03. Zima - 49tes Jahr des Neubeginns - Yevgeni-und-Marija-Popowkowitsch-Park - Arbamanka - 19:43 Uhr
Als die Figur sich durch den Nebel schälte, dieses merkwürdige Kind elfischer Gestalt, verengten sich die Augen von Dschaba für einen Moment, seine Arme verschränkten sich unwillkürlich und Zweifel schlichen über seine Schläfe. Kurz schien es, als würde er eingreifen, als der Junge bereits seine merkwürdig entrückte Prophezeiung von sich gab.
Doch dann glaubte er den Zusammenhang zu verstehen. Niemand, der nicht die Position der Statue, von Sawelij und ihm vor seinem Zauber gekannt hätte, hätte durch den dichten Nebel, durch den nicht zu sehen war, den Weg zu ihnen so direkt gefunden. Es muss also jemand gewesen sein, der sie beobachtet hatte. Was Dschaba Ebanoidze jedoch wirklich einhalten ließ, war auch das Verhalten seiner großen, blinden Dogge, die nicht einmal wirklich auf das Kind reagierte, nicht mehr als ein aufmerksames Schnüffeln von sich gab
[1]. In Dschabas Blick war auch eine gewisse Bereitschaft, es einfach geschehen zu lassen. Er hatte einen Weg beschritten, der Sawelij seine freie Wahl ließ, und so würde er wohl kaum eingreifen - zumindest nicht körperlich - wenn Sawelij sich gegen den Schwur entschied.
Der Elf jedoch ließ sich nicht von dem Jungen, der ihn so eindringlich und wahrscheinlich doch befremdlich und rätselhaft vor der Zukunft warnte, fortziehen, befreite sich aus dem Griff und sprach seinen Teil des Schwures.
Ein wonnigliches, schweres Gefühl durchströmte den elfischen Mann, als er seinen Schwur mit der Hand auf der Statue sprach. Eine wohlige, ermattende Wärme ging von ihr aus, legte sich wie ein schützender Mantel über den Elfen. Ein unsichtbare, immaterieller Mantel, so dick, dass er für einen Moment die klirrende, frierende Kälte des kalten Demjanowkas vergaß, verloren in einem weißen Nebel, der zunehmend seine verschwommenen Konturen änderte.
Rötliche Magie griff aus den vier Händen der Statue aus, verband sich mit dem weißen Nebel und färbte die von der Außenwelt abgeschnittene, für Demjanowka unsichtbare Szenerie in ein rotweißes Zwielicht, welches alle Gesichter benetzte. Selbst der feuchte, leicht frierende Nebel schien zu magischen Dampf zu werden. Schweiß vor Wärme stand nun auf den Gesichtern von Dschaba, Sawelij und auch Djirris in seiner jetzigen Form. Mächtige Magie wirkte sich hier, griff über auf die Sinne der dort stehenden. Die Augen wurden schwer, der Blick brach vor Müdigkeit, während der Nebel fortwährend seine Konturen änderte, zwischen ihnen, unter ihnen, über ihnen, um sie herum wabernd. Und aus der Unschärfe allgegenwärtigen, doch verschwommenen Brodems schälte sich ein nebliger Schatten.
Dieser umwitterte sie, umschmiegte sie, griff sanft und ängstlich nach Händen, und blieb doch konturlos genug, um nur den Schemen eines Mannes darzustellen. Der Schemen schien ungebeugt von Arbeit und streckte eine gute sichtbare Hand durch den Nebel, als würde er stolz zeigen wollen, dass noch alle Finger an seiner Hand waren. Ein archaischer Beweis dessen, dass auch die Schwurfinger noch an dem Platz waren, an dem sie zu sein hatten
[2].
Der Schemen blieb nun zwischen ihnen stehen, sie weiter umwittend. Der Nebel schien jetzt alle Geräusche von draußen zu schlucken, nur das leise Knurren des blinden Hundes drang noch an ihre Ohren. Ein Knurren, welches nicht von Stärke und Verteidigung kündete, sondern von sorgsamer Angst.
Dschaba, nun so stark schwitzend, dass perliger Schweiß seine Schläfen herablief, blickte etwas sorgenvoll zu dem Schemen. Doch er schluckte seine Bedenken, seine Furcht, die ihn ins Antlitz gemeißelt schien und seine freundliche Selbstsicherheit wie alte Kosmetik hinfortwischte, herunter. Er ergriff Sawelijs ausgestreckte Hand und nickte ihm zu. Dankbar, dass dieser den Schwur geleistet hatte, unterstrich er das durch einen kräftigen Händedruck.
Der Mann im Brodem hatte den Elfen, den Ratling in Form des Elfenjungen und den Anführer der Psina ausgiebig betrachtet. Weiterhin blieb nur seine fünffingrige Hand deutlich sichtbar. Noch schwieg der Mann im Nebel, während der Psina langsam wieder zu Worten fand und mit einer Hand versuchte, den knurrenden Hund zu beruhigen.
"Verantwortung, du siehst sie richtig, Sawelij, und gleichzeitig falsch. Wenn mein Handeln mit deinem verbunden ist, wird mein Handeln als das deine gesehen werden, sodass ich dein Vertrauen nicht gänzlich enttäuschen darf. Wenn jedoch nicht klar ist, dass mein Handeln dein Handeln ist, wird dein Handeln im Hintergrund als mein Handeln gesehen werden. Das entbindet dich, und das siehst du richtig, nicht von der Verantwortung, dass du deine Hände selbst mit Blut beschmierst, wenn du mich für Blut und Mord einsetzt. Dieser Schwur ist nicht dazu, dein Gewissen zu entlasten. Aber dieses wird uns dem Ziel, die Bonzen zu besiegen, unsere Leben zu retten, näherbringen. Ich weiß es."Dschaba blickte zu dem Elfenjungen. Zwar war die Selbstsicherheit in Anbetracht des Schemens gewichen, doch immer noch fand Dschaba genug Nonchalance, um dem Jungen zuzuzwinkern.
"Und was ist mit deinem Gewissen, Junge. Verstehst du, was du eben sagtest? Was tust du nun, da die Nebel rot werden, ohne dass Blut vergossen ist? Noch nicht vergossen ist..."Die Augen des Psina glitzerten im rötlichen Zwielicht des warmen Nebels, wandte sich wieder an Sawelij.
"Auch dein..." er betonte das nächste Wort fast schelmisch
"...«Neffe» gehört dann sicherlich jetzt deinem, unseren Rudel an. Der Schwur ist getan und..."Der Mann im Nebel schnitt mit einfacher Geste Dschabas Worte ab. Der Mund des Mannes bewegte sich, doch seine Worte wurden vom Nebel verschluckte, drangen an niemandes Ohr, was Dschaba irritiert innehielten ließ.
"Ich nehme euren Schwur an.", flüsterte die Gestalt fahl und nur verständlich, da der Nebel auch das leise Knurren des Hundes verstummen ließ.
"Dieser Schwur ist ein Schwur des Blutes - und so wie der Verlust von Blut schwächt und bis zum Tode führt, ist der Schwur wie euer Blut. Vergießt ihr den Schwur, vergesst ihr ihn, dann werdet ihr schwach und solltet ihr dann von ihm weichen, werdet ihr sterben. Denn so beschlossen es die Alten, als sie die Grenzen der Magie gesprengt hatten durch die Macht der Schwüre. Niemals solle ein Schwur leichtfertig gesprochen werden.
Nie soll ein Schwur ohne Konsequenz sein.
Nie darf Macht ohne Verantwortung sein.
Nie darf Feuer sein, ohne dass etwas verbrennt.
Nie darf etwas wachsen, ohne dass etwas stirbt.
Alles hat seinen Preis."Die Hand schnellte aus dem Nebel und suchte Sawelij zu berühren. Zielsicher und so schnell, dass der Elf nicht einmal reagieren konnte, legt sich die halb manifestierte Hand auf die Stirn des Elfen
[3].
"Doch mit diesem Preis kommt auch Kraft. Du - Sawelij Alagos - hast einen Schwur der Führung geschworen. Du wirst dieser Stadt und diesen Bewohnern ein besseres Schicksal erschaffen - oder du wirst bei dem Versuch sterben, denn es liegt in deiner Macht dies zu tun."Sawelij schwitzte jetzt auch, konnte spüren, wie brennende Magie durch ihn floß und ein Feuer in ihm entfachte, was er lange nicht mehr, vielleicht noch nie gespürt hatte. Er spürte, wie ein neues Selbstvertrauen in ihm erwachte. Eine Gewissheit, dass Mensch, Elf und Ratling seinem Wort folgen würden, wenn er es mit Bedacht und Sicherheit wählte.
"Doch bedenke, alles hat seinen Preis![4]"Der Schemen griff ebenso nach Dschaba, und berührte ihn auf der Stirn.
"Du hast den Schwur eines Vasallen geleistet. Du wirst Sawelij folgen und ihm in seinem Vorhaben dienlich sein. Du wirst helfen, dieser Stadt und diesen Bewohnern ein besseres Schicksal zu erschaffen - du wirst jedoch nicht nur bei dem Versuch sterben. Dein Tod - zu gegebener Zeit - ist der Preis für eine freie Stadt, Hund."Dschaba brüllte vor Schmerz auf, als die brennende Magie durch seine Adern floss und Schrecken und zügellose Angst verzerrten das Gesicht des Mannes, der alsbald vor Pein in die Knie ging. Tränen der Mater liefen über seine Wangen.
Nun wandte sich der Schemen zu dem Elfenjungen. Seine Hand umspielte den Nebel um das Gesicht von Djirris, jedoch ohne ihn zu berühren. Es ist beinahe so, als spürte er die Berührung der Hand, leicht stellten sich seine Härchen auf. Er spürte die brennende Wärme dieser Hand, als würde er zu nahe an einem Schmelzofen stehen, und doch spürte er auch, dass die Wärme diese Hand nun verließ. In den Nebel, in das Nichts?
"Deine Rolle...wird eine amüsante sein.", flüsterte der Schemen und dann begann der Schemen seine Kontur zu verlieren, sich im Nebel aufzulösen, der sich dann zu lichten begann.
Kälte umfasste nun wieder die noch Schwitzenden, die just noch im Nebel gestanden hatten. Dort wo der Nebel gewirkt hatte, zauberte die eisige Kälte nun bunte Eisrosen an die Fenster, die Steine, die Statue, welche alle Wärme wieder verloren hatte. Dschaba schluchzte und kämpfte sich zurück auf die Beine. Seine Kleidung war tatsächlich magisch, denn obwohl er in Unrat kniete, blieb sie reinlich. Doch sein Gesicht war nicht magisch, sondern zutiefst menschlich. Der Schmerz war noch nicht wieder aus diesem Antlitz gewichen und er sah nun aus, als wäre er fünf Jahre gealtert. Furchenartige Falten hatten sich durch Stirn und Wange gezogen. Er riss sich zusammen, auch wenn zu sehen war, dass er mit seinem offenbarten Schicksal mehr als haderte. Als hätte er sich - oder jemand ihm - etwas anderes davon versprochen. Seine Stimme war noch etwas brüchig, als er seine Kleidung zurechtrückte und seinen Hut zurechtschob.
"Du bist jetzt der Alpha der Psina.", irgendwie klang bittere Enttäuschung in seinen Worten mit, obwohl nicht deutlich war, ob es mit der Prophezeiung oder seiner abgetretenen Position zu tun hatte.
"Was willst du jetzt tun? Ich weiß, das ist eine schwere Frage, deswegen sage ich, was ich für geboten hielte. Du hast entweder die Wahl, die Psina selbst kennenzulernen. Dann lasse ich sie rufen, und wir erklären ihnen, wie es nun ist und die erklärst ihnen, wie wir die Stadt zu einem besseren Ort machen. Oder du nutzt mich als Delegierter, der die Psina weiter anführt. Dann machen wir aus, wie wir die Stadt bessern, du behälst eine relative Unabhängigkeit und suchst auf deine Weise nach Wegen, wie wir fortfahren und ich übernehme den Part der Psina." Dschaba rieb sich die Nase und bemerkte, dass er leichtes Nasenbluten hatte. Erschrocken blickte er auf das Blut, welches er auf den Anzug rieb, der es wie von magischer Hand verschwinden ließ. Sein Blick fiel auf den Elfenjungen.
"Und was ist mit dir? Was machen wir mit dir, der du nun die Wahrheit kennst über uns? Bist du Freund oder Feind? Bist du feig oder kühn? Wieso wichst du, als du die Wahl hattest, das Schicksal der Stadt auf dich zu nehmen?[5]"Dschaba ging zwei Schritte von der Statue weg, seine Dogge stand auf, sie knurrte seit dem Verschwinden des Nebels nicht mehr, und trottete ihm hinterher. Dschaba schenkte der Statue keine Beachtung mehr, als würde er sie absichtlich ignorieren oder nicht mehr sehen wollen. Immer wieder tastete er nach seiner Nase, doch die Blutung hatte inzwischen nachgelassen. Er fröstelte nach der Hitze der letzten Sekunden etwas.
"Wofür du dich auch entscheidest; ich will dir sagen, was mein nächster Schritt gewesen wäre, Sawelij. Ich glaube nicht daran, dass die Zukunft der Stadt darin liegt, die Produktionsmittel zu zerstören oder einfach nur zu stehlen. Die armen Bewohner, die arbeitenden Bürger, müssen sie an sich nehmen, aber mit Überzeugung und auf breiter Basis. Doch Worte werden allein niemanden überzeugen. Jede Bewegung braucht Speerspitzen, jede Bewegung braucht Taten, um politische Vorstellungen greifbar und erlebbar zu machen. Ich rede nicht von Demonstrationen auf den Straßen, damit wir an den Häusern der Bonzen vorbeimarschieren, als wären wir eine lächerliche Engelsprozession." Eine unterschwellige Wut schwang in den Worten von Dschaba mit.
"Ich glaube auch nicht daran, dass wir eine bessere Welt erleben, wenn wir würdevolle Armut predigen. Deswegen wollten die Psina ein Zeichen setzen."Er schnalzte etwas und blickte sich auf dem Hinterhof um, durch die Ausgänge, welche in die mondbeschienene, dunkle Stadt führten. In den Himmel, an dem Dampfschwaden der nahen Industrie vorbeizogen, doch der ansonsten sternenklar und eisig kalt war. In der Ferne war das Horn eines abfahrenden Zuges zu hören, betrieben von Kohle und Magie. Er blickte in die Fenster, in denen die Stadt eben noch gelauert hatte und aus denen noch einige Bewohner ungläubig gafften, auf die Überreste der Szene, die sie wahrscheinlich nicht verstanden.
"Koura - sie wird auch die Welt in der Faust genannt. Die Faust ist das entscheidende Zeichen. Die Faust steht nicht nur für Gewalt, sondern auch für Entschlossenheit. Mit jener Entschlossenheit..." seine Worte wurden leise genug, dass weit entfernte, wenn auch aufmerksame Zuhörer die Worte nicht vernehmen konnten, Djirris und Sawelij schon.
"...wollte ich mit den Psina zeigen, dass wir die Zukunft sind; und wer an jener besseren Zukunft partizipieren kann, wenn er nur will. Die Zukunft, technologisch weist am ehesten das E-Werk in Kurzewo daraufhin. Das wäre das Symbol, dass das große Zeichen wäre, wenn wir es besetzten. Mit der Faust der Psina den Bürger zeigen, wozu sie gemeinsam gegen die Bonzen in der Lage wären. Da ist woran ich arbeite. Du magst dem folgen oder du magst eigene Ideen für uns entwickeln, Alpha Sawelij. Aber ich schlage vor, dass wir - nicht jetzt, doch bald - das Heft des Handelns in die Hand nehmen."Dschaba spuckte aus, ein Klumpen Blut, den er hochkeuchte. Noch immer steht der Schmerz in seinen Zügen. Ungläubig blickt er auf das Blut vor seinen Füßen, dann jedoch zu den beiden Elfen. Langsam kehrt die Entschlossenheit in seinen Blick zurück. Und auch wenn er seine Hände vor Kälte in die Hosentaschen gesteckt hat. Es ist zu sehen, dass er sie zu Fäusten geballt hat...