10. Jantus 1214 - Die vergessene Gruft - 02:30 Uhr
Dhurek kämpfte sich durch die tief hängenden Spinnenweben und durch das Wurzelwerk, welches sich tief in das Gewölbe vorgewachsen hatte. Der Weg war beschwerlich, seine gebückte Haltung und sein Krückstock waren Ausdruck dessen, dass er kaum noch Kraft in seinen alten Knochen hatte. Er, der höchste Archivar der Kirche, hatte inzwischen nur noch in Strähnen hängendes, lichtes Haar, welches wild gewachsen war und der Pflege, die es sonst erfuhr, entbehrte. Er trug keine feierliche Robe mit viel Gold und in strahlenden Farben des unterschiedlich brechenden Sonnenlichts, sondern einen einfachen grauen Überwurf. Sein Aussehen spielte keine Rolle mehr, ein inzwischen unregelmäßiger Bart stand im von Falten und Altersflecken übersähten Gesicht. Er hatte sich weitestgehend verhüllt, als würde sich ausgerechnet ein Mitglied des Triumvirats der Sonne vor Vecor verbergen wollen.
Und Dhurek hatte jeglichen Grund dazu. Entgegen den Willen des Triumvirats hatte er die Archivare über Monate suchen und recherchieren lassen. Dhurek hatte die Herrschaftsübernahme von Thuras IV, die Vereinigung von Reich und Kirche, nicht verkraftet. Er hatte alle Wege ausgelotet und alle Bücher gewälzt, jede Untergangsprophezeiung der letzten 1200 Jahre studiert, überall nach Hinweisen gesucht und er hatte keine Möglichkeit gefunden, wie er Thuras Versagen verhindern konnte, außer...
Empörung war durch das Triumvirat geschwappt, man drohte ihm damit, sogar Thuras IV. darüber zu informieren, der noch kein Teil des Triumvirats war, sondern diesem einfach überstand. Dhurek, der aufgrund seines hohen Alters und seiner schwächer werdenden Konstitution immer kritischer beäugt wurde, stand kurz vor der Exekution durch die anderen Mitglieder. Nur das Wissen, dass Verrat und Unruhe in den eigenen Reihen auch die Reste der Kirche zerstören würde, hielt sie davon ab. Sie versuchten Dhurek kalt zu stellen, aber dieser floh mit dem unheilvollen Wissen, dessen Nutzung er vorgeschlagen und dessen Inhalt das Triumvirat so sehr erschüttert hatte. Die Geheimnisse der Kirchen Manhêls
[1] und Dagurs
[2] waren sicher in einer wasserfesten Umhängetasche an seiner Seite. Er befühlte die Tasche, während er sich die letzten, steilen Treppen hochzog. Sein aschgraues Haar war schweißnass und seine braunen Augen wirkten noch tiefliegender und müder als sonst, aber er durfte jetzt nicht aufgeben. Er würde die Waffen der Feinde benutzen, um seine Kirche und sein Reich zu retten.
Er hatte von ihnen gelesen, von den acht großen Versagern, den namenlosen Königen, von denen man kleinen Kindern erzählte, wenn sie ihre Codextexte des Vecors nicht auswendig lernten. Man würde sie vergessen und sie würde bestrafen dafür, dass sie es wert waren, dass man sie vergaß. Diesen Wesen drohte das Nichts. Das blanke und ewige Nichts. Dhurek wusste nicht, ob dies so wahr war, aber er hoffte es. Das Unleben im Nichts, es würde den Versagern die Sporen geben, sich um Rehabilitation zu bemühen. Das hoffte er inbrünstig. Niemand wusste, dass diese acht namenlosen Könige wirklich existent waren, dass sie nicht nur ein unwichtiges Ammenmärchen waren, sondern Realität. In einer von abertausenden Prophezeiungen las er dann genaueres über sie. Dhurek hatte nie etwas von Prophezeiungen gehalten, es gab so viele, so verdammt viele von ihnen und alle waren so vage und erbärmlich, dass sie auf alles oder auf nichts zutrafen. Die Prophezeiung, welche das Ende des Kontinents beschwor, wenn die acht Namenlosen zurückkehrten, war genauso eine Prophezeiung. Es würde Feuer regnen, Jungfrauen würden Kinderfresserin und alle Männer, die mehr als zwei Frauen im Leben hatten, Schweine werden. Sie war selten lächerlich, aber sie berief sich auf einen Propheten namens Kas Hitas und dieser Mann war besonders. Nicht nur war dieser Mann besonders pervers und besonders boshaft, er war auch besonders gerissen und besonders belesen. In seinen Erinnerungen fand Dhurek die Namen der vorher Namenlosen. Seine Vermutung, dass sie keine Ammenmärchen waren, sie bestätigte sich.
Mephala, Nicos, Johannes III, Clavius, Elemvos IV, Mauron IV, Tutari und Valash waren ihren Namen, er hatte viel über sie gelernt und doch nur Oberflächliches. Er öffnete die letzte Tür, es roch bereits nach Weihrauch. Die umherhängenden Spinnenweben und die abgeschlagenen Wurzeln, sowie die Rus- und Blutspuren verrieten ihm, dass seine Golems schon da waren. Hier und da waren hörte er ein leises Quietschen von ihnen, was beinahe wie hoffnungsloses Wispern klang. Es erfüllte ihn mit stolz. Er hatte all seine Ressourcen gesammelt, um sie zu bekommen. Seine Opfer für Dagur. Er öffnete die Tür.
"Meister, alles vorbereitet.", die mechanische Stimme eines strahlend polierten Stahlgolems erklang kurz und lakonisch.
"Sehr schön." Dhurek blickte zwischen seinen drei Golems hin und her. Ein Lebensalter hatte er an ihnen gearbeitet, einer war schöner und mächtiger als der Nächste. Alle waren sie aus Stahl, hochpoliert und sein mächtigster Golem, den er liebevoll Tod nannte, hatte sogar einige spiegelnde Flächen aus Quecksilber. Immer wieder lief das Quecksilber durch seinen Kopf, sodass seine großen Augen immer wie feucht und glänzend waren. Er sah, dass die mumifizierten und kaum verwesten Leichen an den aufgebauten und dem Manhêl geweihten Holzpfählen hingen. Das taten sie seit vierundzwanzig Stunden. Die unheiligen Sargnägel des alten Dagurkultes waren wahrhaft magisch, obgleich sie rostig aussahen, hielten sie ausgezeichnet. Kein alter König war von dem Pfahl gerutscht.
Dhurek konnte sich ihr Leiden gar nicht vorstellen. Dagurs Nägel quälten die Könige in Manhêls Nichts seit unvorstellbaren Zeiten. Was hier vierundzwanzig Stunden sein mochten, waren dort vielleicht gefühlte oder tatsächliche Äonen sein. Vielleicht reiner Schmerz, der immerhin das Nichts ein Stück weit durchstieß.
"Dagur!", intonierte der alte Mann mit jetzt fester und mächtiger Stimme.
"Ich rufe dich an. Ich habe deinen Willen getan, tausendundeinen Mann, tausendundeine Frau und tausendundein Kind geopfert, um die Seelen der Könige aus Manhêls Netz zu befreien und sie zurück an ihre Körper zu binden. Dagur, ich verneige mich vor deiner Macht!"Für jeden König musste Dhurek zusätzlich einen wahren Engel töten und dessen Blut stehlen. Es hatte ihn fast eine Legion gekostet, um an acht Engel ranzukommen. Wieso hat das Triumvirat sein Opfer nicht gesehen? Warum hat Vecor ihn verstoßen? Ist Vecors Sohn Adeodatus
[3] nicht selbst ein Engel gewesen, den Vecor zu töten gedachte? Er sah seine Tat in Dagurs Namens als eine Tat für Vecor an. Kein Pfaffe konnte ihn von dieser Meinung abbringen. Für jeden König musste er einen geheiligten Krug Engelsblut vergießen. Er wusste, er konnte Böses nur mit Bösem vergelten. Deswegen musste er die vielleicht bösesten Könige Zhuras wiederbeleben, um das Reich vom jetzigen Bösen zu befreien. Ja, das würde er tun.
Er hatte den Golems bereits genaue Anweisungen gegeben. Seine drei Golems würde je einen König bewachen. Wenn die Wiederbelebung schief ging oder seine neuen Diener nicht seinem Willen gehorchten, würden die Golems die alten Knochen der für Zhuras namenlose Könige einfach ein für alle mal zermalmen, dann würden nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Gebeine in das Vergessen driften. Seine drei Golems hatte schon so einiges zermalmt, untote Könige würden sie auch schaffen. Damit kein König fliehen konnte, würde er erstmal nur drei Könige zurück ins Leben holen, in Dagurs Form pressen.
Doch wen sollte er wählen? Die Entscheidung war schwer. Er kratzte seinen weiß gewordenen Bart. Der kleine Junge mit dem Zwergenbewacher interessierte ihn, ebenso wie die erste namenlose Königin und der, bei dem in den Erinnerungen des Kas Hitas stand, dass er seinen Bruder wie eine Frau liebte. Elemvos IV, Mephala und Clavius. Sie waren die ersten Könige, die er zurückholen wollte. Vorsichtig nahm er die Krüge von dem Zeremonientisch. Er blickte sich in dem Raum um. Die Sarkophage waren alle von den Golems zertrümmert worden, nur ein geschlossener, neunten Sarkophag wies nur ein wenig abgeplatzten Stein auf. Kein Hammer, keine Magie konnte ihn öffnen, und er stand in der Mitte des Raumes, deswegen hatte Dhurek ihn zum Zeremonientisch umgewandelt. Die Trümmer der anderen Sarkophage waren bereits entfernt, es gab kein Zurück mehr für die Toten. Keine Ruhe, ehe sie Zhuras gerettet hatten. In dem oktagonalen Raum war jeder Alkoven fast geleert wurden, Schmuck besaßen der Raum an sich nicht. Lediglich die mit ihnen bestattete Ausrüstung der Könige lag noch in ihren Alkoven. Vor den Alkoven waren die Pfähle aufgestellt, an dem die Könige wie bei einer Kreuzigung hingen.
Vorsichtig goss er die drei Krüge um, in die Opferschalen, welche vor den Pfählen von Elemvos, Mephala und Clavius standen.
"Dagur. Lass sich erwachen. Schenke ihnen ein neues Leben. Ein wertes Leben. Ein Unleben." Die acht gespenstisch leuchtenden Fackeln erloschen beinahe, kühler Wind zog durch die Kammer. Und dann erwachten sie. Elemvos und der achtlos in den Alkoven geworfene Zwerg, Mephala und Clavius. Schmerzhaft verbrannten die Nägel, welche durch ihre Handgelenke und Fußgelenke geprügelt worden waren. Während sie unsanft auf dem kalten und unverzierten Steinboden aufschlugen, hörten sie ein triumphierendes, unweltliches Lachen, welches sogar ihren Gastgeber Dhurek zusammenzucken ließ.
"Seid gegrüßt. Vecors Licht wird wieder auf euch scheinen.", grüßte der alte, wirr dreinblickende Mann die Wiedererwachten mit glotzendem Blick und brüchiger, fast weibischer.
"Ihr seid wiedergeboren, weil Dagur es wollte und Manhêl es zuließ. Ihr seid wieder da, um Vecor zu ehren und sein Reich zu retten.", lachte der alte Mann jetzt triumphierend und mit warmer Stimme, während drei mächtige, fast vier Meter hohe Stahlgolems, die wie lebende Ritterrüstungen aussahen und alle gefährlich große Zweihänder trugen, deren Parierstange wie die Sonne Vecors geformt waren, sich schützend um und halb vor den Vecorarchivar stellten. An den Golems prangten überall die Zeichen des Sonnengottes, doch an dem Menschen nicht. Er kraulte sich selbstzufrieden im Bart. Das Leben hatte ihn ohne Frage gebeugt, doch jetzt strahlte er Stolz aus
[4]. Einen so unfassbaren Stolz, dass es dem alten Mann jetzt die Sprache verschlug. Er versuchte etwas zu sagen, doch erstaunt, neugierig und von sich selbst eingenommen blickte er auf die wiedererweckten Könige und den dazugehörigen Zwerg. Es hatte tatsächlich geklappt, sie waren erwacht!