5. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 23:50 Uhr
Es war der Tag nach der heiligen Barbara und der Tag vor Nikolaus, zumindest sahen es die Katholiken nach ihrem altehrwürdigen Heiligenkalender so. Was auch in diesen Momenten auf der Feier zu Ehren des Todestages Friedrich Christoph Dahlmanns
[1] belächelt wurde. Belächelt von jener feiernder Schicht ehemaliger oder aktueller Studenten der Burschenschaft Teutonia Kiel, welche bei Reden, Witzen und Anekdoten kräftig die Farben ihrer Burschenschaft wehen ließen, lauthals johlten oder donnernd die mit Wappen übersäten Keramikkrüge, besser ausgedrückt Humpen, aneinanderschlugen, sich in die Arme nahmen. Sie überhörten die mahnende Stimme ihres Kameraden Johannes Fligge, der immer wieder darauf bestand, dass man nicht so leichtfertig über die Katholiken lachen sollte, denn sie würden noch von Bedeutung sein, würde man Dänemark wirklich eines Besseren, also von der rechtmäßigten und ungeteilten Freiheit Schleswig-Holstein, belehren wollen. Mehr Gelächter folgte, auch wenn Österreich sicherlich militärisch eine Hilfe sein würde, alleine deswegen, weil in Preußen ein Konflikt herrschte, welcher auch den ein oder anderen Burschen ins Schweigen fallen ließ. Der sogenannte Verfassungskonflikt und der Streit, der fast soweit ging, dass der König beinahe seine Krone niederlegte. Doch nun hatte er den Mann neben sich, auf den alle schauten. Bismarck.
Die Stimmung war trotz aller Versuche, sie zu heben, gedrückt und gespannt.
Gleichzeitig hörte Schwester Hermene das Lärmen der Studenten. Es war eine Krux. Sie war direkt gegenüber des Gebäudes, in welchem die Burschenschafter feierten, und kam ihrer Pflicht der Fürsorge nach und sorgte sich um die Altenbetreuung. Es war nicht die beste Anstellung, nicht der aufregenste Dienst innerhalb ihrer Kirche, aber es war bisweilen spannend. Einer dieser Gründe war eine der alten Damen in der Altersfürsorge der Kirche. Martha Borggrefe, eine ältere Dame, welche inzwischen bettlägrig war, hatte ein bewegtes Leben gelebt. Geboren in Hannover im Februar 1784, war die fast achtzigjährige Dame in einer Zeit aufgewachsen, welche im Zeichen der französischen Revolution, dem Griff Napoleons und der darauffolgenden Befreiungskriege stand. Sie war eine Springerin zwischen den vielen Symbolwelten, welche über das frühe 19. Jahrhundert aufgebaut wurden. Und sie hatte Hermene, seit diese sich um die alte Dame kümmern musste, eine Menge erzählt. Sie war Schneiderin gewesen und war in ihrem Leben sowohl mit einem preußischen Offizier, als auch mit einem österreichischem Offizier liiert gewesen und hat schlussendlich einen britischen Industriellen geheiratet, welcher eine Reederei in Kiel gründen wollte und doch nur Geldgeber für den findigen Ingenieur Wilhelm Bauer
[2] gewesen war. Als dieser Mann, Fred Taylor, vor drei Jahren im hohen Alter entschlief, nahm sie wieder ihren Geburtsnamen an. Seitdem ging es ihr immer schlechter, aber sie liebte das Geschichtenerzählen und so erzählte sie Schwester Hermene alles, was sie über Österreich und Preußen wusste, warum sie das zu England gehörende Hannover liebte und vermisste und warum sie, trotz ihrer Herkunft, immer eine Katholikin geblieben war. Sie war ein aufrechter Mensch und sie brauchte ihre Ruhe. Mutter Ursula, welche den Altenstift leitete, wusste das und sie übertrug Hermene die undankbarste Aufgabe, welche man an diesem Abend vergeben konnte. Sie sollte rüber zu den Studenten gehen und um Ruhe für die kranken, alten Menschen bitten. Es war in sofern eine undankbare Aufgabe, dass Burschenschaften gerne alle Frauen aussperrten, diese Studenten laut und betrunken waren und die Stimmung unter ihnen zudem gereizt schien. Es gab durchaus noch jüngere Nonnen in Kiel und Umgebung, aber Mutter Ursula, die Hermene eigentlich zur Oberin ausbilden sollte, machte keinen Hehl daraus, dass sie die junge Schwester nicht mochte und schob ihr deswegen immer anstrengende Aufgaben zu. Jetzt durfte sie sich um betrunkene Studenten kümmern, es waren bestimmt dreißig in der Burschenschaft...
"Marius, du elender Holzwurm!" Paul war ein Mann wie in Baum, fast sieben Fuß groß. Er galt als einfältig, auch wenn er ein Student war. Man sagte ihm nach, dass nur seine Zeit bei der Armee und das Geld seines Vaters, der Eisenbahnen baute, das Studium ermöglichten. Paul selbst war ein stolzer Deutschnationaler, der sich voll und ganz der kleindeutschen Lösung ergeben hatte und gar seine Familie mit den langen Kerls
[3] verband, sein Großvater wollte einer gewesen sein. Die Größe des blonden Riesen mit den schütteren Haaren und den Knopfaugen, sprach dafür. Er war jedoch auch unglaublich langsam und träge, weshalb man ihn auch schnell einfältig nannte. Marius hingegen war ein drahtiger, dunkelhaariger, sehr junger Student, der erst vor sieben Wochen aus Leck kam. Marius Pedersen. Er hatte von Anfang an mit den Vorurteilen zu kämpfen, dass er ein Däne sei, auch wenn er immer darauf verwies, dass er Friese sei. Es führte zu allerlei Duellen, die der junge Marius mit Bravour meisterte.
"Marius! Du bist so ein Trottel! Ich sollte dir eine geben." Grund des Streites war die Aussage des jungen Marius, dass man vielleicht darüber nachdenken sollte, den Augustenburger
[4] mit einem Attentat zu bedenken, um seine Erbansprüche ein für alle Mal verstummen zu lassen. Während manche diese Aussage für einen Scherz hielten, stellten sich manche jetzt hinter dem großen Paul auf, vielleicht aus Überzeugung, vielleicht um bei einer Schlägerei seinen Fleischerhänden aus dem Weg zu gehen. Andere stellten sich jedoch hinter Marius. Es hatte sich in den letzten Wochen an der Universität abgezeichnet, immer mehr Burschen wollten mit sogenannten großen Taten die Politik auf sich aufmerksam machen und Preußen und Österreich zum Handeln zwingen. Paul verwies auf die Möglichkeit der Bundesexekution, Marius lachte und nannte Bismarck einen Feigling, der sich hinter dem Londoner Protokoll versteckte und gar keine Freiheit für Schleswig und Holstein wollte. Dann nannte er nach ein paar Wortwechseln den sonst eher sanften Riesen einen heimlichen Dänemarksympathisanten, der die Umstände nur akzeptieren würde, damit Dänemark die Novemberverfassung doch durchsetzen könne.
Die ersten Flaschen und Krüge flogen, die ersten Schubser wurden ausgetauscht.
Das Burschenschaftsgebäude war nur ein kleine, alte Knechtskate, die nur eine kleine Küche mit Hexe
[5] und einen Hauptraum beeinhaltete, ein kleines Plumsklo war hinter dem Haus im Hof. Alle siebenundzwanzig Gäste, ungewöhnlich wenig für ein Burschenschaftsfest zu Ehren Dahlmanns, hatten Not, sich alle in den Raum zu quetschen, es gab nur sechs Sitzgelegenheiten. Auch das war immer Grund für den Streit gewesen, man wollte mehr Mitglieder und ein repräsentativeres Gebäude. Gerade bei dem aktuellen Wetter, denn es schneite seit drei Tagen und die Temperaturen waren dauerhaft unter dem Gefrierpunkt, sodass keiner sein Bier draußen trinken wollte. Das kleine Gebäude war bis zum Bersten gefüllt und die Laune war auch am Bersten. Die Lage drohte zu eskalieren, Dahlmann und seine Leistung für ein freies Schleswig-Holstein hatte im Moment fast jeder vergessen.
Im Hintergrund rief Johannes mit seiner pfeifenden Stimme, durchdrang den Streit kaum. Er rief, dass man zur Ruhe kommen solle, man sei am Vorabend des Krieges. Manche Burschen schienen entschlossen, ihn jetzt und hier auszufechten. Man spürte, was der Burschenschaft seit Jahren fehlte. Eine Gestalt, an der sich alle aufrichteten. Eine Gestalt, welche die Führung übernahm und eine Linie vorgab. Es gab nur den Ruhm vergangener Tage und Streit. Noch ein Krug ging berstend an der Wand zu Bruch.