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« am: 01.07.2006, 01:48:15 »
Irgendwann hatte Naoko aufgehört, die Tage und Zehntage zu zählen. Diese Straßen schienen kein Ende zu nehmen. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich vorgestellt, dass er einmal so weit weg von seiner Heimat sein würde. Er war sich ziemlich sicher, dass kein Mitglied seines Stammes jemals so weit gereist war.
Auf dem Weg lernte Naoko viel über das Wesen und das tägliche Leben der Menschen. Sie waren ein seltsames Volk - schwer einzuschätzen. Es gab unter ihnen freundliche und bösartige, geizige und selbstlose. Auch verehrten sie eine Vielzahl von Göttern, die Naoko bislang nicht gekannt hatte, über die er sich aber nun viel erzählen ließ. Einen noch größeren Stellenwert als die Götter hatte für die Menschen nur eines: Geld.
Gold und Silber waren für viele Leute, die Naoko auf seiner Reise getroffen hatte, das einzige, was ihrem Leben einen Sinn gab und man brauchte Geld, wenn man auf Dauer in diesen ungastlichen Landen überleben wollte.
Niemand hier schien etwas von den Natur- oder Ahnengeistern zu wissen, die Naoko verehrte. Anfangs hatte der kleine Geisterschamane noch versucht, den Leuten klarzumachen, dass ihr Schicksal nicht nur von Göttern auf fremden Ebenen bestimmt würde, sondern von den unzähligen Seelen die jedem lebenden Ding innewohnten. Doch niemand schien sich wirklich für derlei Weisheiten zu interessieren und so hatte Naoko seine Überzeugungsversuche schließlich aufgegeben.
Mithilfe der Adlerfeder hatte er zwischenzeitlich auch einmal eine Nachricht nach Hause geschickt - hatte von den Attraktionen seiner Reise und allem berichtet, was er bislang herrausgefunden hatte.
Als er wenige Tage später Antwort von Uzima erhielt, geschah es zu ersten mal: Er fühlte, dass er sich bereits von seinem Clan entfremdet hatte. Naoko war sich nicht sicher, ob es an ihm lag, weil er sich durch die neuen Erfahrungen verändert hatte, oder an seinen Freunden zu Hause, weil sie nie ihren Wald verlassen und etwas anderes zu Gesicht bekommen würden.
In den darauffolgenden Tagen war Naoko recht traurig und niedergeschlagen. Ein wenig half ihm der hervorragende Wein der Aulbes dabei, seinen Kummer zu ertränken. Recht bald hatte er den gesamten Krug geleert.
Dann schließlich lag es endlich vor ihm: Das Schloss von Baron Aulbes. Naoko war aufgeregt. Er war am Ziel. Dafür hatte er die monatelangen Strapazen auf sich genommen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.