Nachdem Abdo die ihm noch unbekannte kleine Nachbarhöhle, in welcher der bewusstlose Tristan mit dem Kopf auf Ninaes Schoß gebettet lag, erkundet und dann in der Nähe des Falls ein paar Atemzüge frischer Luft genossen hat, nebst den herrlichen Ausblick auf ein Stück sonnenhellen Himmels, kehrt er in die düstere Höhle des Abtes zurück auf der Suche nach Antworten.
Aber das sagt sich leicht. Ein wenig missmutig stapft er in der Höhle umher.
Rogar folgt ihm schweigend auf dem Fuß, schaut allerdings nur oberflächlich, nicht so interessiert wie man es von ihm gewohnt ist. Der Zwerg blickt auch noch recht benommen und vielleicht sucht er rein instinktiv die Nähe des Kameraden, mit dem er zuvor Seite an Seite ums nackte Überleben kämpfte.
War das jetzt also dämonisch, was die Mönche in diese Kreaturen verwandelt hat, oder nicht? Das war so wenig zu erkennen, wie man einem Toten seinen Mörder ansieht. Dass Menschen, die sich längere Zeit in der Nähe von Dämonen aufhalten, schreckliche Verwandlungen durchmachen, schließt ja nicht aus, dass auch andere Dinge dafür verantwortlich sein können, von denen Abdo noch nie gehört hat. Hier in Dalaran gibt es viele Wesen, die es in Ya'Kehet nicht gibt, und selbst die Menschen haben für ihn unerklärliche Fähigkeiten!
[1] Magie. Talahan schien ja wenig Zweifel daran zu hegen, dass sie für die Geschehnisse hier verantwortlich sei. Und Freydis hat zwar wütend ob dieser indirekten Anschuldigung geguckt, aber nicht widersprochen. Weil sie sonst immer recht eifrig widerspricht, ist Abdo geneigt, ihr Schweigen als Zustimmung zu werten.
Aber kann man hier überhaupt von
Verwandlung sprechen, wenn die falschen Mönche nur aus den Leibern der echten geschlüpft sind?
[2] So denkt Abdo, als er von einer Leiche zur nächsten zieht und sie gründlich betrachtet und untersucht. (Noch immer folgt ihm der Zwerg.) Zunächst die beiden in Halfirs Höhle nahe dem Felsspalt, der zur kleinen Nachbarhöhle führt.
[3] Der rechte der beiden gleicht, trotz der ausgezehrten Gesichtszüge, einem der beiden Erschlagenen am Bachufer wie ein Zwilling (dem zweiten fehlt der Kopf); unter den restlichen sechs erkennt Abdo mindestens drei, vielleicht sogar vier der Schreiber aus dem Skriptorium. Aber weder Edgar noch Jarus noch Abt Halfir entdeckt er unter den Leichen. Wohl aber stößt sein stiller Begleiter plötzlich einen schnaufenden Seufzer aus, auf einen der Toten deutend, und spricht:
"Das ist Bruder Wulfhart. Der Infirmar." Sofort erscheint der Anblick, den man in dessen Stube vorgefunden hat, in lebhafter Deutlichkeit vor Abdos innerem Auge: die beiden Jungen, einer fast noch ein Kind, mit durchschnittener Kehle—ein Gnadenwerk ihres Lehrmeisters, das sieht der Ya'Keheter nun wohl ein, wie er auf dessen grauslichen Überreste blickt.
Nachdem schließlich alle Leichen untersucht sind, fällt ihm etwas auf. (Beweisen lässt es sich natürlich nicht, weil sich durch
Abwesenheit niemals eine
Nichtexistenz belegen lässt.) Jedenfalls bringt ihn seine Beobachtung, dass eben genau diese Leichen fehlen, auf eine Idee: Halfir, Edgar, Jarus, kann es sein, dass diese vielleicht nicht
geschlüpft sind, sondern tatsächlich
verwandelt wurden, alle auf einen Schlag, in der Sturmnacht? Wenn es stimmt, was Tristan in der Kapelle meinte: dass Edgar und Jarus während der Andacht den Abt umstanden, zusammen mit Wulfhart und einem weiteren, als Halfir von jenem unnatürlichen Blitz getroffen wurde, welcher daraufhin auf die Umstehenden übersprang: auf den Bibliothekar, den Pilgervater, den Novizenmeister—nur der Infirmar habe sich offenbar durch einen Sprung in den Treppenaufgang zum Turm retten können.
[4] Und Freydis hat danach zugegeben, dass sie schon von Zauberern gehört hatte, die mächtig genug für eine solche Tat waren, auch wenn sie dann doch lieber Dämonen am Werk vermutete.
Nun gut. Für Abdo sieht es ja auch irgendwie
dämonisch aus, die ganze Sauerei hier. Sagt ihm sein Bauchgefühl. Auch wenn der Kopf widerspricht: eigentlich kann es nicht sein, nicht innerhalb weniger Tage, Verwandlungen dieser Art ziehen sich über Monate hin, eher Jahre!
Magie. Das ist die Unbekannte, die er nicht einschätzen kann. Daheim gibt es so etwas nicht. Wenn die Kämpfer aus einer Schlacht gegen Dämonen mit Brandwunden heimkehren, dann weiß man alchemische Brandbomben verantwortlich.
[5] Ein Vorfall wie der in Ninaes Kerker vorhin hätte in Ya'Kehet eine vernünftige Erklärung, etwa dass die Betroffenen Dämpfe oder Düfte eingeatmet hätten, Pheromone oder Psychogene, deren Wirkung wissenschaftlich erforscht und empirisch belegt sind. Und doch, so skeptisch Abdo zunächst war, lässt es sich doch nicht leugnen: vieles von dem, was er heute hier mit eigenen Augen bezeugt hat, lässt sich nicht durch Wissenschaft, wohl aber durch Magie erklären.
Da stellt sich doch die Frage: Vielleicht wirkt hier beides zusammen, Magie und Dämonenwerk?
[6] In Ya'Kehet hat er von Menschen gehört—gesehen hat er sie selbst noch nicht—die unter dämonischen Einfluss geraten waren oder diese gar wie Götter verehrten. Was würde nun also passieren, wenn jemand wie Lîf oder Freydis unter diesen Einfluss geriete? Dazu fielen ihm Talahans Worte dem Bibliothekar gegenüber wieder ein: "Ich weiß, Ihr habt hier einer der größten Sammlungen verbotenen Wissens in ganz Fersland. Als ich vor zehn Jahren hier war, hat sich besonders ein Bruder Meirik dafür interessiert. Vielleicht ist ihm in seinen Studien ein ähnlicher Zauber, wie er gerade in Ansdag geschieht, schon untergekommen. Wenn also Pater Halfir nicht zu sprechen ist, dann lasst doch bitte Bruder Meirik kommen."
[7] Da Abdo zu jenem Zeitpunkt die Existenz von Magie noch nicht in Betracht zog, hat er diesen Worten wenig Bedeutung zugemessen. Außerdem wusste er da auch noch nicht um den hiesigen Religionsstreit! Kräuterweiber, die als Hexen verbrannt oder erdrosselt werden, weil sie die Erde als Muttergöttin anbeteten; Zauberinnen, die ihre heilenden (!) Kräfte ängstlich verbargen, aus Furcht vor ebensolchem Schicksal. Sprich: erst jetzt versteht Abdo, was Talahan mit 'verbotenem Wissen' meinte. Magisches Wissen.