So musste sich die Ermittlungsgruppe noch einmal aufteilen, um auch den finalen Akt der Vorstellung realisieren zu können. Dennoch hatten sie alle schon einiges über ihren unbekannten Gegner herausgefunden und ihm sicherlich seinen Plan durchkreuzt, der nur darauf hatte abzielen können, nicht nur Myron ein möglichst grausiges Ende zu bereiten, sondern auch die ganzen
Zirkus der Seltenen Wunder zu sabotieren und zu ruinieren. Es blieb abzuwarten, ob man alle Manipulationen hatte ausfindig machen können – und außer Gefahr war allgemein bestimmt nicht nur deswegen noch niemand, denn es war nicht auszuschließen, dass der Missetäter immer noch sein Unwesen auf dem Zirkusgelände trieb und weiterhin versuchen würde, Mitglieder des Zirkus in Gefahr zu bringen, zu verletzen oder sogar zu töten.
„Ich werde mich mit Kylie und Schneeflocke gründlich umsehen, während ihr in der Manege seid“, versicherte Tollpatsch, den das Ermittlungsfieber noch nicht verlassen hatte, als Nadeshja und Lavenia aufbrachen, um sich auf ihren Auftritt vorzubereiten.
[1] Es konnte sicherlich nicht schaden, sich ein wenig Zeit vor dem Auftritt zu nehmen, um ein letztes Mal in sich zu gehen, doch bis zum Ende von Mordaines Akt würden noch einige Minuten vergehen. So konnte Durbak für sich entscheiden, ob er sich jetzt schon mit den anderen Zwergenwerfern zu versammeln oder bei den Ermittlungen helfen wollte, bis seine Künste in der Manege gefragt waren.
„Macht euch keine Sorgen, wir schaffen das schon!“, versuchte Tollpatsch deutlich zu machen, dass niemand ein schlechtes Gewissen haben musste, der Vorstellung selbst in diesem Moment Priorität zu geben.
„Konzentriert euch auf euren Auftritt.“ Der Beagle selbst machte sich daraufhin daran, weiterzuschnüffeln. Zusammen mit denjenigen, die ihn begleiten wollten, suchte er die Tribüne auf, unter der die Schlangen entdeckt worden waren. Er kletterte über und zwischen den Gerüstbalken herum, bis er jeden Winkel davon erkundet hatte. Währenddessen war Mordaine gerade noch mitten mit ihrer Nummer beschäftigt. Staunende und ängstliche Laute waren aus dem Publikum zu vernehmen, als er mitfieberte.
„Hmm…“, zögerte Tollpatsch, gerade mal so laut, dass es seine Begleiter wahrnahmen.
„Komischerweise finde ich hier überhaupt nichts. Nichts Ungewöhnliches, jedenfalls. Hier riecht es nach Schlangen, und nach vielen unbekannten Zweibeinern… Was mich nicht wundert.“ Er blickte kurz nach oben auf den Unterbau der Tribüne, durch den man die Sitzbänke und die Beine der Zuschauer erspähen konnte.
„Aber ich glaube nicht, dass das uns weiterhilft. Eine konkrete Spur der Schlangen, die von hier fortführt, außer in Richtung Manege, kann ich auch nicht wahrnehmen. Es scheint fast so, als hätten sie sich nur zwischen dem Tatort und Tribüne bewegt. Ich glaube, sie sind nicht von selbst ins Zelt gekommen. Vielleicht hat sie jemand in einer Kiste oder so etwas hereingeschmuggelt, bei Myron freigelassen und auf ihn gehetzt. Das würde zumindest erklären, warum ich keine Schlangenspur finde, die aus dem Zelt heraus oder hineinführt.“ Er überlegte kurz und stieg dann wieder unter den Rängen hervor.
„Vielleicht führen uns aber die Ratten irgendwohin!“, hoffte der Hund und kehrte mit seinen Begleitern wieder in den Bereich hinter dem Vorhang zurück. Zusammen mit Schneeflocke erkundete er nochmal den Verlauf der Rattenspuren. Es wurde offenbar, dass wirklich überall in diesem Bereich des Zelts Pfotenabdrücke oder zumindest der Geruch von Ratten zu finden war. Sie mussten wirklich überall gewesen sein! Doch besonders gehäuft und geruchlich dementsprechend intensiv waren die Rattenspuren bei Myron, beim Netz der Kanbalis, aber schließlich auch bei der Ausrüstung der Zwergenwerfer und bei Mordaines Sachen, von denen die meisten allerdings ja gerade draußen in der Manege waren. Weitere Manipulationen außer denjenigen, die bereits entdeckt worden waren, oder auch Hinweise darauf, wer der Angreifer war oder wohin er verschwunden sein könnte, waren nicht ausfindig zu machen. Leider überdeckte der Rattengeruch auch beinahe jedweden anderen Geruch, der vielleicht einmal vorhanden gewesen war.
[2] Allein in der Nähe von Mordaines Ausrüstung konnten die Hunde etwas wittern, das Schneeflocke ein verunsichertes Knurren entlockte und von Tollpatsch in Worte gefasst wurde:
„Hier riecht es nach Qualm, Ruß oder so etwas. Aber irgendwie auch nicht. Es ist ähnlich dem Geruch von Durbaks Schmiede, wenn er Metall schmilzt. Und gleichzeitig auch anders. Ich bin mir nicht sicher, was es ist, aber es lässt mein Fell abstehen. Schneeflocke sieht es auch so. Es ist irgendwie feurig, aber nichts Natürliches.“ Zusätzlich war kurios an dieser Fährte, dass sie am inneren Rand des Zelts entlang zu einem der Ausgänge führte, die in Richtung des Lagers führten. Draußen verschwand der Geruch mit einem Mal, als hätte sich das, was ihn verursacht hatte, an Ort und Stelle in Luft aufgelöst – oder als wäre es davongeflogen.
Die Rattenspuren, hingegen, waren leichter zu verfolgen. Auch sie führten schlussendlich in Richtung Lager. Die Ratten mussten dorthin verschwunden sein. Tollpatsch konnte sie, so wie Schneeflocke es bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte tun können, einige Meter aus dem Zelt heraus in Richtung der Wagen und Zelte verfolgen. Dann hielt er inne.
„Wirkt irgendwie so als würden die Rattenspuren nun in alle Richtungen führen“, begründete er seine Unentschlossenheit. Auch Schneeflocke war sich ab hier nicht sicher gewesen, als Kylie ihm beim ersten Versuch bis hierhin gefolgt war.
„Ich schätze, sie wären wohl jemandem aufgefallen, wenn sie schwarmartig durchs Lager gerannt wären. Schließlich muss das geschehen sein, als Myron allein im Zelt und die meisten von uns dort drüben bei unseren Wägen waren. Aber sie könnten in der Zwischenzeit trotzdem für Chaos gesorgt haben… Nutzt der Magier ja vielleicht jetzt sogar die Gelegenheit, dass das Lager verlassen ist, um dort Unheil anzurichten?“
Mordaine wand sich in den ersten Augenblicken dramatisch im Wasser, als würde sie verzweifelt gegen ihre Fesselung ankämpfen. Tatsächlich war sie jedoch ganz in ihrem Element.
Dem Publikum wurde bereits jetzt angst und bange, da es unmöglich schien, dass Mordaine sich überhaupt nur noch ein bisschen rühren konnte. Die blonde Entfesslungskünstlerin war wagemutig, daran hatte niemand in der Manege und den Zuschauerrängen Zweifel. Doch zumindest die Mitglieder des
Zirkus der Seltenen Wunder wussten, dass sie nicht ganz so gründlich gefesselt war wie es den Anschein hatte. Ein lautes Raunen und eine Welle des Applauses schwappte durch die Menge der Bürger Abbertons, als Mordaine es schaffte, ihre rechte Hand aus dem Gewirr aus Ketten und Schlössern zu befreien.
Sofort tastete sie nach dem Schloss, das sie am besten erreichen konnte. Sie rüttelte für das Publikum daran, doch Eingeweihte wussten, dass sie in Wahrheit das eingravierte Zeichen betastete. Anschließend ließ sie sich, beschwert von ihrer Fesselung, auf die Knie sinken, um näher am Boden des Tanks zu sein. Sie begann, nach den Schlüsseln zu fischen. Natürlich durfte sie es nicht zu offensichtlich machen, dass sie nicht blind probierte, ob die Schlüssel ihrer Wahl passten. Das kostete Zeit.
Viel Zeit.
Jedes Mal, wenn sie es schaffte, ein Schloss zu öffnen, brandete Jubel durchs Publikum. Doch mit jedem Augenblick, der verstrich, wurden die Zuschauer zugleich unruhiger. Einige Zartbesaitete konnten schwer mit ansehen, welchem Risiko sich Mordaine aussetzte. Andere kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Minuten der wachsenden Anspannung vergingen – Minuten, in denen die meisten der Anwesenden wahrscheinlich schon längst ertrunken wären. Doch Mordaine blieb konzentriert und ruhig. Sie war geübt darin, lang unter Wasser zu bleiben, und die Panik zu unterdrücken, die einen jeden überkam, dem die Luft ausblieb.
Mit jedem Schloss, das sie öffnete, lockerten sich auch die Ketten, und sie konnte sich mehr bewegen. Dennoch hatten der Professor, Hod und auch die Gaukler sie genau im Blick. Die Situation könnte jeden Augenblick kritisch werden – denn sie hatte sich wirklich mehr vorgenommen als jemals zuvor. Schloss um Schloss, Kette um Kette sank zum Boden des Tanks, doch als Mordaine fast am Ziel war, schien es tatsächlich kurz so als würde sich ihr übergroßes Ego dieses Mal rächen.
Mordaine verlor immer mehr Zeit, während sie nach dem richtigen Schlüssel für das letzte Schloss suchte – denn scheinbar fand sie ihn zwischen den Schlössern und Ketten am Boden des Tanks nicht. Als selbst Hod diese Suche zu lange dauerte, sprang er alarmiert auf den Wagen, um Mordaine zur Hilfe zu kommen, doch sie wies ihn mit einem scharfen Handzeichen an, das ja nicht zu wagen. Aus dem Publikum waren verängstige Rufe zu hören, man solle sie dort herausholen.
Es dauerte weitere nervenzerreißende Momente, bis Mordaine den Schlüssel entdeckte und sich sogar noch die Zeit nahm, ihn triumphierend dem Publikum zu präsentieren. Allerdings schien es ihr dennoch langsam wirklich nicht mehr gut zu gehen. Ihre Hände zitterten stark und sie brauchte mehrere Versuche, um den Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken. Sofort, nachdem sie den Schlüssel umgedreht hatte und das Schloss mitsamt Kette von ihrem Körper glitt, stieß Mordaine sich mit ihren nackten Füßen am Boden des Tanks ab um schnell zur Oberfläche zu gelangen. Nun beeilte sich Hod, ihr den Deckel des Tanks zu öffnen. Glücklicherweise war die Manipulation dort entfernt worden.
Mordaine rang nach Luft, als sie auftauchte – und erntete schallenden Applaus.
[3]„Die Magierin“ brauchte einige Atemzüge, bis sie sich in der Lage fühlte sich von Hod aus dem Tank helfen zu lassen. Triefend nass und außer Puste, aber mit einem breiten Lächeln im Gesicht, trat sie zum Rand des Wagens und verbeugte sich die Schönheit vor der jubelnden Menge. Die Gaukler ließen sie das eine gute Weile genießen, bevor sie sich daran machten, den Wagen, diesmal mitsamt Mordaine, aus der Manege zu bringen. Hod blieb noch einen Moment zurück und sammelte all die Fesselutensilien ein, die noch in der Manege verteilt waren.
Die Musiker begleiteten Mordaines Auszug ausgelassen, bevor sie eine andere Fanfare anstimmten.
Der Professor trat erneut vor, nachdem er in der Zwischenzeit nachgeforscht hatte, wen er auftreten würde, diesmal für seine letzte Ankündigung des Abends.
„Verehrtes Publikum!“, sprach er die Menge heiser an, sobald sich die Lautstärke in der Manege wieder ausreichend gelegt hatte. Seine Stimme war im Verlauf der Vorstellung schon deutlich schwächer geworden. Doch er hatte es bald hinter sich.
„Es freut mich, euch nun, nach diesem wagemutigen Auftritt, einige unser besten Akrobaten und Artisten vorzustellen. Euch erwartet in unserem Finale das flammende Spektakel der Flamboni-Schwestern! …“ Auf ihr Stichwort, kamen Valana und Shalara Hand in Hand in die Manege geeilt. In ihren kunterbunten Kostümen bildeten die beiden rothaarigen Elfen für sich schon ein Spektakel für die Augen. Die noch nicht brennenden Fackeln, die sich bei sich hatten, würden schon bald wild durch die Luft wirbeln. Sie platzierten sich im linken Ring und verbeugten sich unter Applaus.
„Außerdem, unsere Herren der Lüfte und Körperbeherrschung – die Zwergenwerfer! …“ Die Mitglieder der inzwischen ebenfalls kostümierten Akrobatengruppe bevorzugten es nacheinander in die Manege zu kommen, damit jeder seinen eigenen kleinen Auftritt hate. Während die meisten von ihnen einfach winkend in den rechten Ring liefen, machte Lambert sich einen Spaß daraus, als Schlusslicht auf den Händen zu laufen und brauchte dementsprechend nochmal ein bisschen Extrazeit.
[4] „Und Mitte erwartet euch an diesem wundervollen Abend eine weitere Premiere! Weit ist sie gereist, aus dem hohen Norden von Irrisen bis hierher zu euch… Seht und staunt über die Einblicke, die euch die Weiße Hexe heute in ihre private Badestube gewährt!“ Tosender Applaus erwartete Nadeshja... nun gab es keinen Weg mehr zurück. Der Professor hatte sie angekündigt.
Abberton erwartete sie.
[5]