01.01.1042 - Tag des Skorpions - Früher MorgenEs roch weiter nach Feuchtigkeit in dem Keller, ein gewölbeartiger Geruch, welcher sich alsbald in alles, was die Gefangenen noch besaßen, eindringen würde. In Holz, Kleidung, Bett und selbst in euren Gedanken. Feuchtigkeit und Luft, zwei elementare Bestandteile des Verfalls, etwas, was man auch Ùldna
[1] in diesem Graden nannte. Die Göttin des Verfalls war vielen bekannt und eine ganze Reihe kontemporärer Gedichte aus dem Westen des Landes berichteten in Allegorien und symbolhaften Darstellungen von Ùldna und beschrieben somit den qualvollen und stöhnenden Untergang des Chuangreiches. Und das Ganze hätte durchaus als Satire dienen können, als kleines Lustspiel, dessen Vorführung nicht vor zahlendem Publikum, sondern vor blutroten Marmorplatten stattfand.
Wahrheit und Trug, kaum gab es zwei Dinge, welche oftmals so sehr verwoben waren und somit den Umgang und das Finden der absoluten Wahrheit beinahe unmöglich machten. Mussten Wahrheitsliebende gar nicht an dieser Situation verzweifeln? War es demnach nicht die Aufgabe, nach Plausibilitäten zu suchen? Nicht alleine die Frage, was wahr war, durfte hier von Bedeutung sein, sondern was wahr sein konnte? Aber was war schon die Wahrheit oder auch das Plausible? Nicht mehr als eine Floskel, wenn man keine Informationen hatte. Floskeln, sie waren eine weitere typische Verwendung, eine die auch dort unten in diesem unglückseligen Keller des Hauses von Shǎzi zur Verwendung kam. Reichte es, wenn alle Denunzianten von sich behaupteten, dass sie unschuldig seien, um alle damit zufrieden zu stellen und jeder an des anderen Unschuld glaubten
[2]? War es alleine eine große Verschwörung? Es konnte alles so einfach sein, wenn man die Wahrheit einfach erfand.
War es Zustand der Akzeptanz der Situation und war es damit der beginnende Verfall? Ùldna mochte es wissen.
Langsam, fast zaghaft, öffnete sich die Tür und ein junges Mädchen kam mit einem kleinem und niedrigen Holztisch in den Raum. Ihre dunkelbraunen Haare waren hochgesteckt und sie trug einfache Leinenkleidung, nichts kunstvolles. Ihr Aussehen war auch beinahe als exotisch zu bezeichnen. Sie hatte hellgrüne Augen und ein ebenmäßiges Gesicht. Sie konnte als schön gelten, aber doch fremd. Ihr Aussehen passte nicht nach Chuang, ob sie aus dem Norden kam?
Sie war augenscheinlich eine Bedienstete des Hauses und dementsprechend niedrig im Rang. Selbst die viel zu weite Leinenkleidung ließ ihren feingliedrige und grazile Gestalt erahnen. Ihre Bewegungen wirkten daher fließend, wenn auch voller Demut. So blickte sie durchgängig auf den Boden. Aber wer konnte schon sagen, dass es wahrliche Demut war, vielleicht wollte sie auch Verbrechern nicht in die Augen blicken?
Die nur etwa 1,55m große Dienerin, die vielleicht um die zwanzig Jahre alt sein durfte, stellte das kleine Holztischen auf den Boden ab. Der Holztisch war aus seltenem und fast weißem Holz, fein gemasert und kleine, kaum leserliche Schriftzeichen befanden sich auf den Seitenleisten des Tisches. Auf der Stellfläche fanden mehrere Lebensmittel ihren Platz, für jeden der Gefangenen eine Schale mit Reis und für jeden einen Teller mit einem Süßwasserfisch, welcher vielleicht aus den lokalen Flüssen oder Seen stammen konnte. Da er bereits verarbeitet war und nur noch das Filet übrig war, konnte die Fischart nur schwerlich bestimmt werden.
"Die Sonne steht bereits am kalten Winterhimmel.", verkündet die junge Dame mit sanfter und flacher Stimme, die schönen Augen noch immer auf den Boden gerichtet.
"Der Hofweise bittet euch darum, euch zu stärken.", es scheint, als würde sie das Wort Herr nur schwerlich vermeiden können,
"und er lässt euch ausrichten, dass in etwa einer halben Stunde euch zwei Gäste beehren werden."Eine zweite Frau betritt den Raum, ein spottender Gegensatz zur schönen jungen Frau, die euch das Essen brachte. Sie war füllig mit gichtsteifen Handgelenken und trug ebenso einfache Leinenkleidung. Sie wirkte wie ein kräftige Bauernfrau und schien im Aussehen ebenfalls eines nordischen Einschlages, auch wenn sie kleinere und rundere Augen hatte, war die Verwandschaft noch grob erkennbar. Sie hatte bereits ergrautes Haar, welches in ähnlicher Weise hochgesteckt war. Ihre Stimme war nicht sanft und flach, sondern zeugte von der brachialen Gewalt einer überzeugten Frau, welche in ihrer Funktion als Hausdrachen ihren Mann zurechtstutzte.
"Trinken!", ihr Wort klang eher wie ein Befehl, nicht wie der Hinweis, dass in dem Kupferkessel, den sie in ihrer rechten, knotigen Hand hielt, etwas zu trinken war. Leichter Dampf entfloh dem Kessel, ein zumindest noch warmes Getränk war in dem Kupferkessel. In der linken Hand war ein Weidenkorb, in dem kleine Kupfertassen waren.
"Vorsichtig, da ist warmer Tee drin.", ihre Stimme beinhaltete immer noch eine Schärfe, aber als sie die Frauen innerhalb der Denunzianten sah, bekam sie diesen Blick, welcher von Mitleid sprach. Mochte sie denken, dass es furchbar für junge Mädchen sein musste, zwischen männlichen Verbrechern zu sitzen? Was mochte ihnen wohl zustoßen? Mitleid zeigte sie für die Mädchen, und so betrachtete sie die Männer mit Ekel und Abneigung, weshalb sie den Kessel und den Weidenkorb einfach abstellte.
Die junge Frau blickte zu ihrer Verwandten und während diese wild stampfend den Raum wieder verließ, führte sie aus, welchen Besuch die Denunzianten zu erwarten hatten.
"Der Hofweise lässt ausrichten, dass Chuang An und Kun Shi euch besuchen werden. Er hat mich geschickt, damit ich euch an eure Pflichten erinnere."Das junge Mädchen schient nicht wirklich schüchtern, jedoch unsicher. Es fiel ihr schwer, Leute, die schwere Verbrecher sein konnten, auf ihre Pflichten gegenüber anderen aufmerksam zu machen. Konnte sie es überhaupt? Sie verbarg ihre zitternden Hände in ihren Leinenärmeln.
"Es ist auch nicht gestattet, dem Chuang in die Augen zu blicken. Es steht euch nicht zu, jedoch dürft ihr in seine Richtung schauen. Beiden Männern müsst ihr mit Respekt begegen und das zeigt ihr durch das Kotau.
Dass ihr den Raum mit diesen Männern teilt, erlaubt euch nicht zu reden, das tun diese Männer alleine. Wenn sie eure Worte hören wollen, werden sie es euch wissen lassen. Das ganze Gespräch müsst ihr auf dem Teppich knien, sollte euch nichts anderes erlaubt werden. Aufstehen und Respektlosigkeit werden bestraft."Das Mädchen überlegt, ob noch etwas gesagt werden musste, aber anscheinend wollte sie den Raum lieber verlassen, was sie dann auch machte. Sie schloss die Tür hinter sich und mit einem Klicken fiel die Tür zu. Scheinbar wurde sie jetzt nicht einmal abgeschlossen. Wollte man die Denunzianten verlocken oder war der Besuch schon dermaßen nahe? Obwohl die hohen Herren des Reiches wohl kaum mit Gefangenen den Frühstückstisch teilen würden.
In dem feuchten Kellerraum verbreitete sich langsam der Geruch des Kräutertees und verbannte den modrigen Geruch von Gewölbe für einen Moment. Dieser Hofweise schien immer weise genug, den Gefangenen warme Getränke zukommen zu lassen, damit sie über die Tage bei Kräften blieben. Aber vielleicht war das alles Teil des Spiels, wenn es wirklich eine außerordentliche Verschwörung war, die außerhalb dieses Gefängnisses vor sich ging. War es denn so wahrscheinlich? Bald würden die ersten Fragen beantwortet werden können, es konnte nicht mehr lange dauern, ehe die beiden Männer des Hofes kamen und Fragen stellten oder Antworten gaben.
Der Tee roch wirklich verlockend.