6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 00:10 Uhr - Im Altenstift
Die katholische Ordensschwester spürte, dass etwas nicht stimmte. Es ist als würde sie auf einmal müde werden. Sie hatte den Drang zu schlafen, aber das einströmende Adrenalin, welches einherging mit der Auftauchen zweier Arme, welche fast schon stählern in ihrem Griff wirkten und ihr ein Tuch, welches mit irgendeinem Stoff versetzt war, auf das Gesicht drückten, verhinderte ihr Wegdämmern. Sie konnte es aus den Augenwinkeln erahnen. Die mysteriöse, hünenhafte Gestalt mit dem elfenbeinweißem Gewehr stand hinter ihr. Der Gewehrkolben ragte über seine Schulter, ebenso ein in zwielichtigen grün leuchtender Stab, welche den Hünen und die Schwester in unheilvolles Licht tauchten.
Noch immer hatte scheinbar kein Passant oder Anwohner die Szene wahrgenommen, alle Fenster und Türen blieben verschlossen. Hermene und der Fremde waren allein...
Hermene fluchte innerlich, als sie dieses wirre Gefühl bemerkt. Wie konnte sich der Schütze so unbemerkt anschleichen? Und vor allem: Warum konnte er sie offensichtlich sehen? Hatte er etwa ebenfalls göttliche Gaben?
Hermene zögerte jedoch nicht lange und erhob sich wieder in die Lüfte, um dem drohenden Griff des Feindes zu entkommen. Sie musste herausfinden, ob der Schütze sie sehen konnte, oder ob sie den Vorteil der Unsichtbarkeit weiterhin auf ihrer Seite hatte. Schnell kreirte sie einen Soldaten, der als Illusion hinter dem Gegner erschien. Mit einer dunklen Stimme ließ sie ihn sprechen.
"Hier bin ich, gottloser Mörder!", schrie das Trugbild dem Schützen in den Rücken.
[1]Einen kurzen Augenblick blickte das humanoide Wesen hinter sich und machte während es sich wieder umdrehte eine wegwerfende Handbewegung, ehe sie ihr Gewehr zog. Der elfenbeinweiße Kolben wurde durch seinen merkwürdigen Stab in ein zwielichtiges Grün getaucht. Schwester Hermene hatte diesen Gewehrtyp schon einmal gesehen. Niederländische Soldaten, die bei einer Übung Schiffsbruch erlitten hatten und in Hermenes alter Heimat versorgt wurden, hatten diese Waffen bei sich. Musketoon nannten sie diese etwas größeren Musketen, welche deutlich grausamere Löcher in menschlichen Fleisch rissen. Es erklärte auch die furchtbare Wunde in Marius Brust, er musste ihn voll erwischt haben. Mit einem unwirklich wirkenden Grunzen legte er die bereits geladene Waffe an und zielte auf Hermene. Er schien sie zu sehen, oder zumindest zu erahnen. Er verriss jedoch beim Durchziehen des Abzugbügels, der Schuss prallte wenige Zentimeter neben Hermene an der Wand ab. Der Lärm der Waffe war ohrenbetäubend und durchdrang sogar den starken Regen und den heftigen Wind. Wieder dieses Grunzen, diesmal ärgerlicher. Er zog an einem Hebel an seiner Waffe. Sie schien eine Repetiervorrichtung zu haben. Er zielte wieder auf die Schwester...
Hermene warf abermals einen Blick um sich, um die Umgebung zu überprüfen - niemand sollte sie sehen, wenn sie ihre wahren Kräfte offenbarte. Als sie niemanden erkennen konnte, erhob sie beide Arme.
"Herr, steh mir bei und richte diesen Sünder", sagte sie, eher zu sich, als dass es jemand hören sollte. In ihren Händen formte sich eine Kugel aus Luft, die immer schneller zu rotieren begann, und ein Surren ertönte, und plötzlich ein ohrenbetäubender Knall, und der Ball schoss auf den Angreifer zu. Das Geschoss explodierte, und seine Wucht war deutlich zu sehen, denn der Regen wurde zur Seite gedrückt und der Schütze durchgerüttelt. Der Knall drohte ihn ertauben zu lassen. Hermene prüfte einen kurzen Augenblich seine Reaktion, bevor sie hinter der Ecke des Gebäudes verschwand.
Ein ohrenbetäubender Knall und der vermummte Unbekannte wankte einen Moment schwer getroffen, sein Körper dampfte durch den Einschlag der beeindruckenden Fähigkeiten Hermenes, doch bewies der Unbekannte eine außerordentliche Zähigkeit. Einen gewöhnlichen Menschen hätte Herme mit diesem Angriff umgebracht oder zumindest in die Nähe des Todes gebracht, so wie der Unbekannte Marius zugerichtet hatte. Und doch der Unbekannte rannte dampfend hinter eine angrenzende Hauswand und behielt dabei Hermenes Bewegung im Auge, verschaffte sich, als hätte er die Bewegung der Nonne vorhergesehen, wieder eine Schussposition. Die Schwester wurde fast komplett von der Hauswand der studentischen Kate verdeckt, so war es ein abenteuerlicher Versuch zu schießen, er wagte ihn. Ein weiterer ohrenbetäubender Knall, aus der Position schien der dampfende Unbekannte nicht wirklich schießen und treffen zu können. Hermene spürte den Luftzug Kugel, die knapp an ihrem Kopf vorbeisauste. Er hatte verschossen, gerade so konnte sie erahnen, dass er nachladen musste. Sie schien das Zepter in diesem Kampf zu schwingen.
Der Bastard schien es ernst zu meinen. Er wollte sie töten. Sie umbringen. Doch Hermene verstand das Spiel nur zu gut mitzuspielen. Sie bedauerte es, dass ihr Donnerschlag seine volle Wirkung verfehlt hatte, doch sie war noch nicht am Ende mit ihrem Latein.
"Herr, läutere diesen Ungläubigen, der mit den Waffen Satans Unschuldige Menschen angreift, Abbilder deiner Selbst auf Erden", flüsterte sie, wobei sie begann, ihre Finger zu verdrehen, als würde sie etwas kneten und formen. Über dem Kopf des Schützen erschien eine leuchtende Lanze, die sogleich auf ihn herabfuhr, dirigiert von Hermene, die versucht,e den Schützen mit ihrer göttlichen Waffe zu durchspießen. Auch sie wollte ihn töten.
Die spirituelle Waffe, reinster und grobschlächtigster Magie entspringend und durch den wütenden Geist der Nonne genährt und geführt, war im Moment jedoch keine Gefahr für den Unbekannten, welcher sich geschickt zurückzog und sich aus der Sichtweite der Ordensschwester brachte, während der Wind noch immer unbarmherzig und drückend wehte und Hermene den Regen auf den Rücken presste. Ein kalter Schauer durchfuhr sie. Sie wusste, dass er Angreifer sich aus ihrem Sichtfeld zurückgezogen hatte, höchstwahrscheinlich, um seine Waffe nachzuladen. Die Nonne konnte noch klar erkennen, dass er sich hinter der Hauswand befinden musste, denn der grünliche Lichtschein reichte bis in Hermenes Sichtbereich, aber woher sollte sie wissen, ob er wirklich nachlädt? Vielleicht war das eine Falle oder er kletterte gar das Gebäude nach oben, auf das Dach, um eine bessere Position zu haben und dafür ließ er den magischen Stab zurück? Das Gebäude gegenüber der Kate war auch gerade einmal fünf Meter hoch, Hermene kannte es, es war eines der vielen neuen Bureaugebäude der Reedereien.
Hermene hätte gerne geflucht, doch dies wäre eine Sünde gewesen - niemals wollte sie ihren Herren enttäuschen. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen. Sie knirschte leise. Sie entschied sich, dem Schützen nachzusetzen. Sie flog schräg nach oben, an den Giebel des Hauses, und gleitete über dem Dach entlang, sich stets hinter dem Giebel duckend, bis sie auf einer Höhe mit dem Feind war.
Die Schwester konnte erkennen, dass der unbekannte Hüne sich nicht etwa das Dach hochquälte, sondern gelauert hatte, dass Hermene irgendwie und irgendwann in sein Sichtfeld kam. Seine Waffe war bereits wieder geladen. Es wurde schnell deutlich, dass er zum einen, dass er ähnliche Missionen bereits durchexerziert haben musste, zum anderen, dass er aufgrund des Wetter, welches ihn und vor allem sein Gewehr furchtbar durch den starken Wind einschränkte, nicht die Initiative übernehmen wollte. Als er Hermene entdeckte, konnte diese gleich erkennen, was sein Plan sein musste. Er musste sie in eine Umgebung locken, in der ihm das Wetter nicht so behinderte und Hermene ihre Flugfähigkeit nicht zur Gänze ausnutzen konnte. Hermene konnte sehen, dass er trotz der potentiellen Trefferchance nicht schoss, sondern in die Kate sprintete
Hermene eilt über das Dach un platziert sich links neben der Tür. Sie wagt einen Blick hinein - gegebenenfalls würde sie ihre Waffe nachkommandieren und erneut nach dem Schützen schlagen lassen.
Der Schütze hatte auf den Moment gewartet, dass Hermene nur einen Moment in den Raum schaute, um sich der Anwesenheit des verhüllten Hünen zu versichern. Ungehindert vom Wind wollte der Schütze mit dem elfenbeinweißen Gewehr seine Chance nutzen und drückte gleich zweimal ab. Doch er musste dabei vorsichtig sein, denn die spirituelle Waffe, welche nach Abbruch des Blickkontaktes wieder zu Hermene zurückgekehrt war, flog heran und schlug nach dem Schützen, doch dieser hatte ein herausragendes Zeitgefühl und konnte gerade noch abdrücken, bevor die manifestierte Waffe ihn treffen konnte und beugte sich unmittelbar nach Abgabe des Schusses unter dem Schlag der geisterhaften Waffe hinweg und legte sofort wieder an und gab den zweiten Schuss ab.
Hermene musste schmerzhaft erfahren, dass der Mann seine Waffe beherrschte. Sie spürte den aufkommenden Schmerz und das warme Blut, welches aus ihrem rechten Arm lief. Eine Fleischwunde hatte die Kugel am Oberarm gerissen und ließ Hermene stark bluten. Glücklicherweise war ihre Deckung gut und ihre Bewegung schnell genug, dass sie dem zweiten Schuss nicht zu spüren bekam. Das Mauerwerk des Hauses hielt die Kugel auf.
Hermene biss die Zähne zusammen, bis ihr Kiefer schmerzte. Doch sie unterdrückte jeden Laut. Sie wollte sich vor diesem Sohn Satans nicht die Blöße geben. Sie glaubte an Gott, und das machte sie stärker als ihn. Sie würde ihn strafen für seine Sünden.
Sofort ließ sie ihre spirituelle Waffe herabrasen, um ihm möglicherweise endlich weiter zu verletzten. Er sollte ihren Zorn spüren, den Zorn des Herren. Sie erhob die Stimme, dunkel und roh:
"Wer bist du, Narr, dass du dich stellst gegen den einen Herrn, der uns alle aus sich erschaffen hat?", rief sie zu ihm hinüber, und betete um die Unterstützung ihres Gottes, der den Schützen mit seiner Macht Ehrfurcht lehren sollte.
Der merkwürdige Hüne lachte, während er in aller Ruhe nachlud, da der Furchtzauber wirkungslos an ihm abprallte. Sein Lachen erschien wie ein dunkler Spott zu sein und klang mehrkehlig, als hätte das Wesen mehrere Münder oder gar Mäuler. So donnerte seine Stimme in drei unterschiedlichen Höhen aus seinem Hals.
"Welche Anmaßung, zu glauben, dass mein Angriff ein Angriff auf deinen Gott ist. Wer wohl der größere Frevler von uns ist." Seine Stimme zeigte einen starken Akzent, welcher Hermene so vorkam, als hätte er einen französischen Einschlag.
Er blieb stehen, weil auch Hermenes geisterhafte Waffe keine Wirkung entfalten konnte und das Wesen sich mit einem einfachen Ausfallschritt der Zauberwaffe entwandt.
Hermene versuchte erneut, ihre göttliche Waffe gegen den Schützen zu richten. Doch das Pech verfolgte sie - wie konnte das sein? Sie war eine Gesandte des Herrn, wie konnte er ihr nicht beistehen? Es sei denn...Es sei denn der Schütze sagte die Wahrheit. Doch noch war sie nicht am Ende ihrer Kräfte. Sie fokussierte den Schützen und schrie mit donnernder Stimme:
"Lass die Waffe fallen! Sie versuchte, den Schützen zu entwaffnen, um etwas Zeit zu gewinnen.
Das große Wesen wischte den Angriff der körperlose Waffe weg, als wäre diese nicht mehr als eine äußerst lästige Fliege. Doch er unterschätzte die Nonne scheinbar, denn sie merkte, dass er wirklich unkonzentriert war, für einen Moment seinen Fokus verlor und so der Zauber der Ordensschwester nicht widerstehen konnte. Unbeholfen rutschte ihm die Waffe, als hätte er einen Schwächeanfall, aus der Hand. Grunzenderweise musste er nachgeben und unsanft fiel die Waffe zu Boden. Grummelnd schaute er hier hinterher und zog den leuchtenden Stab vom Rücken.
"Du nervst mich, habittragende[2] Hure."Ein fahlgrüner Strahl entwich dem Stab, doch der Nonne gelang es gerade so, ihren Kopf hinter den Türrahmen zu bringen, sodass der Strahl an ihr vorbeisauste. Der Schütze schien genervt.
Hermene war eingeschüchtert. Nicht von dem Schützen, sondern davon, dass Gott an jenem Abend nicht auf ihrer Seite stand. Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie war stets eine Dienerin ihres Herrn gewesen, doch warum ließ er sie nun im Stich? Etwas musste verkehrt gelaufen sein, und sie wollte nicht weiter riskieren, dass ihr Dienst an diesem Tag endete, im Siff und Dreck der Straße, die mittlerweile bedeckt war von Wasser und Regen. Sie brauchte Hilfe, und zwar schnell. Ihre spirituelle Waffe erwies sich als ineffektiv. Immer wieder schlug sie vorbei, und der Schütze stand immer noch - normalerweise sollte er längt am Boden liegen.
Hermene schreckte zurück, als plötzlich auch noch der schwarze Strahl an ihr vorbeischoss. Sie schoss um die Ecke der Tür, wo sie Schutz suchte. Schnell erhob sie sich erneut in die Lüfte, auf das Dach, und wartete, ob der Schütze ihr folgen würde.
Und so verlor Hermene den fremdartigen und merkwürdigen Hünen mit dem französischen Akzent aus den Augen. Dieser tat der Schwester nicht den Gefallen, sich wieder in das unwirtliche Wetter hinauszuwagen. Wahrscheinlich war es keine Furcht, die ihm im Gebäude hielt. Er hatte durchaus realisiert, dass der Starkregen seine Sicht stark beeinflusste und der Wind seine Schüsse in Fortunas Schoß legte. Der Fremde hatte sich in das Haus gerettet, um diese Nachteile auszugleichen und er dachte nicht, diesen Vorteil wieder aufzugeben.
Kurz war Hermene abgelenkt, in der Entfernung hörte sich zwei Explosionen. Aber der Schütze nutzte dies nicht, verließ das Gebäude nicht, wahrscheinlich würde er sich darin verschanzen und auf einen Fehler der Nonne warten.
Auch Hermene schien innerlich ruhig und gelassen zu sein. Sie blickte mehrfach um sich, ob sie jemanden entdecken konnte, der ihr hilfreich erschien. Wo waren eigentlich diese dümmlichen Studenten? Möglicherweise hatten sie beim duellieren tatsächlich etwas gelernt und könnten dem Schützen Einhalt gebieten, wenn schon Hermene es nicht gelingen wollte. Sie sprach ein kurzes Stoßgebet und nutzte die göttliche Gnade, um die Wunde an ihrem Oberarm zu schließen und neue Lebensgeister zu wecken. Sie fühlte sich erquickt. Doch wie sollte ihr weiteres Vorgehen aussehen?
Der Schütze blieb verborgen, die Prise steif und der Regen stark. Dennoch konnte auch die Schwester so etwas verschnaufen und sich eine neue Taktik überlegen, während ihre Magie die schmerzhafte Wunde am Arm schloss. Andererseits hatte auch der Hüne neue Möglichkeiten sich darauf vorzubereiten oder gar aus dem Staub zu machen. Es schien kein grünliches Licht mehr aus der Tür, was darauf verwies, dass er sich nicht in direkter Nähe der Tür aufhielt oder er auf irgendeine Art und Weise den leuchtenden Stab aus der Reichweite gebracht hat oder das Licht verbarg. Ärgerlicherweise wusste Hermene auch nicht, was für Magie sie dort gegenüberstand. Das konnte dieses Duell nicht einfacher machen und zu allem Überfluss schien es so, als wären die Studenten verschwunden. In der Nähe war keine einzige Seele zu sehen, selbst in den meisten, sichtbaren Häusern schien kein Licht. Der Hüne blieb verschwunden. Weit konnte die Schwester jedoch nicht blicken, die Dunkelheit und der starke Regen schränkten die Sicht ein, der Wind hatte fast alle Laternen ausgepustet.
Als Hermene niemanden entdecken konnte, der ihr bei dem Kampf mit dem Schützen helfen konnte – nun eigentlich konnte sie rein gar niemanden sehen – beschloss sie, die Sache abzubrechen und sich zurückzuziehen. Auch wenn ihr die Vorstellung, dieses Ungetüm hinzurichten, durchaus verlockend erschien, so war ihr ihr eigenes Leben doch lieber, und für den Moment sah sie keine erdenkliche Chance. So verblasste sie wieder mit den Umrissen ihrer Umwelt, bis sie schließlch völlig verschunden war, und flog hinüber zu ihrer Heimat und Dienststelle, dem Stift. Hinter einem Busch berührte sie den Boden und eilte hinein in die schützende Wärme und Trockenheit.