genügend Gold alles bekam. Als sie dort jedoch ankam, vermochte sie den abscheulichen Randolt nicht ausfindig zu machen, wie auch in einer so riesigen Stadt? Wieder dauerte es viele Wochen, bis sie an einen neuen Hinweis kam - und dieser deutete zu Gorislavas großem Ärger ganz darauf hin, als wäre der Schelm wieder nach Karrnath geflohen.
Bevor sie sich aber wieder auf die Jagd nach ihm stürzte, ließ sich Gorislava eine Rüstung fertigen und einen Mantel, und erlernte das Fechten und das Bogenschießen, dann erst bestieg sie ein Luftschiff, das sie zurück in ihre Heimat bringen würde..."
Lorene hält an, als sie bemerkt, dass ihre kleine Schwester bereits friedlich eingedöst ist - und das trotz der ganz schön schaurigen und traurigen Geschichte. "Gute Nacht, Sylee," flüstert sie lächelnd, "morgen geht es weiter..."