(IV)"Hallo Fischer!" begrüßt ihn die Schankmaid.
"Fischer! Schon wieder zurück?" spricht ihn jemand auf der Straße an.
"Setz Dich, Fischer, ich bring' Dir das übliche", sagt der Wirt.
"Fischer! Gut, dich zu sehen! Komm' doch kurz rein!" ruft eine junge Frau, einen dreijährigen Bub an der Hand, besonders herzlich; ihr hatte Fischer einmal geholfen.
"Erzähl' Fischer, wie steht's da draußen?" fragt Sherrif Südbrunn.
Jeder in Bryn Shander kennt Fischer, doch niemand weiß viel über ihn. Er nickt zur Antwort oder zuckt mit der Schulter. Manchmal sagt er auch
"Danke" oder
"Danke, keine Zeit". Dem Sherrif berichtet er in knappen Worten, was er von dem Treiben "da draußen" in den letzten Tagen mitbekommen hat.
Seit drei Jahren lebt er erst im Eiswindtal. Also, dass er Kontakt zu den Leuten hätte. Vorher gab es über ein halbes Jahr hinweg (etwa seit Mittwinter) immer wieder Sichtungen von ihm. Die verschiedensten Leute aus Bryn Shander oder den nächstgelegenen Orten berichteten daheim, dass sie eine Gestalt auf einem zugefroreren See, Teich oder Fluss erblickt hätten, wo er an einem Eisloch hockte und fischte. So kam er zu seinem Namen. Fischer. Vorgestellt hat er sich nie. Geantwortet auf jene ersten Versuche, ihn anzusprechen, auch nicht. Ebensowenig reagierte er auf jedwede Einladung, doch Zuflucht vor dem bitteren Winter in einer ihrer Siedlungen zu suchen.
"Alleine hier draußen holst du dir den Tod, Fischer!" rief ihm manch einer zu. Doch vielleicht war es genau das, was er suchte, damals? Den Tod? Zumindest kam dieses Gerücht auf. Na ja, man spekulierte halt darüber. Es gab auch andere Theorien. Der Winter war lang, die Leute brauchten etwas, um sich die Zeit zu vertreiben. Über den Fischer da draußen zu spekulieren ließ den Abend am Kamin angenehm verstreichen. Was war so interessant an ihm? Nun ja, eigentlich nichts. Und man war es hier in der Gegend ja auch gewohnt, dass hier hauptsächlich (oder ausschließlich?) Leute auftauchten, die gute Gründe hatten, anderswo nicht mehr sein zu wollen, um es mal ganz vorsichtig auszudrücken. Da gibt es etliche mit spannenden Geschichten.
Doch in jenem Winter vor dreieinhalb Jahren war der seltsame Fischer da draußen das Gesprächsthema an vielen Herdfeuern. (Er bot den Leuten eine Atempause von all den ernsten Themen in dieser ihrer Welt, die aus den Fugen geraten schien. Krieg allerorts und kosmische Umwälzungen, die niemand recht verstand. Da richteten sich die Blicke gerne auf das eigene engere Umfeld, versuchte man sich in Sicherheit zu wiegen, indem man die weite Welt möglichst aus den Gedanken verbannte.) Das Interessante an Fischer war wohl einfach, dass man nichts über ihn wusste. Das gab ihm eine mysteriöse Aura. Auch, dass er ausgerechnet an Mittwinter hier auftauchte. Und die Leute, die ihm begegneten, schmückten dies auch gerne aus, bis Fischer fast wie eine überirdische Erscheinung wirkte. Ein Feenwesen vielleicht? Dazu wussten die Alten Geschichten. Feenwesen gab es in den hiesigen Gewässern viele, oder jedenfalls Geschichten über sie, von Weibern, die im eiskalten Wasser Wäsche wuschen (und Männer ins Verderben lockten) bis hin zu Neck und Nymphen. Oder vielleicht war er auch ein Geist? Es gab da einen Flößer, vor Jahrhunderten ersoffen, den man dennoch immer wieder mal auf seinem Geisterfloß den Fluss hinunterfahren sah... Warum also nicht auch ein Geister-Fischer, vor Jahren erfroren in der grausamen Wildnis? So abgerissen und verhungert wie er aussah, in so dünne Fetzen gekleidet... ein Wunder wäre es, wenn er noch lebte! Pragmatischere Leute dagegen nutzten Fischers Auftauchen im Eiswindtal zu einem amüsanten Wettbetrieb. Den ganzen Winter über wurden Wetten abgeschlossen: wo er wohl als nächstes auftauchen würde? Wie lange bis zur nächsten Sichtung? Wer würde ihn wohl als nächstes sehen? Würde er den Winter überstehen oder fände man im Frühjahr seine Leiche? Wenn die Wölfe ihn nicht holen würden...
Doch wie die Sache dann schließlich kam, darauf hatte niemand gewettet. Eines Tages nämlich marschierte Fischer in Targos einfach zum Tor herein. In den Armen trug er ein lebloses junges Weib. Aus dem Fluss, dem Shaengarne, hatte er sie gefischt, in welchen das dumme Ding sich gestürzt hatte—die Frühjahrsschmelze hatte bereits eingesetzt, sodass dieser mehr komplett zugefroren war, dafür aber umso gefährlicher—weil der Jüngling, den sie liebte, für den sie ihre Jungfernschaft aufgegeben hatte, der ihr die Ehe versprach, nun eine andere heiraten wollte. Das Mädchen war die Tochter des Schmieds von Targos und lebt heute mit ihrem kleinen Bub in Bryn Shander, glücklich verheiratet. Und ruft Fischer immer besonders herzlich zu, wenn er auf der Straße vorbeiläuft. Er nickt zurück und sagt:
"Nächstes Mal."~~~
Seit dreieinhalb Jahren lebt Fischer also im Eiswindtal. In Targos, Termalaine, Bryn Shander, Caer Dineval und Good Mead ist Fischer gern gesehen. (In den anderen Städten hat man auch nichts gegen ihn, aber dort lässt er sich eher selten blicken.) Fisch, Felle, Wildbret, Beeren bringt er, oder Gäste, die er durch die Wildnis geführt hat oder entlang der Karawanroute schützend begleitet. Außerdem packt er hier und da für ein paar Münzen als Zimmermann mit an, wann immer es gilt, eine Hütte, Stall oder Boot zu bauen. Hier im Eiswindtal käme niemand auf die Idee, ihn nach seinem Gesellenbrief zu fragen. Man weiß, er kann anpacken und macht seine Sache gut.
Seine kleine, selbstgebaute Hütte steht irgendwo im Wald südöstlich von Bryn Shander. Auch damit hat niemand ein Problem. Einige Leute (wie z.B. Sherrif Markham Südbrunn) waren schon einmal dort; die meisten aber fänden nicht einmal den Weg dorthin. Im Eiswindtal gibt es wenige Regeln, und zu den strengsten gehören jene, die genau festhalten, wer wann wo und wieviel Holz schlagen darf, denn Holz ist rar und die beiden kleinen Wäldchen müssen vor einer Abholzung beschützt werden. Da kommt es gerade recht, dass Fischer in einem der beiden haust und ein Auge auf Wildschläger hat. Fischer ist zwar nicht offiziell als Gehilfe des Sherrif oder Wache oder sonstwas anerkannt, aber nun ja, inoffiziell irgendwie halt doch. Zumindest lassen die Gesetzesvertreter ihn machen und stärken ihm in dieser Sache (sollte ihnen etwa jemand Beschwerden antragen) den Rücken.
So kommt er letzlich auch zur Smaragd-Enklave: die wird nämlich auf den selbsternannten Wächter des Waldes aufmerksam und tritt eines Tages an ihn heran. Die Ziele der Gruppe erscheinen Fischer als erstrebenswert (und er muss seine Lebensart dafür kaum ändern), also sagt er zu.
(V) Wie Fischer zur Gruppe stößt:
Im Auftrag der Enklave reiste Fischer nach Mirabar, um dort den Marquis zu treffen, zwecks einer gemeinsamen Mission zwischen der Enklave und der Fürstenallianz. Den Allianzlern soll er als ortskundiger Naturführer unter die Arme greifen.
Doch kaum hat er den Südpass bezwungen, wird von Wölfen angefallen. Er kann sich ihrer zwar erwehren, wird dabei aber schwer verletzt, u.a. von einer Felskante gestoßen. Da er abseits der Straße unterwegs ist (statt den Umweg über Luskan zu nehmen, hatte er den direkten Weg Richtung Mirabar eingeschlagen – quer durch die Wildnis), besteht keine Hoffnung, dass er gefunden wird. Er schleppt sich also einige Tage (teils bäuchlings) durch die Wildnis, bis er in einer kleinen Höhle Unterschlupf findet. Dort findet er den Wurf der von ihm getöteten Wölfin: fünf Welpen, etwa drei Wochen alt, von denen nur eine noch lebt. Obwohl selbst halb tot, nimmt Fischer sich der Welpe an, päppelt den entkräftigten Kleinen mühsam wieder auf mit vorgekautem Fleisch aus der eigenen Proviant (streng rationiert) und Wasser (geschmolzener Schnee). Seine eigenen Verletzungen versorgt er, so gut es geht. Gelernter Heiler ist er nicht, aber in seinen knapp vierzehn Jahren als Soldat hat er sich und andere desöfteren mal verarzten müssen, wenn weder Feldscher noch Heiler aufzutreiben war. Ohne ins schmerzhafte Detail zu gehen: mit einiger Zähigkeit, Kraft und Geschick gelingt es ihm sehr wohl, das gebrochene Bein zu richten und zu schienen, und auch die Bisswunden zu säubern und zu verbinden. (Wie gut, dass Verbandszeug und Kräuter für Wundauflagen immer dabei hat). "Wir zwei schaffen das schon, Kleiner", verspricht er dem kleinen Wolf, wann immer ihn selbst die Hoffnung zu verlassen droht, "wir dürfen beide nicht aufgeben."
Erst drei Wochen später findet er einen Bach in der Nähe und ist immerhin so fit, dass er Fischen kann und Fallen aufstellen, sodass es für die beiden nun Forellen und den gelegentlichen Schneehasen gibt. Doch erst nach knapp 6 Wochen nach dem Angriff der Wölfe ist Fischer wieder in der Lage, auf die Reise zu gehen, auch dann braucht er für das letzte Stück nach Mirabar noch zwei- bis dreimal so lange, wie er normalerweise gebraucht hätte. Die Klamotten schlottern ihm um den Leib, als er mit seinem kleinen Wolf im Arm in die Stadt humpelt.