Da sich nun einige Leute der Zirkustruppe bereitmachten, um sich nach Abberton zu begeben, trat Akarah ein wenig näher und wandte sich an die Gruppe:
„Wenn ihr schon in die Stadt geht“, erkundigte sie sich leise,
„könntet ihr auch der Kirche einen Besuch abstatten, die der Bürgermeister erwähnt hat?“ Akarah selbst gedachte offenbar nicht, mitzukommen. Sie begutachtete dann vornehmlich Bruder Monds Reaktion. Nadeshja war gerade mit Schneeflocke beschäftigt, so war Vincent derjenige, der ihr unter den Freiwilligen am Vertrautesten war.
„Wir können Myron nicht in seinem Wagen liegen lassen“, erklärte sie ihre Anfrage.
„Wir müssen ihm die letzte Ehre erweisen und ihn beerdigen.“ Elizia, die nah genug gewesen war, um Akarah zu verstehen, hob leicht zitternd ihre Hand, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Ein Friedhof bei einer Kirche, eingezäunt von einer Mauer, hätte ihm gar nicht zugesagt“, wandte sie mit brüchiger Stimme ein, während ihr allein der Gedanke daran schon wieder Tränen in die Augen stiegen ließ. Hastig nestelte sie am Knopf, der ihre Jackentasche verschloss, und zog ein Taschentuch hervor.
„Ich denke, er hätte… er hätte es schön gefunden, hier in Freiheit auf dieser Wiese zu ruhen, wo wir unsere erste große Vorstellung geben konnten und nachts Desnas Sternenlicht auf ihn fällt.“ Sie schluchzte so bitterlich in ihr Taschentuch, dass Herr Tickles auf sie zuschlängelte und sie verwundert mit der Schnauzenspitze anstupste. Tahala Wegwächter fasste sich ein Herz, ließ sich von Tickles Anwesenheit nicht abschrecken und nahm Elizia tröstend in den Arm.
„Davon bin ich auch überzeugt“, pflichtete der Professor mitfühlend bei. Er beobachtete Elizia und Tahala kurz bekümmert, sprach dann jedoch weiter und erhob seine heisere Stimme ein wenig, damit alle ihn gut verstehen konnten.
„Myron hat den gestrigen Abend nicht miterleben dürfen, aber es hat ihm sehr viel bedeutet, uns allen den Start in ein neues Leben zu ermöglichen. Ich bin sicher, dass er sehr stolz auf uns alle wäre. Er würde nicht wollen, dass wir uns nur im Schlechten an Abberton erinnern, sondern unsere Vorstellung als großen Erfolg sehen. Lassen wir uns nicht entmutigen! Wir stehen erst am Anfang unserer Reise und haben noch so viel vor uns, meine Freunde! Unseren Traum hier jäh enden zu lassen, wäre nicht in Myrons Sinne gewesen.“ Nach dieser kurzen Ansprache, mit der er Mut wecken und Trost hatte spenden wollen und die zustimmendes Gemurmel unter den Anwesenden hervorrief, verfiel der Professor wieder in seine übliche, gesenkte Lautstärke, die für ihn einfach angenehmer war. Seine Stimmbänder hatten sich auch noch nicht ganz von der Beanspruchung während der gestrigen Vorstellung erholt. Er blickte zwischen Kylie, Zonk, Durbak, Lavenia, Lyra und Bruder Mond hin und her.
„Während ihr unterwegs seid, bereiten wir hier alles für Myrons Abschied vor“, griff er das aufgekommene Gesprächsthema noch einmal auf.
„Dennoch ist eine gute Idee, zur Kirche zu gehen. Wir sollten unsere Gastgeber respektieren und den örtlichen Priester um Erlaubnis fragen, ob wir Myron hier im Lager bestatten dürfen. Würdet ihr das übernehmen?“ Er zögerte kurz.
„Es wäre mir sogar recht, euch zu begleiten. Aber ich will euch nicht zur Last fallen. Wie ihr wisst, bin ich nicht mehr so gut zu Fuß. Wenn ihr zuerst den Notizen der Mörderin auf die Spur gehen wollt, möchte ich euch nicht aufhalten.“ Wie gewohnt, zeigte er kein Selbstmitleid. Der Professor war sich bewusst, dass er nicht mehr der Jüngste war und nicht eitel. Er würde es niemandem übelnehmen, wenn man ihn bat, im Lager zu warten.
Sein Freund Tollpatsch hatte auch noch etwas zu melden.
„Als Gidarron, Tahala und ich eben in der Stadt waren, um die Wachen zu holen, kam mir irgendetwas seltsam vor“, erzählte der sprechende Beagle.
„Ich kann es gar nicht beschreiben, ich hab es einfach im Gespür. Abberton sieht so verschlafen und harmlos aus wie es ein Bauernnest tun sollte, aber irgendwie fühlt es sich so an, als sei irgendwas nicht in Ordnung. Ich kann aber nicht benennen, was genau mich stört. Vielleicht hat es ja etwas mit den Katastrophen zu tun, die Abberton heimsuchen. Seid auf jeden Fall vorsichtig!“
Währenddessen im Wald, nicht fern des Lagers, konnte Regis beobachten, wie erst Fluvadincos Nase und dann sein ganzer Kopf aus dem unruhigen Wasser des Bachs auftauchte und erst dann wirklich sichtbar wurde. Der Wassermephit schien mit dem kühlen Nass fast zu verschmelzen. Der kleine Kerl blickte eher missmutig auf die Flasche, die Regis ihm entgegenhielt.
„Fluvadinco mögen Menschenwelt nix mehr“, quengelte er wehleidig, während auf allen Vieren aus dem Bach ans Ufer kroch.
„Flasche nix spaßig! Flasche eng ganz viel!“ Nachdem Regis diese Beschwerde zur Kenntnis nehmen konnte, schlüpfte der Mephit dennoch in die Flasche. Dies war ein kurioser Anblick: in einem Moment noch groß wie ein Goblin, schien sich Fluvadinco zu verflüssigen und an Masse zu verlieren, während er sich durch den Flaschenhals quetschte. Sobald er in der Flasche war, sprudelten Reste des Apfelsafts hinaus und liefen Regis über die Hand. Fluvadinco kicherte hämisch. Am Ende wirkte es so als sei die Flasche mit einer bläulichen Flüssigkeit gefüllt, die nicht schwerer war als die gleiche Menge Wasser (oder Apfelsaft) es wäre.
Sobald sich kurze Zeit später alle zusammengefunden hatten, die der Stadt einen Besuch abstatten wollten,
[1] machten sie sich auf den Weg nach Abberton. Die Stadt lag einen kurzen Fußmarsch über den Feldweg entfernt, den gestern Abend schon die Besucher der Vorstellung genommen hatten. Da der Zirkus sich auf der Kuppe eines kleinen Hügels niedergelassen hatte, konnte die Gruppe den Ort gut überblicken, als sie sich näherte. Der Kern des Orts war am Ufer mehrerer Bäche errichtet worden, die sich am Stadtrand im Osten zu einem größeren Flusslauf vereinten. Der Wasserstand schien tatsächlich recht niedrig zu sein, wie der Bürgermeister es erwähnt hatte. Im Westen begrenzte eine plateau-artige, aber nicht sonderlich hohe Klippe die Siedlung. Inmitten von Feldern und etwas abgelegeren Höfen und Scheunen, machte der Ort einen durchaus idyllischen Eindruck. Zumeist einstöckige Fachwerkhäuser schmiegten sich an die nicht befestigten Straßen, über die Flüsse spannten sich einfache Holzbrücken, und in der Ferne sah man Leute auf den Feldern arbeiten. Die meisten Gebäude wirkten gepflegt, aber durchaus in die Jahre gekommen – dazu gehörte auch die Kirche, die mit ihrem weiß verputzten Turm im Zentrum der Siedlung alle anderen Gebäude überragte. Kaum näherten sich die Zirkusleute dem Ortseingang, kam ihnen auch schon der Wachmann entgegen, den der Bürgermeister vorhin als „Wolf“ vorgestellt hatte.
Der junge Mann winkte und trat eifrig auf die Neuankömmlinge zu.
„Ah, da seid ihr ja schon!“ Er grinste erleichtert, weil er nicht den kompletten Weg zum Zirkus hatte zurückkehren müssen.
Dann würde seine Mimik jedoch ernster.
„Wir haben die Halblingsfrau in einer Zelle gesteckt. Drei Leute passen auf die auf und sie ist noch immer gut verschnürt. Zaubertricks soll sie so mal versuchen!“ Er hob spöttische einen Mundwinkel und legte seine Hand leger auf dem Schwertknauf an seiner Seite ab.
Wolf schien sich in seiner Rüstung recht wohl zu fühlen. Doch gleichzeitig wirkte er ein wenig aufgekratzt. Vermutlich waren Ermittlungen nach Mördern und verschwundenen Personen nichts, was in seinen Alltag gehörte. Mit seinen höchstens zwanzig Jahren war er als Wachmann möglicherweise allgemein noch recht grün hinter den Ohren. Aber er gab sich eifrig, seiner Aufgabe gerechtzuwerden.
„Bürgermeister Abber hat mich gebeten, euch zu beschützen. Außerdem kenne ich jeden Winkel und jede Person hier. Ich bin euch sehr gern behilflich!“, fügte er mit einem Nicken hinzu.
„Ich bin ehrlich mit euch, ich mache mir große Sorgen. Sheriff Ralhain würde niemals unangekündigt so lang fortbleiben. Ihr muss etwas zugestoßen sein – und den Hawftons auch! Bürgermeister Abber mag das nicht so wirklich wahrhaben wollen, aber ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass auch nur einer der Verschwundenen freiwillig fortgegangen ist. Es kann sein, dass Ralhain nach der Hawftons gesucht hat und dabei selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Vielleicht hat die Mörderin mehr als nur euren Freund auf dem Gewissen. Vielleicht hat sie auch Helfer. Die Schurken in unserer Taverne, die Herr Abber erwähnt hat, könnten etwas damit zu tun haben. Ich habe zwar nie einen der Druiden mit ihnen zusammen gesehen, aber ich würde es nicht ausschließen. Für Geld machen die sicher alles! Und dass sie zumindest Sheriff Ralhain gern loswerden würden, kann ich mir denken. Ich kann euch gern herumführen und alles erzählen, was ich weiß. Fragt mich ruhig, was ihr wollt über wen ihr wollt! Und nehmt bloß kein Blatt vor den Mund. Das werde ich auch nicht tun. Wohin wollt ihr? Ich bringe euch hin!“Die Obstplantage, die die Attentäterin auf ihrer Karte markiert hatte, lag am anderen Ende der Stadt – daher konnte der Überblick über die Örtlichkeiten auf dem Weg dorthin nur noch vertieft werden.
[2] Die meisten Häuser Abbertons waren tatsächlich Wohnhäuser oder aber Ställe und Scheunen, in denen Rinder, Schweine und Geflügel gehalten wurde. Es gab einen Schmied mit einem kleinen Laden im Ortszentrum, der Werkzeuge schmieden und reparieren konnte, und einen Gemischtwarenladen, der eine überschaubare Auswahl an Gebrauchsgegenständen feilbot, die in Abberton hergestellt oder aus Escadar importiert wurden. Wolf erklärte, dass die Bewohner Abbertons eigentlich, abgesehen von Post- und Warenlieferungen, recht selten Besuch aus der Stadt bekamen. Ab und zu kamen zwar Abenteurer und Marinesoldaten durch den Ort, die die Ruinen im Nordwesten der Insel erforschen wollten, doch die machten höchstens bei der Taverne Halt. Einmal pro Jahreszeit reisten der Bezirksrichter und ein Steuereintreiber an – beides eher unliebsame Besucher. Besonders vor dem nächsten Quartal fürchteten sich viele. Viele Bewohner Abbertons waren nicht nur arm, sondern verschuldet. Für die meisten war die Dürre eine zusätzliche Belastung zu sowieso schon angespannten Verhältnissen. Daher war der Besuch eines Zirkus schon etwas sehr Besonderes und Aufregendes, das für eigentlich alle eine willkommene Abwechslung war. Auch für Wolf.
Selbst die Kirche hatte schon bessere Tage gesehen, obwohl Magister Drend, geistlicher Führer der Gemeinde und, wie es für
Abadarpriester üblich war, auch der örtliche Bankier, auf dem Vermögen Abbertons sitzen musste. Der Putz bröckelte schon an einigen Stellen und auch die Pflege des Friedhofs, der sich an das Kirchenschiff schmiegte, wirkte so als könnte sie mehr Aufmerksamkeit vertragen. Unkraut wucherte auf den Freiflächen und Moos kletterte über die Mauern, in die Schlüsselsymbole eingraviert waren. Die vergoldeten Giebel und Fensterfassungen des Kirchenhauses, die goldgelbes Glas mit weiteren Schlüsselsymbolen einrahmten, sprachen allerdings noch von glanzvollen Tagen aus der Gründerzeit der Stadt.
Das größte Wohnhaus im Ort war definitiv das des Bürgermeisters. Es zudem eins der wenigen Gebäude mit soliden Bruchsteinmauern und einem oberen Stockwerk. Wolf erzählte, dass Jae Abbers Großeltern Abberton gegründet hatten – und dass man sich hier im Ort nicht mehr so sicher war, ob sie ihn nach sich selbst oder nach Abadar benannt hatten. Jae hatte den Job des Bürgermeisters vor etwa zwei Jahrzehnten von seiner Mutter übernommen, als diese gestorben war. Er sei ein guter Kerl und versuche sein Bestes, aber er habe sich mit dieser Rolle nie wirklich wohlgefühlt, sagte man sich hier.
Sheriff Ralhain, hingegen, deren Büro und Wachhaus direkt neben dem Haus des Bürgermeisters lag, war genau die Richtige für ihre Aufgabe in Abberton. Sie sei eine fähige Soldatin, erzählte Wolf. Früher habe sie in der Absalomer Marine gedient, habe sich dann aber zurück zu ihren Wurzeln nach Abberton begeben, um in der Nähe ihrer alten Eltern zu sein – die aber inzwischen verstorben seien. Als man Ralhain für den Sheriffposten nominiert hatte, kaum dass sie einen Schritt zurück in den Ort gesetzt hatte (vorher habe Abberton gar keinen Sheriff gehabt), habe Ralhain sich nicht beschwert, sondern das sogar gern übernommen.
Während Wolf noch über Ralhain sinnierte, kam die Gruppe dem südwestlichen Ortsrand nahe, an dem schon aus der Ferne eine Streuobstwiese zu erkennen war. Momentan, im Desnus,
[3] standen viele der Bäume in der Blüte.
„Die Obstplantage gehörte einst dem Alten Odlin…“, begann Wolf schon das nächste Kapitel seiner Stadtführung, als ihn ein Rufen aus der Ferne unterbrach.
„Hallo?! Ihr da! He-eeh!“, schallte der Gruppe eine männliche Stimme entgegen. Ihr Ursprung musste noch weit entfernt sein und war gar nicht so leicht auszumachen. Doch sie kam aus Richtung der Obstbäume.
„Endlich kommt hier jemand lang! Ich schreie mir schon eine Ewigkeit die Seele aus dem Leib… Ich brauche Hilfe! Hier drüben!“ Die Gruppe wurde dann auch auf den Mann aufmerksam – es war ein Gnom mit leuchtend orangen Haaren, der in die Krone eines Apfelbaums gestiegen war, wo er zwischen weiß-rosigen Blüten wild mit den Händen fuchtelte, um entdeckt zu werden.
„Das ist Tromtom!“, erkannte Wolf und wollte schon losrennen, aber die folgenden Worte des Gnoms ließen ihn innehalten:
„Ähm… Stopp!“, rief Tromtom.
„Wenn ihr näher kommt, passt bloß auf! Hier stellt gerade eine Wildschweinrotte mein Erdbeerfeld auf den Kopf! Diese Biester haben mich angegriffen und lassen mich nun nicht mehr runter!“[4]