6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 11:40 Uhr - Gut Emkendorf
Der Herzog überließ die Schottenfrage seinen Gästen, obwohl er Conrad interessiert zuhörte.
"Wir sollten wieder in die wärmeren Teile des Hauses gehen, Durchlaucht. Es ist kalt und feucht hier unten, eure Gäste sind von der langen und unsanften Reise ermattet. Sie werden nur unnötig krank werden, wenn sie hier unten weilen. Dasselbe gilt für euch, Durchlaucht. Ihnen stünde Schlaf auch gut zu Gesicht." Der Herzog nickte nur müde und dann wurde der kleine Schutzraum verlassen.
"Braunschweiger. Helft dem Herrn von Lütjenburg beim Tragen von Karls Leichnam. Conrad, führt bitte den Haldane mit nach oben." Der Schotte ließ sich widerstandslos, aber mit Problemen beim Aufstieg durch die Fesselung, nach oben führen. Hermene musste damit leben, dass sie ihre Antworten erst später bekommen würde.
Als sie wieder im Musikzimmer angekommen waren und damit Reventlows kaltes Sanktuarium hinter sich ließen, legte der schwarze Braunschweiger die Dielen wieder ein und schob das Musikinstrument wieder drüber, um kurz darauf seine Uniform zu richten und den Staub von den Knien zu wischen. Die Vorhänge waren zugezogen, um dem Schützen kein Ziel zu bieten.
"Keiner stellt sich ans Fenster oder in direkte Schusslinie, es sei denn, er will Lotto[1] um sein Leben spielen.", mahnte der adrett gekleidete Mann an, als er sich an die Wand nahe der Tür lehnte. Es waren genug Sitzhocker in der Farbe cremigen Elfenbeins vorhanden, sodass sich jeder außer dem Braunschweiger und dem Haldane setzen konnte, wenn er wollte. Der Herzog setzte sich vor den gleichfarbigen Flügel und legte einen Hand auf das Holz, während er tief durchatmete. Der Braunschweiger warf ihm einen finsteren Blick zu, weil er damit im Schusslinie eines möglichen Schützen saß. Friedrich kratzte sich den Bart und blieb ungerührt sitzen, hieß den Braunschweiger lediglich ein Feuer im Kamin zu entzünden, da es kalt war. Der alte Kamin war neben dem Flügel das einzig schmückende Element des Musikzimmers. Nochmals atmete der Mann durch, während sich der Haldane in eine bequemere Position zu begeben versuchte, dabei musterte er Conrad, der seine Sprachkenntnisse enttarnt hatte, aufmerksam. Seine Lippen bewegten sich ein bisschen, aber sie brachten dann doch kein Wort hervor
[2].
Im hellen Raum schien Hermene weniger bedrohlich auf den Herzog, der nicht zuletzt aufgrund der merkwürdigen Geräuschkulisse bereit war, das kleine, eiskalte Refugium zu verlassen und wieder in das angegriffene Haus zurückzukehren. Dennoch hatte er die Nonne aufmerksam im Blick, sie machte ihm noch immer Sorgen. Nachdenklich blickte er auf ihre Kutte und dann in den Kamin, wo langsam ein wärmendes Feuer zu lodern begann, welches der Braunschweiger mit Zündhölzern und einer alten Zeitung entzündete. Friedrich antwortete nun Hermene.
"Die Verträge waren nicht in meinen Händen, als sie gestohlen wurden. Sie lagen in Kiel in einem Vertretungshaus meines Hauses[3] und dort sollten die Abschriften für die weiteren Unterzeichner angefertigt werden. Das waren die beiden dänischen Könige, zwar ist Friedrich VII. Karl Christian von Dänemark[4] bereits verstorben, aber seiner Witwe[5] hätten wir als Zeichen des Beweises eine zukommen lassen. Christian IX. von Dänemark[6] sollte eine bekommen, ich wollte noch eine zweite Abschrift für mein Haus haben, dann sollte Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen[7] noch eine Abschrift bekommen, da sein Diplomat Karl Georg Ludwig Guido von Usedom[8] an den Verhandlungen beteiligt war. Mein Verwalter und Skriptor sollte den Vertrag vervielfältigen. Doch er wurde bereits Stunden nach Empfang des Schriftstückes von einer Gruppe von Männern überfallen und das Schriftstück wurde gestohlen. Rädelsführer war Marius Pedersen, wahrscheinlich waren andere Studenten daran beteiligt. Wir konnten die Verträge nicht auffinden und Marius Pedersen entschlüpfte uns mehrmals. Mein Skriptor, Burkhard Tietje, wurde bei dem Angriff schwer mit Degenstichen verwundet, die beiden Wachmänner, welche inkognito über Tietje wachten, wurden gar getötet. Die Bewaffnung lässt ebenfalls auf Studenten schließen. Einen der beteiligten Männer konnten wir festsetzen, aber der schweigt noch beharrlich. Lediglich die Spur zu den Nobelbrüdern haben wir gefunden. Sie sehen, wir haben es nicht mit dahergelaufenen Studenten zu tun, sondern mit...durchorganisierten Aufständischen, welche eventuell sogar von Dänemark angeheuert wurden. Am 28. September wurde die spätere Novemberverfassung das erste Mal vorgelegt. Am 9. November haben wir dann den Vertrag geschlossen, damit es nicht zur Novemberverfassung kommt. Am 15. stirbt jedoch Friedrich, in der Nacht von 17. auf den 18. verschwindet der Vertrag und am 18. unterschreibt Christian die Novemberverfassung[9]..."Friedrich atmete wieder durch und stand auf. Er ging zum Kamin, um sich seine Hände am Feuer zu wärmen. Leise knisterte es. Selbst durch die Vorhänge erahnte man nun, dass die Sonne langsam von Wolken verdunkelt wurde. Wind klopfte an die Fensterscheiben. Friedrich fasste scheinbar einen Entschluss, während er so am Feuer stand.
"Aber Schwester Hermene. Sie sollten vielleicht anfangen, sich um dahergelaufene Studenten und weltliche Politik Gedanken zu machen. In Dänemark gibt es nur die Lutherische Staatskirche[10], selbst im Herzogtum Schleswig ist der katholische Glauben noch verboten, solange meine Herzogswürde nicht vollkommen anerkannt ist. Dann würden Sie und der Papst mehr verlieren, als nur ein paar Menschen im Altenstift. Denken Sie auch bitte daran. Und denken Sie daran, dass die katholische Kirche vielleicht auch ein Symbol neu gewonnener Kraft benötigt, wenn es auch nur kleines Zeichen sein mag. Aber soweit ich weiß, lebt der weltliche Kirchenstaat nur, weil französische Truppen ihn verteidigen[11]." Leise pfiff der Wind durch die nur leidlich dichten Fenster.
6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 21:09 Uhr - Frau Borggrefes Haus, Unter Arrest
Vor der Tür stand Oberstwachtmeister van Widdendorp, an dessen ganzem Körper schmelzende Schneekristalle hingen, die er gar nicht wegzuwischen versucht hatte. Neben ihm stand ein grimmig dreinschauender Doktor Kern, der trotz der geöffneten Tür noch mit nervös tippelnden Fuß dastand. Die Stelzenbeine des OWM waren dagegen still, es schein, als habe er nur seinen Arm zum Klopfen bewegt. Hinter den beiden Männern standen Fritz und Hammer, die beiden Obergefreiten, welche sowas wie ständige Begleiter für Alfred inzwischen waren. Sie hatten die beiden betrunkenen Röschmann und Rix inzwischen abgelöst. Sie hatten zwischen sich eine Trage, auf der ein sich nur leidlich bei Bewusstsein befindlicher Emil lag. Das Keuchen kam jedoch nicht von Emil, sondern von Fritz, vom Obergefreiten mit dem markant vorstehenden Kinn, der sich augenscheinlich durch das schlechte Wetter und die dauernde Übermüdung eine Erkältung eingefangen hatte.
Emil schien seinen Bruder kaum wahrzunehmen, seine Augen waren nur halb geöffnet und er brabbelte mehr als dass er sprach. Doktor Kern bemerkte Alfreds Blick und hob beschwichtigend eine Hand.
"Wundfieber. Nichts, was wir nicht in Griff kriegen würden, Herr Nobel." Noch immer tippelte der Fuß des Mannes.
"Er hat Fieberträume. Aber das wird sich geben. Haben Sie ein Feuer entzündet, Herr Nobel? Man könnte Kiel an diesem Abend glatt denken, man wäre auf der unglückseligen Franklin-Expedition[12] und an Bord der Erebus oder der Terror." Bei den Worten schüttelte sich der Doktor und klopfte sich den restlichen Schnee von den Schultern.
Van Widdendorp nickte den beiden Obergefreiten zu und sie trugen Emil Nobel in das Zimmer und verlegten ihn dann in Alfreds Bett. Der OWM entließ die beiden Obergefreiten dann, sie durften auf ihr Zimmer zurückkehren.
"Meine Güte, Herr Nobel. Es riecht hier drin wie in einer Hafenspelunke. Haben sie gesoffen?", fragte der Oberstwachtmeister und blickte in der Dunkelheit umher. Doktor Kern entzündete ohne Aufforderung den Kaminofen.
"Es ist wirklich wie auf der Expedition hier drin. Wenn Sie ihren Bruder schon bei sich haben wollen, Herr Nobel, dann müssen Sie auch zusehen, dass es hier drin warm wie bei der Baikieexpedition[13] ist.", tadelte der Doktor Alfred, während er etwas altes Papier in den Ofen warf, um das Entzünden zu beschleunigen.
"Ich werde morgen früh wieder nach Emil schauen. Solange passen Sie auf ihn auf. Aufgrund des hohen Blutverlustes kann ich ihm leider nicht noch mehr Schmerzmittel verabreichen. Sollte es nicht nachlassen und seine Schmerzen zu stark werden, werden wir morgen früh über Opiat-Nutzung reden müssen. Hier haben Sie noch etwas Verbandsmaterial, falls seine Wunde aufbrechen sollte. Sollte er sich zu ruckartig bewegen und seine Narbe aufbrechen, zögern Sie nicht, den Obergefreiten Rix zu wecken. Er ist ausgebildeter Feldscher. Er wird sich darum kümmern, bis ich Ihnen morgen wieder zur Verfügung stehe. Eine gute Nacht."Der Arzt ließ auch die für eine Neuvernähung notwendigen Werkzeuge liegen.
"Achja, schauen Sie alle drei Stunden bitte, um sich die Wunde nicht entzündet hat." Dazu erklärte er, welche Stellen am Bein Emils Alfred zu betasten hatte, um das herauszufinden, ohne Emil zu stark zu quälen oder die Wunde zu berühren.
Dann wandte sich der Doktor bereits zum Gehen, aber van Widdendorp folgte ihm nicht, sondern betrachtete Alfred im schwachen Schein des Kanonenofens.
"Alles in Ordnung, Herr Nobel? Sie sehen...miserabel aus. Gibt es etwas, was ich für Sie tun..." "NEIN! ICH WAR ES NICHT!", brüllte Emil wie vom Teufel geritten dazwischen.
"ES WAR NICHT MEINE IDEE! ICH SCHWÖRE ES! NEIN! ICH HABE NICHTS GETAN! AAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!", Emil schrie auf und hielt sich seine Wunde, als hätte jemand ein glühendes Stück Eisen in die Wunde gerammt. Der Doktor rannte sofort zu Emil, der jedoch nur weiterschrie. So schnell wie der Schrei und der Schmerz kamen, so plötzlich lag Emil wieder ruhig in seinem Delirium da und blabberte wirres und schwer verständliches Zeug.
"Das kann häufiger passieren, ist aber nicht wild. Das Delirium macht das.", versuchte Doktor Kern Alfred zu beruhigen. Dann wandten sich der Oberstwachtmeister und Doktor Kern wirklich zum Gehen. Der OWM nickte Alfred zu.
"Das Wetter ist beschissen. Das wird eine ruhige Nacht. Kümmern Sie sich um ihren Bruder und machen Sie zwischendrin auch die Äuglein mal ein, zwei Stündchen zu. Sie werden sehen, morgen sieht die Welt schon wieder besser aus."Behutsam schlossen sie die Tür hinter sich.
"Es tut mir Leid, Alfred...Das war alles nicht meine Absicht...", flüsterte Emil nachdem die Männer gegangen waren.
"Sie haben mich erpresst, ich schwöre es bei unserem Vater. Sie haben mich erpresst!." Tränen rannen das Gesicht von Alfreds jüngerem Bruder herab.
"Sie haben mich erpresst...Sie sagten, sie würden sonst..." Jetzt weinte Emil hemmungslos.