Noch immer war Alvanon dabei, sich an seine neue Sicht zu gewöhnen, als eine weibliche Person auf ihn zukam und ihn musterte. Als er sie betrachtete, merkte der Gesichtslose, dass seine neue Art zu sehen nicht merklich schlechter war als die alte, und so testete er sie an der Frau aus, die auch ihn so neugierig betrachtete. Er musste zugeben, dass sie für einen Mensch nicht schlecht aussah, sogar auf eine bestimmte Art interessant – wenn auch nicht anziehend, auf die Art, die für königliche Dirnen wichtig war. Er musterte ihre schlanke Gestalt und das dunkle Haar und bildete sich für einen kurzen Augenblick ein, dass unter den Strähnen spitze Ohren lauern konnten. “Unsinn!“, schalt er sich in Gedanken, doch dann blieb sein Blick an den Augen der Frau hängen. An seinem sterblichen Körper hätten diese Augen mit Sicherheit ein leichtes Schaudern ausgelöst, so spürte er nur, wie seiner Seele die sprichwörtliche Gänsehaut herablief.
Die Frau wandte sich wieder ab, nicht ohne ihm einen Ratschlag leise zu hinterlassen, über den er in der Tat einen Moment nachdachte. Vielleicht sollte er sich doch lieber zu Vecor bekennen, denn er hatte das ungute Gefühl, dass alles andere ihm nicht gut bekommen würde. Doch zunächst kreisten seine Gedanken noch um die scheinbar in jungen Jahren befindliche Frau mit den seltsamen Augen, die so verstörend wirkten. Ihn wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas mit diesem Ritual zu tun hatte. War sie eine Dienerin des sich so seltsam kleidenden Kerls, der ihn als Hoheit adressierte? Oder war dies nur eine Maske? Eine Rolle, die sie einnahm? Sie wirkte nicht so sehr von Vecor eingenommen, wie derjenige, der von dem Lichte Vecors sprach.
Der Elb schüttelte bei dem Gedanken instinktiv den Kopf. Vecor war nicht die Gottheit, die er verehren würde, ganz gleich, wie oft er durch seine Macht wieder ins Leben zurückkehren konnte, wenn man davon überhaupt sprechen konnte bei diesem unwürdigen Zustand, in dem er sich befand. Er blickte sich nochmals um in der Halle und entdeckte zwei Gestalten, die am Boden knieten. Sie waren beide Menschen, bärtig, ungepflegt und barbarisch in ihrer Art, und Alvanon konnte nicht anders, als Mitleid zu empfinden für die Unterwerfung, die sie symbolisierten. War es denn so einfach, den Willen eines Menschen so zu verbiegen, wie man es gerade wollte? Immerhin hatte der kräftigere der beiden ein wenig Trotz in seinem Blick, doch die Geste der Unterwerfung war dennoch vorhanden. Alvanon seufzte. So tief würde er nicht sinken, nicht freiwillig, nicht wenn es noch einen anderen Ausweg gab.
Er schaute zu den großen Schreckgestalten, die majestätisch in der Halle thronten und erblickte dabei wie zufällig eine weitere Frau, die er nicht weiter beachtete, wie sie so auf ihrem Felsen hockte, und dazu noch einen Zwerg. “Was bei den Göttern…“, entwischte es ihm, und er war zufrieden damit, dass es überrascht klang, obwohl er sich nicht darauf konzentrieren musste. Sein Körper gehorchte ihm scheinbar wieder mehr. Die Überraschung war auch echt, mit einem Zwerg hatte er nicht gerechnet. Er war nicht wirklich ein Freund der kleinen Erdbewohner. In ästhetischer Hinsicht waren sie sogar noch unter den Menschen und nur ganz knapp vor den Orks anzusiedeln, doch hatten sie immerhin ein gewisses künstlerisches Geschick im Umgang mit Steinen inne. Alvanon schüttelte den Kopf und wandte sich dem Priester zu, für den er die Gestalt hielt, die so große Reden schwang von Vecor. “Ihr habt mich in diesen Körper gebannt, Vecors Macht hat euch dazu geholfen, doch spürte ich vor allem den Ruf Dagurs, als meine Seele den Weg zurückfand in diese Welt. Deswegen gilt mein Dank nun Vecor, dessen Macht unermesslich erscheint, und der ewig am Himmel fortbestehen soll. Gepriesen sei seine Gnade und Güte. Das gleiche gilt jedoch auch für Dagur, dessen Ruf ich vernahm.“ Der Elb legte seinen Kopf ein wenig schief. Ein Treueschwur wurde gefordert. Er hoffte dennoch, dass dies bereits ausreichen würde, wenn nicht, würde man ihn sicherlich darauf aufmerksam machen.
Nachdem dies erledigt war, bemerkte Alvanon eine Bewegung bei dem Zwerg. Er wurde auf ein Kind aufmerksam, welches in der Steinnische nach etwas zu suchen schien. Der Anblick war so absurd, dass der Elb beinahe gelacht hätte, wäre die ganze Situation durch die anhaltende Bedrohung nicht so ernst. Was machte ein Kind hier? Und Alvanon traute seiner Wahrnehmung kaum, aber er war sich sicher, dass dieses Kind tot war, beziehungsweise untot. So wie er auch. Einer Idee folgend schaute er einen nach dem anderen in diesem Raum an und erblickte in den meisten Gesichtern ebenfalls nun deutliche Anzeichen dafür, dass der Tod ihre Körper bereits heimgesucht hatte. Selbst das Gesicht der Frau mit den besonderen Augen wies diese Anzeichen auf. Wie konnte er das nur übersehen? “Junge Dame…“ wandte er sich an sie. “Was geht hier eigentlich vor? Warum werden wir von den Toten wiederbelebt?“ Er erhoffte sich von ihr mehr antworten, als von dem befremdlichen Mann. Sie schien ihm durchaus auch sympathischer zu sein, immerhin drohte sie nicht mit dem Tod, sondern deutete ihn nur als sehr wahrscheinliche Eventualität an, falls man sich nicht unter Vecors Joch beugte – ein feiner, aber nicht zu verachtender Unterschied.
Schließlich bemerkte er die Grabbeigaben. Und nun lachte er doch leise. “Haben mir diese Tölpel meine Masken mit ins Grab gegeben. Wie töricht!“ Er nahm sich die Maske, die eigentlich nur ein Rohling zu sein schien. Doch dieser Rohling war es, der ihm nötige Sicherheit gab, wenn er eine neue Identität annahm. Er konnte sich in die Anonymität zurückziehen, sodass niemand erkannte wer oder was er war. Heute jedoch war dies nicht der Grund, warum er die Maske sogleich aufsetzte. Sie gab ihm Sicherheit, etwas aus seinem alten Leben. Und sie verbarg die Ruine, die einst sein Gesicht war. Endlich war sein Körper wieder vollständig.