Schlussendlich einigte man sich darauf, sich für die Suche in einer Gruppe zu bleiben. So wäre es im Falle, dass man auf Ärger stieß, am sichersten – und außerdem war das Lager auch nicht so groß, dass eine Aufteilung sonderlich viel Zeitersparnis bedeutet hätte. Der erste Anlaufpunkt war, wie Durbak vorgeschlagen hatte, Myrons Wagen. Dieser parkte nahe dem Tümpel, direkt vor dem Gemeinschaftsfeuer. Auf jeder Seite des Wagens prangte ein farbenfrohes Banner, auf denen in gelben Großbuchstaben der
Zirkus der Seltenen Wunder beworben wurde, umringt von Darstellungen der Künstler bei ihren Vorstellungen. Die Federfall-Fünf waren abgebildet, aber auch Elizia und Herr Tickles, Mordaine die Magierin, alle Zwergenwerfer, die Bezaubernde Willow mit einigen von ihren Tieren, Zonk und eigentlich jeder Artist, der schon vor Publikum aufgetreten war. Es war zu einem kleinen Initiationsritus geworden, dass Akarah ihre künstlerische Ader nutzte, um neue Artisten nach ihrer Premiere auf Myrons Wagen zu verewigen. Vielleicht würde sie sich bald darum kümmern, auch Nadeshja, Lavenia und Furio zu malen… vielleicht aber auch nicht. Die aktuellen Umstände gaben sicherlich erst einmal andere Prioritäten vor.
Drei Stufen an der Heckseite des Wagens führten zu einer roten Tür mit einem goldenen Knauf. Doch schnell stellte sich heraus, dass die Tür abgeschlossen war. Und niemand konnte sich daran erinnern, bei der Untersuchung von Myrons Leichnam seinen Schlüsselbund gesehen zu haben. Allerdings wäre es bestimmt möglich, das Schloss zu knacken oder mit Gewalt zu öffnen. Bevor jemand allerdings zur Tat schreiten konnte, wurde zumindest Tollpatsch darauf aufmerksam, dass Schneeflocke, nachdem er ein wenig am Wagen geschnüffelt hatte, zweimal kräftig niesen musste.
Neugierig geworden, begann auch Tollpatsch zu schnüffeln und musste ebenfalls niesen.
„He, wartet mal, vielleicht solltet ihr lieber erst durch’s Fenster schauen“, warnte er.
„Irgendwas kribbelt hier ganz doll in der Nase. Keine Ahnung, was es ist, aber das hab ich hier noch nie bemerkt.“ Das Gespür der beiden Hunde stellte sich als große Hilfe heraus. Der Blick in den Wagen war durch einen halb-zugezogenen Vorhang zwar erschwert, allerdings konnte man im warmen Licht von Myrons ewigbrennender Fackel aus kaltem Feuer, die das Innere des Wagens beleuchtete, dennoch einiges erkennen. Es wirkte nicht so als hätte Myron irgendeine Form von Gewalt erfahren oder erwartet – all die Erinnerungsstücke, die Myron auf seinen Reisen gesammelt und in vollgestopften Regalen angesammelt hatte (unter anderem die Fackel, in die die Phrase „Sieh, was du sehen willst“, eingraviert war), waren noch an ihrem Platz. Allerdings schienen Partikel in der Luft zu schweben, die im Fackelschein glitzerten und bestimmt kein Staub waren.
Der Ursprung (oder besser: die Ursprünge) dieses seltsamen Phänomens war schwer zu übersehen, denn sie leuchteten und pulsierten in wechselnden Farbtönen, die von gelb-grün bis rot-orange reichten. Es handelte sich um insgesamt vier seltsame, etwa 60 Zentimeter hohe Kannenpflanzen mit schweren, herabhängenden Ranken. Diese Ranken funkelten wie pures Gold, so dicht waren sie bepackt mit glänzenden Pollen, die mit jedem Pulsieren, das die Pflanzen erfasste, in die Luft gewirbelt wurden.
[1]Unterdessen schien am Gemeinschaftsfeuer gerade Noab das Ruder zu übernehmen.
Die meisten der Anwesenden waren verunsichert, wenn nicht sogar sichtbar stark verängstigt. Doch der Vater der Kanbali-Familie versuchte, Selbstsicherheit auszustrahlen. Seinen schroffen Missmut, den er vorhin schon an den Tag gelegt hatte, hatte er nicht abgelegt. Es behagte ihm offenbar gar nicht, dass seine Frau und Kinder nun mit den anderen am Feuer kauerten, statt dass sie zu ihrem Wagen zurückkehren konnten. Er wollte sich selbst nicht hinsetzen, sondern schnappte sich eine Fackel und zog mit der freien Hand die Axt aus dem abgesägten Baumstamm in der Nähe, den die Mitglieder des Zirkus als Hackklotz verwendeten.
„Wir brauchen mehr Holz“, knurrte Noab und deutete mit der Axt auf die Brennholzvorräte.
„Das wird kaum eine Stunde reichen. Los, kommt schon…“, er sah sich in der Versammlung um und pickte sich wen aus,
„Boru, Bolbil. Helft mir!“ Noabs Sohn Boru sprang sogleich auf. Sein Gesicht war verquollen von den Tränen, die er gerade noch oder wieder für Myron vergossen hatte, aber der Wunsch seines Vaters war ihm Befehl.
Bolbil war sich nicht ganz so sicher. Zögerlich erhob er sich von seinem Platz am Feuer und versuchte, im Dunkel zwischen den Wägen hindurchzuspähen und den Rand des nahen Walds zu erkennen. Doch in der Dunkelheit war ihm dies vermutlich nicht möglich. Abseits des Lagers war nichts beleuchtet, dort herrschte pure Finsternis.
„Ist es da sicher?“, fragte der sanfte Riese nicht überzeugt, doch Noab schreckte davor nicht zurück, sondern stapfte, ohne darauf Antwort zu geben, auf den Wald zu – und Boru beeilte sich, Schritt zu halten.