Sobald Kylie ihre Erkenntnisse mit Elizia geteilt hatte und dieser klar war, dass Herr Tickles schon bald wieder gesund sein würde, fiel der Schlangenbeschwörerin ein enormer Stein vom Herzen. Ihre Tränen versiegten schlussendlich und machten Platz für ausgeprägte Entschlossenheit.
„Wir dürfen nicht zulassen, dass die Vorstellung ein Desaster wird“, stimmte Elizia Kylie zu.
„Wenn deine Mixtur es schafft, dass es Herr Tickles besser geht, werde ich mit ihm auftreten. Wir haben alle so viel für den heutigen Tag investiert… Wenn wir nun aufgeben, geben wir demjenigen, der hinter diesem hinterhältigen Angriff auf uns steht, nur das, was er oder sie will. Ich werde mich nun nicht verstecken wie ein verängstigtes Mäuschen. Einem Mörder und Tierquäler will ich mich nicht beugen.“Sehr viele Artisten und Arbeiter des
Zirkus der Seltenen Wunder hatten in ihrer Vergangenheit schon viel Leid und Ungerechtigkeiten erfahren. Gerade heute, der Tag ihrer ersten großen Vorstellung, hätte eine ausgiebige Feier ihres besseren neuen Lebens sein sollen. Zwar hätte der Mord an Myron auch an jedem anderen Tag für Chaos, Trauer, Angst und Verunsicherung gesorgt, jedoch war gerade der heutige Zeitpunkt schätzungsweise besonders traumatisierend und perfide. Doch Kylies Hilfe hatte Elizia aus dem tieften Loch der Verzweiflung herausgeholt. Die Schlangenbeschwörerin war motiviert, nun stark zu sein – stark für alle, die noch nicht dazu in der Lage waren. So verfolgte sie Kylies Handgriffe beim Zusammenmischen der Salbe und Tinktur für Herr Tickles sehr interessiert.
„Wahrscheinlich hast du nichts Böses geahnt“, sprach Elizia zu Herr Tickles, als Kylie schlussendlich die Tinktur fertiggestellt hatte. Sie kletterte auf den muskulösen Körper der Anaconda und versuchte, diesen möglichst gut zwischen ihren Oberschenkeln zu fixieren.
„Wie ich dich kenne, hast du es vielleicht sogar als Streicheleinheit missinterpretiert, als dein Angreifer dich angetatscht hat, nicht wahr?“ Die folgende Prozedur verstand Herr Tickles allerdings nicht als solche. Er begann sich zu winden und sich protestierend um Elizias Beine zu wickeln, als sie ihn mit einem geübten Griff dazu zwang, das Maul zu öffnen. Zischend versuchte Tickles, seinen Unmut deutlich zu machen, und hätte vielleicht auch um sich gebissen, hatte Elizia ihm die Gelegenheit dazu gelassen. Als Kylie versuchte, Elizia zu helfen, Tickles festzuhalten, bekam sie selbst einen sehr guten Eindruck von der geballten Kraft, die diese Schlange haben musste: Sie selbst hatte Herr Tickles, der vielleicht beinahe doppelt so viel wog wie sie und nur aus Muskeln bestand, wenig entgegenzusetzen, und als der Schlangenkörper sich teils auch um sie wickelte und zuzog, wurde es ganz schön unangenehm. Dass Elizia Erfahrung damit hatte, wie man den Kopf richtig fixierte, war der einzige körperliche Vorteil, den die beiden Frauen in dieser Situation wohl hatten.
Schneeflocke begann, misstrauisch und aufzuregt zu bellen, doch zum Glück musste die Anaconda nicht lange im Zaum gehalten werden. Elizia flößte Herr Tickles die Tinktur schnell und gezielt ein, bevor sie dazu überging, ihn mit sanften Worten und behutsamem Streicheln über seinen Nasenrücken wieder zu beruhigen. Erst nachdem er anfing, seinen eigenen Würgegriff zu lockern, ließ auch Elizia ihn los.
Herr Tickles schien, auch wenn ihm die vergangene Prozedur eindeutig nicht gefallen hatte, nicht nachtragend zu sein. Er gab Elizia und Kylie ohne weitere Drohgebärden frei und verfiel in unschuldige Lethargie zurück.
„Danke für deine Hilfe“, schnaufte seine Besitzerin, nach dem kleinen Ringkampf etwas verschwitzt.
„Nun müssen wir nur noch warten, dass es anfängt zu wirken. Wenn du mir vielleicht eine Salbe gegen seinen Ausschlag dalässt, kann ich den Rest allein machen.“So hatte Kylie Zeit, sich auf ihren Begleiter zu konzentrieren.
Schneeflocke freute sich sichtlich über Kylies Aufmerksamkeit und war ganz aufgekratzt, als sie ihm den Befehl gab, nach irgendetwas Interessantem zu suchen. So empfindlich er auch für die Emotionen anderer in seiner Umgebung war, die nun einmal größtenteils sehr bedrückt und besorgt waren, ließ ihn die Aussicht auf ein Spiel (und als das sah er Suchen) die Anspannung vergessen. Schwanzwedelnd begann der Husky zu schnüffeln, schnaubte mehrmals aufgeregt und musste sogar niesen, als ihm die Grashalme an der Nase kitzelten. Nach mehren Runden im Kreis, hatte er offenbar eine für ihn interessante Spur aufgenommen, der er auch sogleich, mit Nase am Boden, hinterhertapste. Nach einigen Metern in Richtung Lager, hielt Schneeflocke jedoch inne und schien verunsichert. Er lief ein wenig schnüffelnd hin und her, bevor er es aufgab und wieder schwanzwedelnd Kylies Nähe suchte. Scheinbar hatte er die Spur verloren. Wenn es die Witterung des Täters gewesen war, wusste dieser also möglicherweise, wie man Spuren verschleierte. Die Nase eines Hunds zu täuschen, war nicht einfach.
Hod nickte und wirkte so als würde er sich langsam wieder ein wenig sicherer fühlen, als Zonk und Durbak ihm halfen.
„Ich suche nach den Schlüsseln“, pflichtete er schließlich bei, war sich allerdings wohl nicht sicher, ob Zonk ihn noch hörte. Er wollte schon loseilen, da auch Zonk im Trubel untergetaucht war, dann hielt er allerdings nochmal inne und fügte, an Durbak gerichtet, an:
„Und wenn ich die nicht finde, sammle ich eben andere Schlösser und Schlüssel. An vielen Lagerkisten sind welche. Die leihe ich mir einfach!“ Somit ließ er den Zwerg allein mit dem Tank und Durbak hatte die Gelegenheit, sich die Manipulation in Ruhe anzusehen. Als geübter Schmied erkannte er sofort, dass diese Arbeit wohl kein Profi erledigt hatte. Die Manipulation war hinterhältig, aber es stellte sich heraus, dass sie leicht wieder rückgängig zu machen war. Die Schweißnaht sah nicht nur wulstig und behelfsmäßig aus, sondern war durch die vorhandenen Lücken schwach. Ein einziger kräftiger Schlag mit einem Hammer oder etwas Ähnlichem würde reichen, um den Metallsporn abbrechen zu lassen, ohne den Rahmen des Tanks beschädigen zu müssen.
[1] Trotzdem die Qualität der Sabotage nicht herausragend war, war es wohl nicht einfach, auf alle Schnelle und heimlich ein Stückchen Metall anzuschweißen – besonders, wenn man gerade keine glühende Esse in Nähe hatte. Das war Durbak klar… Außer, ja außer, Alchemie oder Magie wären eingesetzt worden, um punktiert genug Hitze zu erzeugen. Wahrscheinlich stellte das des Rätsels Lösung dar. Für die richtige Platzierung des Sporns bräuchte man wohl ein gutes Auge für’s Detail, aber der Täter hätte mit einem der genannten Hilfsmittel ohne großen Zeitaufwand oder Lärm agieren können.
Währenddessen sammelten sich Zonk, Nadeshja und Lavenia bei Furio, der so aufgekratzt war, dass er nicht bewusst wahrzunehmen schien, dass man ihn zu beaufsichtigen gedachte. Ganz fokussiert holte er eine seiner Tauben aus der kleinen Voliere, in der er sie untergebracht hatte, und drückte Nadeshja den Vogel einfach in die Hände.
„Halt sie kurz, ja?“ Lavenia war zwar näher an seine Seite gewesen, allerdings hätte diese Aufgabe für die winzige Fee, die selbst kaum größer als die Taube war, vielleicht eine enorme Herausforderung dargestellt.
Daraufhin begann Furio, auch seine übrigen Tauben einzufangen und nach und nach in einen kleinen schmalen Käfig zu setzen.
„Hod hat mir bei den Lederriemen hier geholfen“, erklärte Furio, als er den nun mit Tauben bestückten Käfig anhob und dann wie einen tief sitzenden Rucksack oder einen Taillengürtel auf den Rücken schnallte. Nachdem er seinen weiten Umhang darübergeworfen hatte, fiel der Käfig gar nicht mehr auf. Alle Anwesenden hatten Furio schon mithilfe dieses Käfigs üben sehen. Damit „zauberte“ er seine Tiere aus den mysteriösen Tiefen seines Umhangs hervor. Die Taube, die Furio Nadeshja in die Hände gedrückt hatte, nahm er ihr wieder ab und versteckte sie in seinem Zylinder, der dafür einen doppelten Deckel hatte.
In diesem Moment stieß der Professor zur versammelten Gruppe. Er musterte kurz mit unergründlichem Blick, wie Furio ganz behutsam mit der Zylinder-Taube umging, bevor er das Wort ergriff.
„Ich habe geschafft, dass sich Noab ein wenig beruhigt hat und auch die Flamboni-Schwestern nicht mehr weinen und auftreten wollen“, informierte er die Umstehenden. Seine von Brandverletzungen lädierte Stimme war wieder einmal kaum mehr als ein kratziges Flüstern. Doch da man dies von ihm kannte, war er nicht schwer zu verstehen.
„Viele andere sind aber sehr traumatisiert… verständlich. Doch ich fürchte, mehr kann ich erst einmal nicht tun.“ Er seufzte bekümmert, bemühte sich dann aber um ein zuversichtliches Lächeln.
„Ich muss nun in die Manege und das Publikum begrüßen. Ich hoffe, ihr wart erfolgreich? Wer soll beginnen?“Furios Hand schnellte nach oben.
„Ich!“, meldete er sich eifrig und sprudelte fast über vor Stolz.
Den Professor brachte diese Begeisterung dazu, gutmütig zu schmunzeln und er legte dem Jungen väterlich die Hand auf die Schulter.
„Gut, dann soll es so sein. Willkommen in der Familie!“ Bekräftigend tätschelte er Furios Schulter und sah ihm tief in die Augen.
„Deine erste große Prüfung wartet auf dich. Ich bin mir sicher, dass du das großartig machen wirst.“Der Professor nickte der Runde noch einmal zu und machte auf dem Absatz kehrt, um auf den Vorhang zuzusteuern. Die Gauklertruppe war immer noch dabei, das Publikum hinzuhalten, doch der Professor gab den Musikern das Zeichen, zur Begrüßung überzuleiten. Sobald die Gaukler, wenige Augenblicke später, aus der Manege verschwunden waren, trat der Professor raus in den mittleren Ring.
Unterdessen schwenkte Furios Verhalten, nachdem er dem Professor bis zum Vorhang gefolgt war, mit einem Mal von zappelig nach ganz still und steif. Wer ihn im Auge behielt, konnte sehen, dass er zuerst noch tief ein und ausatmete und von einem Fuß an den anderen wippte, während er sich noch bewegenden Vorhang vor sich betrachtete. Das legte sich jedoch innerhalb von Sekunden, in denen man hörte, wie tosender Applaus, die Begrüßung des Professors, durch die Manege brandete. Das schien Furio zu verunsichern. So sehr er sich gerade noch gefreut hatte, war ihm sein real werdender Traum vielleicht plötzlich doch etwas zu real. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht und er musste unwillkürlich schlucken, als würde auf der anderen Seite etwas Grauenhaftes auf ihn warten.