Das listige Lächeln verfehlte sein Ziel, denn Finlay hatte sich längst wieder dem Schacht zugewandt und einige Schritte daraufzu getan. Auch hallten in seinem Kopf noch Shiras Worte nach. 'Mir kann keiner vorwerfen, ich hätte ihn im Stich gelassen, als er in Not war!'
Oh, aber mir kann man das vorwerfen! Die eigenen Geschwister tun es bestimmt, und völlig zu recht. Giacomo, Luciano, Gemma und Leif. Fünf war der älteste, der jüngste kein halbes Jahr, da hab' ich sie im Stich gelassen!
Noch ein Schritt und er konnte in den Schacht hinabsehen, soweit das Licht aus dem Nebenraum denn hinabreichte. Finlay schnürte es die Kehle zu.
Da hinunter? Noch weiter hinunter? Noch tiefer das Grab, noch mehr Berg über mir, und Moderhauch statt Luft? Keine Straße, die die Schritte lenkt, kein Horizont, den Augen zum Trost, und nicht das kleinste Flüsschen weit und breit, aus dem mir Naderis Murmeln Mut zuspricht?
Er blickte auf seine Hände hinab. Sie zitterten. Gerade wollte er sich durchringen, Shira zu antworten, da drang ein Wort aus Nasreddins Rede zu ihm durch.
"Landstreicher!" Finlay fuhr herum. "So hätte ich mich vorgestellt: Landstreicher! Das glaubst du selber nicht! Gaukler, Zigeuner, Fahrendes Volk, so nennen wir uns, aber niemals Landstreicher! Wem die meinen ein Dorn im Auge sind, der heißt uns so, und setzt gleich noch nach: Diebe, Bettler, arbeitsscheues Gesindel! Und im selben Atemzug verbieten sie einem in diesem ach so freien Land, als Akrobat sein Geld zu verdienen! Wegen 'Bettelei' haben sie mir die restliche Habe genommen, als 'Scharlatan' aus ihrem Dorf geprügelt, als ich für ein paar Münzen Verletzte heilte: ja, was bleibt denn dann noch außer Stehlen oder Betteln oder Hungers sterben? Landstreicher!"
Inzwischen zitterte er am ganzen Leibe: vor Wut, könnte man denken, doch das war es nicht. Noch immer drückte der Berg auf seine Brust, nahm ihm die Luft. Doch der bunte Mann hatte nach seiner Göttin gefragt. Was tat der Kerl so, als hätte er vorhin nicht gehört, welchen Namen Finlay gerufen hatte?
"Wo kommst du denn her, Nasreddin, dass man Shelyn dort nicht kennt? Die Göttin der heiteren Liebe, die lacht und singt und lustig im Reigen tanzt, dabei hierhin und dorthin flattert, querbeet und einmal durch die Reihe, an einem warmen Frühlingstag, der die Vögel zwitschern lässt und die Poeten seufzend an ihrer Leier zupfen! Zumindest hier in Andoran scheint sie mir sehr bekannt, mehr noch als daheim in Brevoy, wo nur das Fahrende Volk sie so recht zu schätzen weiß. Und wer die heiter flüchtige Liebe kennt, der kennt auch die reine, die wahre, die treue, denn es kann eine Seite der Münze nicht ohne die andere sein:
Nichts kann den Bund zwei einig Herzen hindern,
Die für einander sind bestimmt. Lieb' ist nicht Liebe,
Die der Flattersinn könnt' mindern
Die endet, wo der andre Treue bricht.
O nein! Sie ist ein ewig festes Ziel,
Das Sturm, Klipp' und allen Wogen trotzt,
Ein Stern den Schiffen zum Geleit,
ohne den sie in die Irre liefen.
Lieb' ist kein Narr noch Knecht der Zeit,
ob der Liebsten Wangen auch verblüh'n
dies und mehr erduldet wahre Liebe freudig
bleibt treu, komm' Tod, Verderben und Verdammnis.
Sind meine Worte aber Wahnsinn oder Lüge,
Hat nie ein Dichter wahr gesprochen,
Hat nie ein Mensch auf Erden je geliebt.
Naderi ist der Name meiner Göttin. Sie steht für die wahre Liebe, und nicht die flatterhafte. Die Liebe, die alles riskiert, vor nichts zurückschreckt, die niemand aufhalten kann und die sogar den Tod überdauert."
'Sie werden es nicht verstehen', hatte Bruder Oldroyd ihm eingeprägt. 'Sie können es nicht verstehen; nur, wer es selbst durchlebt oder durchlebt hat, vermag auch nur ermessen, wovon du sprichst. Deswegen gibt ein Naderi-Priester sich niemals zu erkennen außer vor seinen Schützlingen. Von allen anderen droht ihm nur Schimpf, Schläge oder Schlimmeres.'
"Und im übrigen", fuhr Finlay fort, die Stimme hohl, den Blick auf eine Stelle vor Shiras Füße gerichtet, "sollten wir uns da unten auf einander verlassen. Misstrauen verleitet zu Fehlern, und Fehler können tödlich enden."