"Ah, Ramirez,
Now hast thou but one bare hour to live,
And then thou must be damn'd perpetually!
Stand still, you ever-moving spheres of heaven,
That time may cease, and midnight never come;
Fair Nature's eye, rise, rise again, and make
Perpetual day; or let this hour be but
A year, a month, a week, a natural day,
That Ramirez may repent and save his soul!
The stars move still, time runs, the clock will strike,
Acan's hellions will come, and Ramirez must be damn'd.
O, I'll leap up to Lancerus!—Who pulls me down?—
Ah, rend not my heart for naming thee!
Yet will I call: O, spare me, spare me!—
But look! He stretcheth out his arm, and bends his ireful brows!
Mountains and hills, come, come, and fall on me,
And hide me from the heavy wrath of Lancerus!
No, no?
Then will I headlong run into the earth:
Earth, gape! O, no, it will not harbour me!
You stars that reign'd at my nativity,
Whose influence hath allotted death and hell,
Now draw me up, like a foggy mist.
Into the entrails of yon labouring clouds,
That, when you vomit forth into the air,
My limbs may issue from your smoky mouths,
So that my soul may but ascend to heaven!"

[The clock strikes the half-hour.]

"Ah, half the hour is past! 'twill all be past anon
O Lancerus,
If thou wilt not have mercy on my soul,
Impose some end to my incessant pain;
Let Ramirez live in hell a thousand years,
A hundred thousand, and at last be sav'd!
O, no end is limited to damned souls!
Why wert thou not a creature wanting soul?
I am repentant, doth it matter not?
So I was taught but were that true,
This soul should fly from me, and I be chang'd
Unto some brutish beast! all beasts are happy,
For, when they die,
Their souls are soon dissolv'd in elements;
But mine must live still to be plagu'd in hell.
Curs'd be the parents that engender'd me!
No, Ramirez, curse thyself and curse thy greed
That hath depriv'd thee of the joys of heaven!"

[The clock strikes twelve.]

"O, it strikes, it strikes! Now, body, turn to air,
Or Acan will bear thee quick to hell!"

[Thunder and lightning.]

"O soul, be chang'd into little water-drops,
And fall into the ocean, ne'er be found!"

[Enter HELLIONS.]

"My God, my god, look not so fierce on me!
Adders and serpents, let me breathe a while!
Ugly hell, gape not! come not, Acan!
I'll sell my house, my land, my every good
And give the earnings to the poor!
But ah, too late, for every man
Must reap what he hath sown!"[3]

[Exeunt HELLIONS with RAMIREZ.]


Der Vorhang fiel und dahinter blieb es still. Nicht ein Muckser kam aus dem Publikum, nicht einmal ein vereinzeltes höfliches Klatschen. Will tauschte einen verunsicherten Blick mit dem kleinen und dem großen Tom—jene Höllendiener, die kaum dass sie ihn davongezerrt hatten, mit ihm erneut auf die Bühne getreten waren, bis der Vorhang wieder aufgehen und der Beifall aufbranden würde... und jetzt diese unerklärliche, diese nervenzerreibende Stille!

Der Vorhang hob sich langsam. Das Publikum, noch immer still, noch immer reglos, sah die drei Schauspieler an. Eigentlich hätte auch das restliche Ensemble sich inzwischen dazugesellen sollen, aber offenbar traute man sich nicht.

"Schreib eine Komödie, Will!" hatte Marcello 'a cappella', der Direktor des Tamburintheaters, ihm geraten (der so genannt wurde, weil er mehrstimmig schimpfen konnte). "Oder ein blutrünstiges Schlachtenepos! Darauf steht das Volk! Wenn das Tyrannenblut spritzt!" Angefleht hatte er Will. " Niemand möchte eine Tragödie sehen! Schon gar nicht eine, in der es um einen Kaufmann geht, der Acan aus Habgier seine Seele verpfändet. Was glaubst du wohl, was wir sind: ein Gossentheater? Unser halbes Publikum besteht aus habgierigen Kaufleuten!"

Hatte der Direktor recht gehabt? Dabei hatte Will noch niemals so etwas geschrieben, noch nie waren die Worte so geflossen, die Wangen beim Schreiben so heiß geworden, noch hatte sein Herz je so gerast, so gepocht vor Glückseligkeit. Lauthals gelacht hatte er, wenn Reim und Versmaß und der Klang sich fügte wie von allein, wie von göttlicher Hand geführt—keine Frage, dies war sein Meisterstück! Was war schon ein billiges Schlachtenspektakel dagegen? Banausen, allesamt! Pfeffersäcke ohne Phantasie, ohne Gefühl, ohne Seele!

Will tat einen zögernden Schritt auf das Publikum zu und verbeugte sich ebenso zögernd, in einer Stille, in der eine Haarnadel nicht ungehört zu Boden hätte fallen können... Als er den tiefsten Punkt seiner Verbeugung erreicht hatte—das Gesicht heiß vor Demütigung, vor blankem Entsetzen—da endlich erhob sich vor ihm ein Sturm, ein Tosen, da schlug ihm eine Brandung entgegen, wie er sie in den bald zwanzig Jahren, die er schon auf der Bühne stand, noch nicht erlebt hatte und die so gewaltig war, dass sie ihn um ein Haar unter sich begraben hätte, dass er schier in die Knie gegangen wäre unter ihrer Wucht.

Aber er ging nicht in die Knie. Stattdessen richtete er sich wieder auf, noch immer hochrot, aber mit einem derart seligen Strahlen auf dem Gesicht, wie es allenfalls einer Priesterin Elendras in höchster religiöser Ekstase zukam—kurz bevor der Anblick ihrer Göttin ihr die Augen aus dem Leibe brannte.

Er verneigte sich erneut. Das Klatschen wurde noch lauter, einzelne Bravo-Rufe erhoben sich aus dem Tumult und Will wurde die Zielscheibe eifriger Blumenwerferinnen. Links und rechts von ihm traten jetzt auch die anderen vor und verbeugten sich. Das Haus tobte.

Ich nehme alles zurück. Ihr seid doch keine seelenlosen Pfeffersäcke, ihr habt doch Sinn für die Kunst, die Poesie, das erhabene Gefühl! Ihr könnt doch Schund und Effekthascherei von wahrer, zeitloser Dramatik unterscheiden! Ich liebe euch!

Das Publikum wollte sie an diesem Abend nicht weglassen. Immer wieder wurden sie vorgerufen, es wurde gar verlangt, dass die Schauspieler einzelne Szenen wiederholten, was sie gerne taten. Als sie schließlich die Bühne verließen—nicht endlich, nur schließlich, denn Will wäre gerne noch geblieben—und sich auf den Weg zu den Umkleiden machten, fand Will bei der seinen drei Männer vor, die auf ihn warteten. Zwei Stadtgardisten und ein dritter in schwarzer Zivilkleidung, mit steifem weißen Kragen, der sich als Hauptkommissar Bloom vorstellte.

"William Marlowe, im Namen des Volkes und Kraft meines Amtes, Ihr seid verhaftet."

"Der Angeklagte möge sich erheben", befahl der vorsitzende Richter, ein dünner kleiner Mann mit erstaunlich kräftiger Stimme, flankiert von den Schöffen, die er nur deshalb so gerade eben überragte, weil sein Pult um zwei Stufen erhöht war, "und dem Gerichtsschreiber die Richtigkeit seiner aufgenommenen Personalien bestätigen, sowie den Hergang seiner Verhaftung."

Will erhob sich. Ebenso der Gerichtsschreiber, der an einem Tisch unterhalb der drei Richterpulte saß. Während die Richter alle einen roten Talar trugen und schwarzgelockte Perücken, der vorsitzende aber eine weißgepuderte, bezeugte lediglich eine rote Armbinde auf der schlichten schwarzen Kleidung die Zugehörigkeit des Gerichtsdieners.

"Ihr seid William Marlowe, 28, auch genannt 'Kid' Marlowe, wohnhaft in der Gauklergasse 3, Familienstand ledig, gebürtig in Aradan, Eltern unbekannt, aufgewachsen im Tamburintheater, wo sich die dortigen Schausteller gemeinschaftlich Eurer Erziehung angenommen haben, sodass Ihr selbst bereits mit acht Jahren den Beruf des Schaustellers ergriffet und Euch, seit Eurem achtzehnten Lebensjahr, zudem noch als Stückeschreiber verdingt, dem wir solche Werke wie 'Das Massaker von Liurda' und 'Die Zähmung der widerspenstigen Kaufmannstochter' verdanken? Bitte bestätigt, dass diese Angaben vollständig und korrekt Eure berufliche und private Situation schildern."

"Ich bestätige es", sagte Will. Wie subtil der Gerichtsdiener eine ironische Betonung auf 'verdanken' gelegt hatte. Doch Will war dies inzwischen gewohnt, dass man seine Werke auseinander nahm, um darin die Spuren seines üblen Charakters zu erkennen. Er ließ sich nach außen hin zu keinerlei Reaktion hinreißen, auch wenn sein Innerstes vor Spott bebte.

Im Ernst? Diese beiden Stücke wählst du als Beispiele aus? Teil der Anklage schon, wie mir scheint? Frühwerke, die ich als dummer Jüngling schrieb. Auftragswerke noch dazu. Die Geschichten von Marcello vorgegeben, weil so etwas 'das Volk ergötzt'—allein die Reime sind von mir! Und dennoch wollt ihr mir den Strick daraus drehen. Wollt mir nachweisen vor allen Leuten: schon mit achtzehn war dieser Mann der Auffassung, eine widerspenstige Kaufmannstochter dürfe man mit Gewalt zähmen! Schon mit zwanzig besaß er eine derart grausame Phantasie! Ja was! Als ob die Meinung meiner Charaktere stets die meine wär! Überhaupt, ich erfinde nicht, ich beobachte, ich halte einen Spiegel vor. Darum sagen meine Stücke nicht halb so viel über mich, wie sie über euch sagen! Wenn ich darin Gewalttaten beschreibe, dann weil sie von Menschen begangen werden. Die Schlüsselszenen aus dem 'Massaker' stammen eins zu eins aus den Geschichtsbüchern. Ach ja, und das Stück war der tollste Erfolg des Tamburintheaters in fünf Jahren gewesen, denn, 'du siehst, Will, das ist es, was das Volk sehen will.' Heuchler allesamt!

"Und ist es richtig", fragte der Gerichtsdiener, nachdem er ein wenig umständlich in seinen Unterlagen geblättert hatte, "dass Ihr bei Eurer Verhaftung vor einem Monat durch Hauptkommissar Bloom Widerstand geleistet habt, der auf ein schuldbeladenes Gewissen deutet?"

"Es war nur der Schreck", sagte Will. "Nicht das Gewissen. Und ich bin auch nur einen Schritt zurückgewichen und habe gestammelt: 'Was? Wie bitte? Das muss ein Irrtum sein. Ich habe doch nichts verbrochen!'"

Ja, und da hatten die beiden Gardisten ihn schon auf ein Nicken Hauptkommissar Blooms hin gepackt und ihm die Hände auf dem Rücken in Ketten geschlagen.

Der Gerichtsschreiber runzelte die Stirn und blätterte abermals in seinen Papieren. "Hauptkommissar Bloom gab zu Protokoll, dass Ihr Euch massiv gewehrt habt. Das klingt nach mehr als nur: einen Schritt zurücktreten und überrascht stammeln. Was sagt Ihr dazu?"

Nun gut. Er hatte die Beine erst in den Boden, dann gegen den Türrahmen gestemmt, während er den Hauptkommissar angefleht hatte, ob man denn nicht bitte das Gebäude über den Schaustellereingang verlassen könne, da käme man ja auch leichter durch. Zur Antwort zog man ihm mehrmals eins mit dem Knüppel über, legte ihm dann auch noch Fußketten an und führte ihn solchermaßen gefesselt und zugerichtet quer durch den sich erst allmählich leerenden Zuschauerraum, zum großen Eingangsportal hinaus und stieß ihn, vor aller Augen und unter wüsten Beschimpfungen, in die vergitterte Kutsche.

"Es war der Schreck", wiederholte er. "Ich war verwirrt, übermüdet von dem langen Tag, trunken von der aufregenden Vorstellung, ich habe die Situation nicht richtig erfasst."

Die Scham war es. Die Scham, dass mein Publikum mich so sehen sollte. Aber das Wort 'Scham' nehme ich hier lieber nicht in den Mund, sonst wird es mir gleich darin verdreht und auf mein angebliches Verbrechen bezogen!

Der Richter verzog spöttisch das Gesicht und beugte sich zu seinem rechten Beisitzer, um ihm etwas ins Ohr zu sagen, worauf dieser nickte. Der Schöffe auf der anderen Seite wirkte gelangweilt. Hinter Will, in dem kleinen, aber bis zum letzten Stehplatz besetzten Zuschauerraum wurde ebenfalls gewispert. Einzig der Gerichtsdiener behielt seine sorgfältig einstudierte neutrale Miene, als er fortfuhr:

"Folgendes habt Ihr während des Verhörs zugegeben und zur Aussage gebracht: dass Ihr vor inzwischen bald einem halben Jahr, an das genaue Datum könntet Ihr Euch nicht erinnern, Euch über den Balkon und das Efeu an der Hauswand Zutritt zur Kammer von Viola Alberti, Tochter des Klägers Fabianus Alberti, verschafft habt und Euch in jener Nacht mehrmals an dem sechzehnjährigen, unschuldigen Mädchen vergangen habt."

"Mit Verlaub!" meldete sich zum ersten Mal Will's Anwalt, Carl Orsino, zu Wort. "Mein Klient hat niemals, auch nicht nach Einnahme eines Wahrheitstrunkes, ausgesagt, sich an dem Mädchen vergangen zu haben. Auch fand der anwesende Kleriker nicht den geringsten Hinweis auf etwas derartiges in Wills Gedanken. Eine Liebesnacht im besten Einvernehmen, das allein waren seine Worte und Gedanken."

"Ich korrigiere", sagte der Gerichtsdiener gelassen. "Ihr habt Euch in jener Nacht in das Haus Alberti ohne Wissen des Hausherrn eingeschlichen wie ein Dieb durch das Fenster und habt seine Tochter zum mehrfachen Beischlaf 'überredet'. Ist das korrekt?"

Carl Orsino öffnete den Mund zu einem erneuten Protest, doch Will wusste, dass es keinen Zweck hatte. Er selbst sah auf Anhieb noch ein halbes Dutzend Arten, wie der Gerichtsdiener seine Worte verdrehen konnte, um den einfachen Umstand eines Stelldicheins wie ein Verbrechen aussehen zu lassen.

"Ja, das ist korrekt", sagte Will. "Die Balkontür war verschlossen, also habe ich geklopft, und Viola öffnete."

Der Richter bedachte Will mit einem bösen Blick: "Der Angeklagte möge sich zu diesem Zeitpunkt darauf beschränken, auf die Fragen des Gerichtsdieners mit Ja oder mit Nein zu antworten. Er wird später die Gelegenheit erhalten, sich zu den Vorwürfen zu äußern."

Hämisches Gelächter ertönte im Zuschauerraum auf Klägerseite, worauf der Richter seinen grimmigen Blick sofort in Richtung der Verursacher lenkte. Das Gelächter verstummte. Will knirschte derweil ob der Verwarnung mit den Zähnen. Ja, er würde seine Seite noch darstellen dürfen, aber erst, nachdem die Anklage so oft und in derart reißerischer Darstellung wiederholt worden war, dass sie sich bildhaft in den Köpfen aller Anwesenden festgesetzt hätte und damit fast schon als so geschehen akzeptiert wäre. Dennoch blieb er ruhig. Jetzt zu widersprechen brächte gar nichts. Auch wenn die Karten gezinkt waren und schlecht für ihn standen: er musste seine Hoffnung ganz auf seine Verteidigungsrede setzen. Solange musste er sich noch gedulden.

Der Richter befahl ihm, wieder Platz zu nehmen, und forderte die Gegenseite auf, sich zu erheben. Der Gerichtsdiener durchlief mit Vater und Tochter dieselbe Prozedur der Personalienerfassung und kündigte dann an, den 'Tathergangs aus Sicht des Opfers aufzuzeigen'. Da spitzte auch Will die Ohren. Bislang hatte er Viola immer nur flüchtig zu Gesicht bekommen, meist mit der gesamten Länge des Gerichtsflurs dazwischen. Den Wortlaut ihrer Aussage hatte ihm bis jetzt noch niemand verlesen.

Viola trug das Kleid, in dem Will sie kennengelernt hatte: weiter Rock, enges Mieder, und überall verspielte Schleifchen, die laut nach Männerhänden riefen, um sie zu entwirren. Nur der Blick auf den üppigen Busen war heute züchtig verwehrt durch ein weißes Brusttuch. Das Mieder war auch nicht ganz so eng geschnürt und darunter quoll der Bauch hervor. Dort wuchs also, bereits im sechsten Monat, sein Kind heran. Wenn es denn seines war. Und dann begann auch schon die Vorstellung.

Sie war gut. Bei den Göttern! Marcello, wenn er hier gewesen wäre, er hätte sie vom Fleck weg engagiert. Die feine Röte im Gesicht, der keusch zu Boden gerichtete Blick, das zitternde Stimmchen, ein Schluchzer hier, ein verschämtes Wischen des Augenwinkels da—niemals zu viel, niemals übertrieben!—und erst, als der Gerichtsdiener verlas, was Will ihr angeblich alles gegen den Willen angetan habe, wobei der gute Mann unnötig in die Einzelheiten ging, versteckte sie das Gesicht hinter dem Rücken des Vaters und brach in bitterliche Tränen aus.

Hm, ja, das alles hatte Will ja mit ihr angestellt, nur eben nicht gegen ihren Willen. Hatte man ihr denn keinen Wahrheitstrunk verabreicht? Und wenn doch, wie hatte ihnen dieses doch nicht unwichtige Detail entgehen können? Oder war sie raffiniert genug, auch die Magie zu täuschen?

Will hob die Hände und klatschte. Er konnte nicht anders. Die Vorstellung war einfach zu gut gewesen. Sie warf ihm um den Rücken ihres Vaters herum einen bitterbösen Blick zu, er verneigte sich vor ihr, klatschte noch lauter und rief: "Zugabe! Zugabe!" Einige Zuschauer auf seiner Seite des Gerichtes lachten.[4]

Den Blick des Vaters dagegen konnte er nicht deuten. Wütend bis mordlustig, ja, aber die Frage war: kannte er die Wahrheit oder hatte seine Tochter auch ihm ein Theater vorgespielt? War diese Farce hier seine Idee oder ihre? Will war inzwischen geneigt, letzteres zu glauben. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Aber das, was er da gerade miterleben durfte, das ging nicht so einfach mal auf väterliches Kommando, da steckte ein echtes Talent dahinter. Und eine Kaltblütigkeit, die so gar nicht zu dem hübschen Gesicht, den zarten Gliedern, dem weich-anschmiegsamem Leib, den verzückten Seufzern passen wollte...

Das Gerede ging schier endlos weiter. Zeugen traten vor: solche, die die moralische Unantastbarkeit des Mädchens beschworen, und andere, die ihn diskreditieren sollten. Da wurde jeder kleine Händler, bei dem er ein paar Silberlinge Schulden hatte, herbeizitiert und jede "Dame", mit der er jemals im Heu verschwunden war—nur die drei echten Damen, die Will außer Viola noch beglückt hatte, waren dem Auge des Gesetzes entgangen—insgesamt jedenfalls ein gutes Dutzend wurden vorgeführt, um seine lästerliche Lüsternheit anzuprangern. (Im Ernst: die Worte "lästerliche Lüsternheit" fielen.)

Es war später Nachmittag und die Augenlider der meisten Leute im Gerichtssaal waren sichtbar schwer, als Will und sein Anwalt endlich aufgerufen wurden, ihre Verteidigung zu präsentieren.

Und Will war in seinem Element. Die Bühne gehörte ihm. Eine Aufführung wie jede andere. Nach wenigen Sätzen schon hatte er das Publikum in der Hand. Fast alle waren auf seiner Seite oder würden sich noch herüberziehen lassen, das spürte er, sogar—verhalten zunächst, verschämt, fast gegen ihren Willen—die Zuschauer auf Klägerseite. Auch einer der beiden Schöffen sah inzwischen sehr wohlwollend auf ihn herab. Carl hatte ihm gute Tipps gegeben, was er sagen solle, und was dieser selbst dazwischen anbrachte war auch bühnenreif, und überhaupt lief alles ungleich besser als bei ihrer Generalprobe.

Zum Abschluss beteuerte Will ein letztes Mal: "Ich habe mich diesem Mädchen nicht aufgedrängt. Ich würde mich niemals einem Mädchen aufdrängen, zum einen weil ich es nicht nötig habe, zum anderen hege ich einen zu großen Respekt für die Damenwelt, um an so etwas überhaupt zu denken. Die von der Anklage hierher zitierten Damen haben doch zu Genüge bestätigt, dass meine Zärtlichkeiten genau dies sind: zärtlich. Im Übrigen würde ich meine Talente niemals freiwillig an ein undankbares Publikum vergeuden."

Den letzten Satz fand er selbst etwas riskant in seiner Arroganz und er hatte vorher lange überlegt, ob er ihn anbringen sollte, doch offenbar hatte er recht daran getan, es zu wagen, denn genau damit erntete er die meisten erleichterten Blicke und zustimmenden Seufzer.

Neben Vater und Tochter gab es nur zwei Personen im Saal, die sich von Wills Rede gänzlich unbeeindruckt zeigten: der Richter und auch der Schöffe zu dessen Rechten. Die beiden blickten immer finsterer drein und tuschelten immer öfter miteinander. Als der Schöffe auf der anderen Seite dies bemerkte, sah er plötzlich sehr betreten aus und suchte immer wieder den Blickkontakt mit Will, als müsse er sich für etwas entschuldigen.

Und wenn Will gehofft hatte, dass man ihm an jenem Abend wenigstens das letzte Wort überließe, damit seine Rede über Nacht ihre Wirkung entfalten könne, so hatte er sich getäuscht: es wurde ihm genommen. Und zwar vom Anwalt der Anklage.

"Eine schöne Rede", höhnte dieser. "Auch schön dramatisch vorgetragen, um nicht zu sagen: professionell. Wie soll meine arme Klientin da mithalten können? Sie ist nur ein einfaches Mädchen von gutbürgerlicher Erziehung. Singen, Handarbeit, ein Instrument, eine Fremdsprache, ein wenig Geschichte. Dieser Mann dagegen, ja, er hat viele hier im Saal überzeugt mit seinen Worten, hat Zweifel gesät, doch man darf nicht vergessen, was er von Beruf ist: Schauspieler, seit dem achten Lebensjahr. Aufgezogen von Schauspielern. In anderen Worten: ein professioneller Lügner. Seit zwanzig Jahren lügt er jeden Tag, zweimal am Tag, seinem Publikum das Blaue vom Himmel herunter."

In diesem Ton fuhr der Anwalt noch eine ganze Weile lang fort. Schließlich, auf dem Höhepunkt seiner Rede, stellte er ein halbes Dutzend Fragen in den Raum, die er durch suggestive Wortwahl auch gleich selbst beantwortete: "Doch wo sind seine Schaustellerkollegen vom Tamburintheater? Warum sitzen sie heute nicht hier im Publikum, kein einziger von ihnen, um ihn moralisch zu unterstützen? Aufgezogen wie einen Sohn haben sie ihn in ihrem Etablissement, sind für ihn die einzige Familie, die er je gekannt hat: und doch lassen sie ihn in dieser Notlage allein. Haben sie ihn vielleicht durchschaut? Sie, die ihn von kleinauf kennen, die Tag für Tag mit ihm zusammen sind, die seine Schauspielkunst von seiner wahren Person unterscheiden können, wissen sie bereits, was wir hier noch versuchen zu klären? Bleiben sie dem Gericht fern, weil sie erkannt haben, dass er schuldig ist?"

Nein, weil sie Angst davor haben, dass man ihnen das Theater schließt, oder schlimmeres. Als Schausteller stehen wir doch alle zu jeder Zeit mit einem Fuß im Gefängnis! Da werden wir doch von der Obrigkeit von vorneherein mehr zum Gesindel denn zur rechtschaffenen, arbeitenden Bevölkerung gezählt. "Etablissement"—was sind wir, ein Hurenhaus? Aber eine Gemeinsamkeit besteht tatsächlich: ein Theater wird genauso schnell wie ein solches mal geschlossen, wenn der Obrigkeit etwas daran nicht passt, und wovon soll die Truppe dann leben? Nein, ich kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie auf Abstand zu mir gehen. Sollte ich fallen, da nützt es niemandem, wenn ich sie mit hinunterziehe. Abgesehen davon haben sie alle zusammengelegt und mir den Anwalt verschafft, unter der Bedingung, dass es niemand erfahre.

Und damit endete der erste Tag im Gericht. Noch war kein Entschluss verkündet, doch schien die Sache längst beschlossen. Jedenfalls verließ der Anwalt des Klägers den Saal mit triumphierendem Leuchten in den Augen, während Carl Orsino mit hängenden Schultern davonschlich und Will—unnötig grob, wie immer—von den Wachen davongezerrt wurde. Als berufsmäßiger Lügner disqualifiziert! Ja was, sollte für ihn allein gelten: je überzeugender seine Argumente, desto weniger dürfe man ihm glauben? Wie soll sich ein Mensch da verteidigen?


Zehn Jahre Zwangsarbeit, hatte Albertis Anwalt gefordert. Zehn Jahre! Das war alles, woran Will in dieser Nacht denken konnte. Wer überlebt schon zehn Jahre Zwangsarbeit! Die meisten gehen schon noch zwei, drei Jahren ein, wie man so hört! Das können sie mir doch nicht antun... es gibt doch keinerlei Beweis, keine Zeugen... es steht doch Aussage gegen Aussage!

Am Morgen des nächsten Tages wartete Will allerdings vergeblich darauf, dass man ihn holte. Der Vormittag verging schleppend, ohne Nachricht. Etwas stimmte da nicht! Das "Mittagessen" kam—er ließ es stehen. Dann endlich: schwere Schritte von mindestens zwei Wachen näherten sich seiner Zelle. Endlich holte man ihn. Alles, selbst die schlimmste Gewissheit, war besser als das Warten!

Im Gerichtssaal erwartete ihn dann aber eine freudige Überraschung: ein neuer Schöffe. Konnte er wahrhaftig ein solches Glück haben? Sollten die Götter so unverhohlen mit ihm gewesen sein? Jedenfalls war der rechte der beiden Schöffen—jener, welcher ihn schon abgeurteilt zu haben schien—am Vorabend gestorben. Im Kreise seiner Familie hatte der Mann beim Nachtmahl ein zu großes Stück Fleisch auf einmal verschlingen wollen, es war ihm im Halse stecken geblieben und er war daran, vor seiner Frau, dem Bruder, den eigenen Eltern und vier kreischenden Kindern elendig erstickt.

Für das Gericht hieß das: alles musste für den neuen Schöffen noch einmal vorgetragen werden, wenn auch in verkürzter Form. Für Will hieß es: eine zweite Chance. Eine zweite Verteidigungsrede. Aus dem Stehgreif leicht modifiziert, damit es nicht zu langweilig wurde für die, die sie schon gehört hatten—dadurch kam er auch an zwei, drei Stellen ein wenig durcheinander, was vielleicht sogar 'ehrlicher' klang als die gestrige, allzu glatte Version—jedenfalls meinte er gegen Ende hin, dass beide Schöffen ihn immer freundlicher ansahen und auch an den richtigen Stellen zustimmend nickten. Die beiden Schöffen, das würde ja schon reichen! Es kam ja nicht oft vor, dass diese es wagten, gemeinsam gegen den Richter zu stimmen, aber gelegentlich—und möge dies eine der Gelegenheiten sein!—gelegentlich kam es eben doch vor.

Als Will an jenem Tag abgeführt wurde, raste sein Herz vor Hoffnung. Auch der nächste Tag verlief günstig für ihn. Jedenfalls wurde das Gesicht des Richters immer länger und das von Violas Vater immer röter, immer verzerrter. Ja, fast glaubte Will die Freilassung in der Tasche zu haben! Morgen, morgen sollte die Entscheidigung gefällt werden. Und mit etwas Glück stünde er übermorgen schon wieder auf den Brettern, die die Welt bedeuten!

Die halbe Nacht lief Will in seiner Zelle auf und ab und probte seine Reden: die kurze Dankesrede an Carl, die "Ich bin wieder da, meine lieben Freunde" Rede im Tamburintheater und jene, mit der er das Publikum begrüßen wollte an seinem ersten Abend zurück...

Doch man holte ihn nicht. Am Morgen nicht, am Mittag nicht, der Abend kam und ging und noch immer wartete Will ohne Nachricht, ohne Erklärung, was denn jetzt schon wieder los sei.

Am nächsten Morgen kam der Inquisitor.


Eine neue Klage stünde im Raum, erfuhr Will, die nicht vor einem Schöffengericht verhandelt werden könne, denn es sei keine Zivilklage. Diese neue Klage, da schwerwiegender, habe nun erst einmal Vorrang; bevor sie nicht verhandelt sei, müsse das andere Verfahren pausieren. Bedingt durch die Schwere des Verbrechens—und weil es eben keine Zivilklage mehr, sondern die Stadt selbst der Kläger sei—habe man einen Experten mit der Befragung des Angeklagten beauftragt, damit erst einmal die Fakten ans Licht kämen.

Zu dem Zeitpunkt dieser Erklärung lag Will schon nackt auf der Streckbank, während Inquisitor Henslow bedächtig seine Werkzeuge auspackte und bereitlegte. Es war sehr warm in der kleinen Kammer. Zwei Feuer brannten: ein Holzfeuer im Kamin und ein Kohlefeuer in einem Becken gleich neben dem Inquisitor. Oh ja, es würde definitiv noch heißer werden für Will. Er wand sich verzweifelt. Er begriff nicht, wie ihm geschah. Er hatte doch nur getan, was jeder andere Mann an seiner Stelle auch getan hätte! Sich genommen was ihm derart wohlfeil angeboten worden war!

"Was denn nur?" murmelte er bestimmt zu tausendsten Male. "Sagt mir doch endlich: was soll ich bloß noch alles angestellt haben, welch unausprechlicher Schandtat beschuldigt man mich jetzt?"

Inquisitor Henslow nahm eine Zange, fischte damit ein glühendes Kohlestück aus dem Becken, und trat heran.

"Spionage", sagte er. "Ihr habt für die liurische Krone spioniert."

Will lachte. Es war kein frohes Lachen. Er wusste: mit ihm war's aus. Eine solch lächerliche Anklage! Niemand konnte das wirklich glauben. Es war ein abgekartetes Spiel, von Anfang an gewesen. Der Tod des Schöffen—aus Sicht der Verschwörer ein dummer Zufall, eine nicht vorhersehbare Komplikation—würde sie nicht abhalten von ihrem Plan, Will restlos zu vernichten.

Dann schrie er. Er schrie eine ganze Weile lang. Dazwischen antwortete er, so gut er konnte, auf Fragen, die keinerlei Sinn ergaben. Trank, was immer Henslow ihm vor die Lippen hielt. Sagte Ja, wenn Henslow es hören wollte; nein, wenn er Nein hören wollte. Auf diese Art kam Will relativ glimpflich durch den ersten Tag. Wie sich alles relativiert! Wie sich die Ansprüche eines Menschen herunterschrauben! Am Abend wurde ihm ein Zettel hingelegt; er unterzeichnete nicht. Am nächsten Abend bot Henslow ihm denselben Zettel zur Unterschrift an. Er rührte sich nicht. So ging es eine Woche lang. Als er dann am siebten Abend endlich seinen Namen darunter setzte, konnte er die Feder kaum noch halten. Die Aussicht aufs Schafott jedenfalls machte ihm keine Angst mehr.

Kaum hatte Inquisitor Henslow, was er wollte, heilte er Wills Wunden. Niemand außer ihm hatte Will in der ganzen Woche zu Gesicht bekommen; niemand außer ihm und Will wussten, dass das Geständnis durch Folter erzwungen worden war. Und niemand würde es Will ansehen können.

Wie praktisch, dachte Will. Das würd' ich auch gern können.


"Warum?" fragte Carl Orsino. "Warum nur hast du das unterschrieben?"

Statt einer Antwort, lachte Will. Für einen Anwalt konnte Carl manchmal ganz schön naiv sein. Er war noch jung—in Wills Alter, aber Will fühlte sich gerade doppelt so alt—er glaubte noch an das Rechtswesen, dem er sich verpflichtet hatte, auch wenn diese letzte Wende einen Keim des Zweifels in ihm gesät haben mochte.

"Damit haben sie uns völlig in der Hand! Das langt fürs Schafott, das muss dir doch klar gewesen sein!"

Will lachte abermals. Es war mehr ein Krächzen. Die Wunden waren verheilt; die Heiserkeit von einer Woche wie am Spieß schreien war geblieben. "Sie wollen mich nicht auf dem Schafott. Nicht wegen Spionage. Also raus damit, was hat man dir gesagt? Haben sie ein Angebot gemacht?"

Carl wurde blass und nickte. "Drei Jahre. Drei Jahre Zwangsarbeit im Steinbruch—das ist noch besser als die Minen!—aber du musst gestehen. Du musst ein öffentliches Geständnis ablegen, dass du Viola mit Gewalt genommen hast. Ein öffentliches, überzeugendes, ehrlich klingendes Geständnis."

Drei Jahre? Das konnte man überleben. Aber Will war misstrauisch.

"Warum nur drei Jahre? Ursprünglich wollten sie zehn. Wer sagt mir denn, dass der Richter mir nach meinem Geständnis nicht doch so viele verpasst? Da wähl ich lieber den schnellen Tod und die Welt möge Viola kennen als das Flittchen, das sie ist."

"Will, sei kein Narr!" rief Carl entsetzt. "Das Angebot, es ist das beste, was ich dir erhandeln konnte, und es gilt, der Richter gab sein Ehrenwort."

"Ehrenwort?" Will schüttelte sich vor Lachen, bis es nur noch husten konnte. "Ehrenwort?" keuchte er. "Ehrenwort?"

"Ja, Ehrenwort", sagte Carl ruhig. "Und er wird sich daran halten, denn so kann er dann für sich diesen Prozess in Erinnerung behalten: dass er ihn ehrenhaft beendet habe."

Will schlug sich auf die Brust in dem Versuch, das Husten zu unterbinden. Ja, das sah Carl vielleicht sogar richtig. Diese Bürger gaben immer schrecklich viel auf ihre "Ehrbarkeit." Er spuckte aus. "Und wie will er das begründen? Auf Vergewaltigung mit 'Folgen' stünden mindestens acht Jahre, hast du mir gesagt."

"Du musst sagen, dass du an dem Abend stark betrunken warst. Dass du die abweisenden Zeichen des armen Mädchens womöglich missverstanden habest..."

Will schüttelte nur den Kopf und barg das Gesicht in den Händen.

Drei Jahre Steine klopfen, das mochte er überleben, aber selbst wenn: alles wäre dahin. Sein ganzes Leben ruiniert. Die  Karriere, futsch. Seine Werke, oh, auch auf seinen Werken würden sie herumtrampeln! Auch diese würden, gemeinsam mit ihm, verurteilt, verachtet, verbannt und vergessen! Und was war mit all jenen, die er nun nicht mehr schreiben würde, oder selbst wenn doch, die niemand mehr würde spielen wollen? Sein Leben war nichts dagegen! Was war es schon wert ohne seine Kunst? Was war es wert, wenn er nie wieder auf der Bühne stehen durfte!

Andererseits würde sein Tod auf dem Schafott an all dem auch nichts ändern. Vielleicht konnte er ja, wenn alles überstanden war, ins Ausland gehen und dort neu beginnen? Überhaupt: Alles vergeht, nur die Kunst besteht!

"Also gut", sagte er. "Viola soll ihr Geständnis haben. Gib mir einen Tag dazu, Papier und Schreibwerkzeug. Es soll eine schöne Rede werden."

Und es wurde eine schöne Rede. Die mitreißendste, die er je geschrieben hatte. Er war Ramirez: "Öffne dich, Erde, zu meinen Füßen und verschlinge mich! Birg meine Schande, meine Untat, meinen Fehltritt vor der Welt!" Er war Sultan Farakir: "Vom Glück gesegnet möge sich schätzen, wer noch nie in Versuchung geführet ward, denn so ahnt er nicht die Zerbrechlichkeit seiner Rechtschaffenheit!" Er war Eduardo: "Ihr Götter! Dass ein Mann den flüss'gen Feind ins eigene Maul schütten sollt', damit das Hirn ihm der entwende! Dass wir—mit Freude! Wollust! Und Vergnügen!—uns selbst auf diese Art in Tiere transformieren!" Er war Barnabas: "Reue ist das Gift meiner Tage; Schlaflosigkeit das meiner Nächte!" Er war Claudio: "Oh, was Männer tun! Was Männer wagen zu tun! Was sie täglich tun ohne zu ahnen, dass es Sünde ist: Vergebt mir!" Am Ende hatte er fast sogar sich selbst davon überzeugt, dass er ein reuiger Sünder sei.

Doch weder Farakir noch Barnabas noch Claudio halfen ihm drei Tage später, als man ihn, in Lumpen gehüllt, in die Gefangenenunterkünfte des Strafarbeitslagers nur eine Tagesreise nördlich der Stadt stieß, wo man ihn als "den berühmten Schauspieler und Poeten William 'Kid' Marlowe" vorstellte und ihm schadenfroh empfahl, sich mit seinen "neuen Freunden" bekannt zu machen. Angesichts dieser "Freunde"—grobschlächtige, muskelbepackte, hämisch grinsende Hünen, die bei seinem Anblick die Knöchel knacken ließen, durch ihre Zahnlücken spuckten und langsam den Kreis um ihn schlossen—da nutzten ihm all seine Vorsätze nichts, da schlotterten ihm einfach nur die Knie, da beseelte ein einziger Gedanke seinen Geist:

Ich schaff das nicht. Ich schaff das nicht. Bei allen Himmels- und allen Sternengöttern, ich steh das nicht durch.

"Tut dir dein Bein Aua machen?" fragte eine Kinderstimme.

Will war die letzten Schritte gehumpelt und stand nun vornüber gebeugt und mit dem linken Unterarm auf die Mauer des Armenfriedhofs gestützt, während sich die Finger seiner rechten Hand in den Oberschenkel gleich unter dem Hüftknochen krallten. Sein Atem ging stoßweise. Das magere Bündel seiner Habseligkeiten—das aus einer Decke und ein paar alten Kleidungsstücken bestand, die Rosalind ihm ungeachtet der Weisung des neuen Direktors zugesteckt hatte—lag vergessen auf dem Boden, wo es ihm entglitten war. Seine ganze Konzentration war darauf gerichtet, den stechend-flammenden Schmerz wegzudenken, der in sein rechtes Bein gefahren war, als der Mann ihn mit dem Schubkarren angefahren hatte.

(Der Mann hatte seine Last weitergeschoben ohne Entschuldigung, ohne Will auch nur mehr als des flüchtigsten aller Blicke zu würdigen... Nun gut, er sah ja auch aus wie ein Bettler. Ein halbverhungerter, halberfrorener Bettler, oder vielleicht auch wie jemand, der für einen Kanten Brot töten würde.)

"Brauchst du Hilfe?" fragte das Kind. "Mich hat mal ein Fuhrkarren überrollt. Ich stand dahinter und dann ist das Pferd plötzlich rückwärts gegangen und ich lag drunter. Das hat auch ganz doll Aua gemacht."

Will öffnete die Augen. Zwei Jungen, vielleicht sechs und elf Jahre, standen ein paar Schritt von ihm entfernt und beäugten ihn neugierig. Der größere—wohl der Sprecher—kam etwas näher. Dabei zog er das linke Bein nach, das auf ungesund aussehende Weise in sich verdreht war. Der kleinere trug einen Laib frischen Brotes, den er mit beiden Armen an die Brust drückte, der ältere hatte gar zwei dabei, eins unter jedem Arm. Der Anblick—und der Geruch!—war wie ein Fausthieb in Wills Magen. In seinen leeren Magen.

"Geht schon wieder", presste er hervor und richtete sich auf. "Danke für das Angebot, aber der Schmerz lässt schon nach."

Nein, du wirst kein Brot von Kindern stehlen. Du wirst auch kein Brot von Kindern erbetteln oder ergaunern. Du wirst die Hilfsbereitschaft dieses Jungen, selbst ein halber Krüppel, nicht ausnutzen.

Die beiden trugen einfache, mehrfach ausgebesserte Kleidung und an den Füßen Schuhe. (Ausgetreten, fast am Ende, aber dennoch unverkennbar: Schuhe!) Ansonsten waren sie sauber, sogar gekämmt, und schienen—obwohl dünn—nicht unterernährt. Einen Kanten nur!

Die Hand schon ausgestreckt, zog Will sie zurück. "Wie heißt ihr denn? Mein Name ist Will."

"Pip", sagte der Junge und kam noch ein Stück näher. "Das steht für Phillip. Und das hier ist Frankie."

"Hallo Pip, hallo Frankie. Freut mich, euch kennenzulernen. Habt ihr beiden es weit? Soll ich euch helfen, die schweren Brote zu tragen?"

Wo ein freundliches, mitfühlendes Kind ist, sind vielleicht auch freundliche, mitfühlende Eltern, die ein wenig Arbeit für mich haben und zum Lohn dafür ein Abendbrot und ein trockenes, warmes Plätzchen für die Nacht.

Und so folgte Will—nun mit zwei Broten in dem einen und seinem Bündel im anderen Arm—den beiden Jungen, die ihn ein paar Straßen kreuz und quer aber immer in Richtung Stadtrand führten, bis man ein ehemals stattliches, nun aber heruntergekommenes vierstöckiges Haus erreichte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Will bereits Pips gesamte Lebensgeschichte erfahren. So wusste Will, dass er hier keine heile Familie erwarten durfte, aber vielleicht trotzdem einen herzlichen Empfang. So hoffte er. Was soll ich sagen. Bin halt ein Optimist.

Seine Eltern, so erzählte Pip, waren arme Bauern, die es sich nicht leisten konnten, jemanden durchzufüttern, der nicht zur Landarbeit taugte. Deshalb hatten sie ihn nach dem Unfall mit dem Fuhrwerk schnurstracks in die Stadt und dort in die nächste "Kinderfabrik" gesteckt, wo hunderte von Kindern von morgens bis abends für nichts weiter als Unterkunft und Verpflegung—beides erbärmlich—schuften mussten. In Pips Fall war es eine Kerzenfabrik, womit er "ja noch mal Glück gehabt habe." Die Arbeit dort war nicht ganz so hart wie in anderen Fabriken. Nachts wurden die Kinder in ihrem Schlafsaal eingesperrt. Nach acht Wochen gelang Pip aber die Flucht; eine Woche später lief er Lissie über den Weg. Und diese Frau war nun der Grund für Wills Optimismus.

"Das ist jetzt meine neue Mama", sagte Pip nämlich. "Und sie ist viel lieber als meine alte Mama."

Der kleine Frankie dagegen gab den ganzen Weg über keinen Ton von sich, guckte nur immer wieder schüchtern an Will hoch.

"Er ist taub und kann nicht sprechen", erklärte Pip schließlich. "Aber schreiben kann er. Und rechnen auch. Das bringt Lissie uns alles bei. Lissie ist schlau. Und lieb. Lissie ist die allerliebste."


"Raus aus meiner Küche!" schrie Lissie und hieb abermals mit der Bratpfanne in Wills Richtung. "Und raus aus meinem Haus! Wage es ja nicht, eins meiner Kinder anzufassen! Oder mich. Lüstling, Gauner, Vagabund!"

"Was!" rief Will empört. "Gar nichts davon bin ich! Ehrliche Arbeit such' ich für 'nen Kanten Brot!"

"Hinaus!" schrie Lissie. "Dir werd' ich helfen. Glaubst du, ich bin von gestern? Ich weiß genau, warum einer wie du sich an kleine Jungs ranmacht!"

Die Bratpfanne zischte gefährlich nah an Wills Gesicht vorbei. Etwas verspätet hob er die Hände vor sich und stolperte einige Schritte zurück.

"Ja doch! Ich geh ja schon! Nichts Böses hatte ich im Sinn. Noch weniger im Magen. Das ist es, was einen wie mich umtreibt!" Schritt um Schritt wich er den Weg zurück, den er gekommen war, und duckte sich dann, die erregte Frau nicht aus den Augen lassend, rückwärts zur Tür in den Hof hinaus.

Die Pfanne krachte scheppernd gegen den Türrahmen, kaum dass sein Kopf daran vorbei war.

Draußen sah Pip ihn mit großen Augen an. "Warum ist Lissie denn so böse mit dir?"

Will blickte an sich hinab: an seiner dreckigen, zerlumpten Kleidung, die ihm am abgemagerten Leib schlotterte; von den zerschundenen Händen bis zu den blaugefrorenen bloßen Füßen; auf die Handgelenke, welche von drei Jahren Eisenmanschetten geschwollen und gezeichnet waren; zuletzt all die sonstigen Narben entlang, die er davongetragen hatte, sei es beim Steineklopfen oder im Streit mit den Mithäftlingen. Auch die Nase war ein wenig schief, das wusste er, weil man sie ihm einmal zu oft gebrochen hatte.

"Weil ich wie ein Verbrecher aussehe", antwortete er. "Deshalb jagen mich alle davon. Beim Theater auch schon. Da ist ein neuer Direkter. Marcello, der alte Direktor, ist nämlich gestorben, und der neue hat verboten, dass mich wer einlässt. Rosalind und ein paar der anderen haben mir trotzdem ab und an was zugesteckt, aber ach, so kann's nicht weitergehen. Der Winter kommt, was soll ich bloß tun?"

Dies alles klagte er dem lahmen kleinen Pip, als sie gemeinsam über den Hof des Waisenhauses schlurften: Pip zog das linke Bein nach, Will das rechte.

"Du bist vom Theater?" fragte Pip. Sehnsucht lag in seiner Stimme. "Echt wahr? Bist du Schauspieler? Warst du nicht gut? Warum hat man dich davongejagt? Hat man dich wegen dem Bein davongejagt?"

Will lachte, als die Fragen aus Pip nur so heraussprudelten. Warum können Erwachsene nicht etwas mehr wie Kinder sein? Erst einmal vertrauen, nicht gleich Böses denken. Ein aufgewecktes Bürschlein jedenfalls! Ist näher dran an der Wahrheit als die neue Mama. Jetzt fasst er mich gar bei der Hand! Ist es nur kindliche Naivität oder spürt er die verwandte Seele in mir? Vielleicht verbindet uns der Schmerz. Vielleicht weiß er deshalb, dass er mir trauen kann.

"Ja, ich bin Schauspieler. Ich war einmal der beste Schauspieler in ganz Aradan! Soll ich's dir beweisen? Dann hol deine Freunde her. Ohne Publikum kann ein Schauspieler nämlich kein richtiger Schauspieler sein!"

Kurz darauf war Will von lachenden Kindern umringt. Ausgestoßen wie er, ungeliebt ein jedes von ihnen, mit ähnlichen Geschichten wie Pip sie hatte. Drei waren blind: für sie sang Will seine lustigsten Lieder. Fünf waren taub: für sie erfand er ein Schelmenstück, ganz Pantomime, und nannte es "Will ist still". Für den Jungen, der beide Füße verloren hatte, lief Will auf den Händen, was dieser darauf auch gleich ausprobieren wollte, kaum dass er zuließ, dass Will ihm ein wenig dabei half. Ja, so etwas lernt man halt nicht an einem Tag! Aber egal, wie oft der Junge umfiel, er wollte es noch einmal probieren. "Das sieht schon ganz gut aus", lobte Will ihn schließlich, "in ein paar Wochen wirst du's können!"

Als nächstes gab er für die Jungs, auf vielfachen Wunsch, Fabrizio den Fantastischen, Beschützer der Waisen und Retter aller Witwen. Darauf steckten die Mädchen die Köpfe zusammen und verlangten einstimmig, Will solle tanzen wie Prinz Tizian aus "Prinz Tizian und der goldene Apfel".

"Prinz Was?" entfuhr es Will. Er hatte ja gewusst, dass in seiner Abwesenheit das Theater vor die Hunde gehen würde, aber dass es so schlimm kommen sollte... Im Ernst? Tizian und der... Apfel?

Doch wenn sein Publikum es verlangte, dann wollte er auch Tizian sein. Und bald jauchzten und kicherten die Mädchen, als er elegante Pirouetten vor ihnen drehte, bis, ja, bis er eine falsche Bewegung machte und der Schmerz ihn so plötzlich, so stechend durchfuhr, dass sein Bein einfach unter ihm wegklappte und er sich keuchend auf dem Erdboden wiederfand, halb von Sinnen vor Pein.

Diesmal dauerte es doppelt so lange wie vorhin an der Friedhofsmauer, bis Will sich einigermaßen wieder unter Kontrolle hatte. Als er schließlich die Augen aufmachte und sich aufrappelte, das Gewicht nahezu vollständig auf dem linken Bein, sah er Lissie vor sich stehen. Sie hielt ein Messer in der Hand. Erschrocken taumelte Will zurück und versuchte zu erklären, dass Pip ihn doch nur gefragt habe, ob er Schauspieler sei, dass er doch nur...

Lissie rührte sich nicht. Sie hatte das Messer auch nicht erhoben. Sah ihn nur ganz merkwürdig an. Als er fertiggestammelt hatte, sagte sie: "Da hinterm Haus liegt ein Stapel Holz, das muss noch gespalten werden. Essen gibt's, wenn die Arbeit getan ist."

Damit verschwand sie wieder im Haus.


Und Will blieb bei Lissie und ihren Kindern. Nicht nur die eine Nacht, nicht nur den Winter über, auch das Frühjahr kam und ging. Bald teilten Lissie und er nicht nur Haus, Tisch, Arbeit und Sorgen, sondern auch das Bett. Er war nicht ihre große Liebe, sie nicht die seine, doch beide schätzten die Nähe des anderen, den Trost der zarten Berührung, die Schulter zum Anlehnen und das Ohr, das zuhörte. Die Kinder—um die zwanzig, so genau wusste Will das nicht, weil sie nie lange genug still standen, dass er sie zählen konnte—liebten ihn bald so sehr, wie sie Lissie liebten. Er brachte sie zum Lachen, aber er kümmerte sich auch um sie. Zusammen war man eine fast normale Familie.

Er erzählte Lissie von seiner Verurteilung. Dem unfairen Prozess. Was ihm angelastet wurde, was er wirklich getan hatte. Sie lauschte aufmerksam, aber sagte nichts dazu, strich ihm nur wortlos über das Haar, das Gesicht, die Brust, verzog keine Miene dabei. "Du glaubst mir doch?" fragte er unsicher. "Es ist dir nicht bloß egal, oder? Du glaubst mir doch?" Da lachte sie leise. "Ja denkst du denn, ich hätte sonst nicht längst die Bratpfanne rausgeholt? Denkst du denn, ich würde das hier tun, wenn ich dächte, du wärst ein Grobian, ein Schuft, ein Lügner?" Will hätte ja gern darauf geantwortet, doch das, was sie da tat, lenkte ihn erst einmal zu sehr ab, und dann waren seine Lippen und seine Zunge auch schon mit wichtigeren Dingen beschäftigt, als dass sie sich die Zeit für Worte hätten nehmen können.

Manchmal, wenn sie nachts beisammen lagen, hinterher, wenn die Kerze verlöscht war und das Feuer im Kamin niedergebrannt, erzählte er auch von der Zeit im Straflager. Wie die anderen Insassen sich daran ergötzt hatten, jemanden wie ihn, der von so hoch so tief gefallen war, unter sich vorzufinden. Wie sie ihn verspottet und verprügelt hatten, bestimmt ein Jahr lang, bis er sich nur noch gewünscht hatte, dass alles endlich vorbei sei, dass ein Steinschlag ihn treffen oder einer ihrer Hiebe endlich der letzte sein möge. Und doch hatte er sich am Leben festgeklammert. Doch war er aus jenem tiefsten Tal der Verzweiflung wieder emporgeklettert und hatte begonnen, sich zu wehren. Er erzählte Lissie sogar, dass er erst einen von ihnen hatte töten müssen—den schlimmsten—und seine drei Kumpane schwer verletzten, damit man endlich abließ von ihm.

"Die Wachen sind mir nie draufgekommen. Haben es mir gar nicht zugetraut. Den Tod als Unfall abgetan. Steinschlag eben. So sah es ja auch aus. Aber die anderen, die wussten, dass ich es war. Danach hatte ich mehr oder weniger meine Ruh."

Den Sommer über fand er regelmäßig Arbeit. Er brachte gut Geld ein. Die Schmerzen wurden besser, oder vielleicht lernte er auch nur, damit umzugehen. Er wurde wieder beweglicher. Selbst seine Finger wurden langsam wieder beweglicher, konnten endlich wieder eine Feder halten und halbwegs leserlich schreiben. Die Arbeiten, die er annahm, waren zwar noch allzu häufig Hilfsarbeiten, die jeder ungelernte Kerl besorgen könnte, aber immer öfter stand er wieder als Schauspieler auf einer kleinen Bühne. Zahlen konnte man ihm dort nicht viel, aber selbst wenn er nur drei, vier Vorstellungen in der Woche geben durfte, fühlte er sich halbwegs wieder wie ein Mensch.

Dann wurde es Herbst. Bald ein Jahr lebte Will inzwischen bei Lissie und den Kindern. Ihren Kindern. Seinen Kindern. Auch Will sagte inzwischen: unseren Kindern.

Und so war er eines Nachmittags trotz frostig-trüben Wetters fröhlich pfeifend in der Stadt unterwegs. Für den Winter war vorgesorgt, die Arbeit für den heutigen Tag getan, und morgen abend hätte er Vorstellung. Eine Premiere. Das Stück war von ihm. Sein erstes Stück seit "Tod eines Kaufmanns". Eine Komödie diesmal. Wegen der Kinder. Und für die Nachmittagsvorstellung am nächsten Tag hatte er, das sollte eine Überraschung werden, für sie alle Plätze besorgt. Lissie würde schimpfen wegen der Ausgaben... aber nur ein bisschen. Dann würde sie die leuchtenden Augen ihrer Kinder anschauen und vielleicht würden ihre dann auch ein wenig leuchten...

Aus diesen angenehmen Gedanken schreckte Will auf, als er angerempelt wurde. Gerade wollte er sich nach dem Rempler umdrehen, da ließ der altbekannte Schmerz ihn innehalten—und die schmale Hand mit dem Messer, die nach seinem Beutel griff und das Band, mit dem dieser an seinem Gürtel hing, tatsächlich schon zerschnitten hatte. Will packte zu und zerrte einen etwa zehn- oder elfjährigen Jungen hinter der Hausecke hervor, der sich mit Tritten und der freien Faust verzweifelt wehrte. In für die Jahreszeit viel zu dünne Lumpen war er gekleidet und natürlich barfuß. "Lass mich los!" rief der Junge und begann wie ein Rohrspatz zu schimpfen. Doch Will ließ nicht los, aber er schalt auch nicht, noch schlug er ihn, noch rief er die Wache vom nahen Marktplatz herbei. Er entwand ihm nur ruhig den Beutel, nahm eine kleine Münze heraus und drückte sie dem Jungen in die Hand.

"Kauf dir davon etwas zu Essen", sagte er. Dann dachte er kurz nach, bevor er eine zweite Münze hervorfischte. "Und davon geh morgen abend ins Theater bei der Linde und schau dir das Stück 'Zwei lustige Herren aus Venneris' an. Ach ja, und mehr Glück beim nächsten Mal!"

Er warf seinen Beutel in die Luft, fing ihn wieder auf, und steckte ihn darauf in eine Innentasche seines Wams. Dann ließ er den Jungen los und schlenderte gutgelaunt weiter.

Und stand drei Ecken weiter plötzlich Viola gegenüber. Sie sah fast genauso aus wie damals, als er sie das letzte Mal gesehen hatte—inklusive des schwangeren Leibes. An ihre Seite drängte sich ein kleiner, dunkelhaariger Junge, der etwa vier Jahre alt sein mochte. Am anderen Arm hing ein mit Einkäufen halbvoller Korb.

"Du", sagte Will. "Du."

Viola sah sich nach allen Seiten um. Man befand sich in einer engen, nahezu verlassenen Seitengasse. Ihre Augen weiteten sich.

"Geh mir aus dem Weg", sagte sie. "Ich warne dich, fass mich nicht an, sonst schrei ich." Dabei zog sie den Jungen enger an sich heran, entweder um ihn zu schützen oder sich selbst.

Will konnte sich noch immer nicht rühren.

"Wie heißt er?" fragte er, und als Viola nicht antwortete, beugte er sich zu dem Jungen hinab und fragte ihn selbst: "Sag mir, mein Junge: wie heißt du denn? Ich heiße Will. William Marlowe."

"Giorgio", antwortete der Kleine mit piepsigem Stimmchen, aber gewichtiger Miene. "Giorgio Fabio Henslow."

"Henslow?" rief Will und richtete sich wieder auf. Er sah Viola ungläubig an. "Jarvis Henslow. Inquisitor Jarvis Henslow?"

Viola antwortete nicht.

Da lachte Will laut heraus. "Ja, das erklärt mir so manches. Sag, hatte der Mann schon vorher ein Auge auf dich geworfen? Hast du ihn so dazu gebracht, ein Geständnis aus mir herauszufoltern? Oder war er am Ende einfach die beste Partie, die du noch machen konntest, als versehrte Ware?"

Viola antwortete noch immer nicht. Will trat näher. Sie trug auffallend viel Schminke. Das hatte sie früher nie. Besonders um die Augen herum hatte sie viel zu dick aufgetragen. Trotzdem sah man um ihr rechtes Auge einen dunklen Schatten durch die Schminke.

"Inquisitor Henslow ist Linkshänder, wenn ich mich recht erinnere, stimmt's?" Er sah Viola zusammenzucken, doch brachte es ihm keinerlei Befriedigung. Kurz schloss er die Augen. "Du und dein Vater", murmelte er kopfschüttelnd. "Was habt ihr euch dabei gedacht? Im Ernst, statt der ganzen Farce hättet ihr mir besser ein einfaches Angebot gemacht. Schlimmer als so wärst du dabei nicht weggekommen."

Jetzt war es an Viola, spöttisch zu lachen. "Mit einem Schauspieler? Ich? Was glaubst du denn. Ich bin eine Alberti. Jarvis Henslow ist eine gute Partie. Ein ehrbarer Bürger. An seiner Seite bin ich eine ehrbare Frau."

"Aber er respektiert dich nicht", sagte Will. "Warum nicht? Vielleicht weil er weiß, dass du ein Flittchen bist? Und wie ehrbar ist einer, der das Schuldgeständnis eines Unschuldigen durch Folter erpresst? Ihr Bürger habt da seltsame Vorstellungen."

"Für ihn warst du schuldig", zischte Viola. "Es hat ihn geplagt, die Vorstellung, dass du ungeschoren davonkommen könntest, nach allem, was du Schuft mir angetan hast, nur weil du fein reden kannst, nur weil zum falschen Zeitpunkt der Schöffe starb und der neue ein Dummkopf war, der sich von deinen hübschen Worten hat einlullen lassen..."

"Du hast also auch ihn getäuscht?" Will schlug sich auf den Schenkel. "Bravo! Sag, deinen Vater auch?"

Viola schnaubte nur und hob das Kinn ein wenig höher. Will deutete dies als ein Ja.

Da lachte er wieder, bevor er vor seinem Sohn in die Knie ging und dessen kleinen Hände mit den seinen umfasste.

"Wenn du groß bist, Georgie, versprich mir eins: werde Schauspieler. Alles andere wäre eine tragische Verschwendung deiner Talente, hörst du? Dein Vater war nämlich ein ganz großer Schauspieler. Wenn man ihn gelassen hätte, sein Name wäre so groß geworden, dass man sich in hundert Jahren noch an ihn erinnern täte. Und seine Werke! Oh, seine Werke wären unsterblich geworden. Deine Mutter aber, bevor sie geheiratet hat, die war noch besser als er. Deine Mutter hat, zu ihrer besten Zeit, deinen Vater an die Wand gespielt."

Nach diesen Worten strich er dem Jungen kurz über den Kopf, erhob sich und ließ die beiden stehen.


An jenem Abend lag er neben Lissie im Bett und dachte über das Leben nach, über das Schicksal und die Ironie. Als Lissie fragte, was los sei, antwortete er: "Ich habe heute meinen Sohn getroffen." Er sagte nichts weiter und sie fragte nicht weiter. Für lange Zeit blieb es still. Dann erzählte Lissie zum ersten Mal von sich. Wie es dazu kam, dass sie heute hier in diesem alten Haus in wilder Ehe mit einem verurteilten Verbrecher lebte und mit ihren Kindern, die sonst keiner haben wollte. Es war eine einfache Geschichte, in knappen Worten emotionslos erzählt. Sie handelte von einem Mann, der sein Versprechen nicht gehalten hatte. Eine Geschichte, wie sie auf der Welt tausendfach geschah, dass man sie alltäglich, gar banal nennen wollte, und doch brach jedes Mal ein Herz auf immer.

Will drehte sich zu Lissie hin und strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. "Ich verspreche dir nichts", sagte er leise.

"Ich weiß", erwiderte Lissie. Sie drückte ihn zurück auf das Bett und schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln, als sie über ihn glitt.

Es ist genug, dachte Will, während Lissie sich langsam auf ihn niedersinken ließ. Was wir miteinander haben, es reicht uns beiden zum Leben.


In der folgenden Nacht erhoben sich die Toten.


Wo war Will in der Nacht des Blutes? Auf dem Weg von der erfolgreichen Premiere seines Stückes im Theater bei der Linde nach Hause, mit beschwingtem Schritt und guten Gedanken, voller Vorfreude, Lissie und die Kinder am nächsten Morgen mit der Nachricht zu überraschen, dass er für sie alle Plätze im Theater für die Nachmittagsvorstellung hätte...

Er trug einen Sack voller Kostüme, Schminke, aber auch sein echte Lederrüstung (weil er einen Kämpfer spielte) und seine richtige Waffe, wegen der Gefahren des Weges. Doch mit einer solchen Gefahr, wie ihm in dieser Nacht begegnen sollte, hatte er nicht gerechnet...