Als Naoko am nächsten Morgen sein Zelt verließ, hatte sich eine schweigende Menge in einem Halbkreis um sein Zelt aufgestellt. Alle waren gekommen, um ihn zu verabschieden, vom kleinsten Kind bis zum ältesten Greis. Nur die alte Uzima war nirgends zu sehen, wie ein schneller Blick dem jungen Halbling verriet.
Der kleine Setsuko trat vor, der ihm immer einen Löffel Suppe geklaut hatte, sobald Naoko für einen Moment so getan hatte, als würde er nicht hinsehen. Tränen rannen in Bächen seine Wangen hinab, doch so tapfer lächelte er den grösseren Freund an, dass diesem noch schwerer ums Herz wurde. Er beugte sich hinab und umfasste fest die Schultern Setsukos, dann gab er ihm den Bruderkuss. Wenn ich zurückkomme, wirst du ein tapferer Krieger sein, flüsterte Naoko ihm ins Ohr und Das verspreche ich! antwortete der kleine Junge.
Als nächste war die alte Seita an der Reihe, die ihm seine erste Schleuder geschenkt hatte, wofür sie sich sicher zehntausendmal verflucht hatte, da er es sich nie hatte verkneifen können, ihre Kochtöpfe als Ziel für seine Schussversuche auszuwählen. Grimmig blickte sie ihn an und – wie er befürchtet hatte – packte ihn am Ohr. Du schuldest mir immer noch zehn Töpfe! brummelte sie ihn mürrisch an. Ich bring dir welche mit aus feinstem Porzellan, grinste Naoko unerschrocken zurück, was ihm auf der Stelle eine Kopfnuss einbrachte. Erst als die alte Frau sich abwandte, machte ein verstecktes feuchtes Funkeln in ihren Augen dem jungen Schamanen klar, dass ihr Grimm nur gespielt war. Befreit atmete Naoko auf, denn jetzt wusste er, dass sie ihm seine Jugendstreiche endgültig verziehen hatte.
Es dauerte lange, bis sich alle von ihm verabschiedet hatten, und es war fast mittag, als mit Yuri auch der letzte ihm den Abschiedskuss gegeben hatte. Und in diesem Moment geschah es: ein greller Schrei durchschnitt die Stille und der dumpfe Schlag der Trommel liess Naoko seinen Blick nach oben wenden. In einer Baumkrone saß Uzima und trommelte den Tanz der Geister. Den Adler bat sie, aus der Luft über den Fuchs zu wachen. Den Bär flehte sie an, die Feinde des Waldes von Naoko fernzuhalten. Und den Wolf rief sie an, dem jungen Schamanen vorauszueilen und seinen Brüdern im Norden die Ankunft Naokos anzukündigen, damit er auch in der Fremde treue Freunde finde.
Nach dem letzten Trommelschlag richtete Uzima sich hoch auf und wandte ihren stahlharten Blick Naoko zu. Geh aufrecht, steh wie der Baum und stirb stolz, Schamane! rief sie ihm den Wahlspruch der Mamid zu.
Dann machte sie ihm die selbe Ehrbezeigung, die bisher nur ihr hatte zuteil werden dürfen. Unwillkürlich schloss Naoko beschämt die Augen. Als er sie wieder öffnete, war Uzima verschwunden.
Nimpeth, am zwölften Eleint im Jahre der wilden Magie 1372 DR
Schon drei Tage hielt Naoko sich in dieser fremden und angst einflößenden Stadt auf. Bisher vergeblich hatte er versucht, die Strasse des Weines zu finden, von der Uzima ihm erzählt hatte und noch keiner der Einwohner, die er bisher gefragt hatte, hatte diese Strasse gekannt... wenn man ihm überhaupt geantwortet hatte. Hinfort, Sklave! , war der häufigste Satz gewesen, den er zu hören bekommen hatte, denn so robust und gut genäht seine Kleider auch waren, gegen die feinen Gewänder der Städter wirkten sie so armselig, dass niemand sich vorstellen konnte, es mit einem freien Mann zu tun zu haben, wenn er seine Fragen stellte.
Naoko sass am Rande eines Brunnens im Schatten einer Palme, die die Mittagshitze von ihm fernhielt. Der Brunnen schien ein beliebter Treffpunkt zu sein, denn er war bei weitem nicht der einzige, der hier sass, und eine ganze Menge Leute flanierte ihm Schutz kleiner Schirme auf dem großen Platz um den Brunnen herum.
Plötzlich wurde der Halbling hellhörig, als Gesprächsfetzen an sein Ohr drangen, die er zwei Männern zuordnete, die in einiger Entfernung im Schatten einer Hausmauer standen und sich angeregt unterhielten. ...endlich Monopol... Tod der Aulbes ... Karawanenstrasse gehört uns ... sollten umbenennen ... Strasse des Lords?... zu unbescheiden... Strasse des Weines!... Gute Idee, Freund!
Naoko begann breit zu grinsen, denn endlich wusste er, was Uzima gemeint hatte.