Sébastien war, während er Blancs Ausführung verfolgte, leicht irritiert. Der Mann war wortgewandt, keine Frage, doch fand seine Art bei Sébastien nicht sonderlich Anklang – was vielleicht daran lag, dass sich der junge Arbeiter tatsächlich recht unwohl in diesem Gespräch fühlte. Teils hatte er etwas Mühe, zu folgen. Nicht, weil er die Bedeutung der Worte nicht verstand, sondern weil er Sinn dahinter suchte, eine Intention. „Dreister, alter Mann“ nannte Louis Blanc sich selbst, wenn er dies auch den Gedanken seines Gesprächspartners zuschrieb… Berechtigterweise. Sébastien gefiel nicht, wie Blanc mit ihm umsprang, es versetzte ihn noch immer in Unruhe. Nein, kein „Puuf“. Der Druck war keinesfalls weg, auch wenn Sébastien versuchte, die Anspannung, die ihn befallen hatte, loszuwerden. Das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, Dinge richtigzustellen, war nach wie vor gegeben.
Zu widersprechen wäre eine Option gewesen, denn so, wie Blanc die Blanquisten darstellte, war es sehr negativ und pessimistisch dargestellt. Das Gefühl, dass er von seinen Kameraden ausgenutzt und manipuliert wurde, hatte Sébastien nicht. Er fühlte sich wohl unter Seinesgleichen – nicht so hier, in Gegenwart Blancs, dessen Worte genauso provokant waren wie die Art, in der dieser Mann sein Croissant vertilgte. Der Behauptung zum Trotz, sich nicht streiten zu wollen, trug Blanc jedenfalls nicht viel dazu bei, um bei Sébastien nicht anzuecken. Vielleicht hatte Blanc gewissermaßen Recht: Die Blanquisten waren bereit, für ihre Sache ihr Leben zu geben. Unmittelbar geholfen war damit noch niemandem, mit dem Heldentod, zumindest, wenn es chaotisch von Statten ging, so wie Blanc es beschrieben hatte… Aber genau deswegen planten sie ja, den Arbeitern ihren Louis wieder zurückzugeben.
Ungeachtet dessen wurde Sébastien den Eindruck nicht los, dass Blanc mit ihm spielte, ihn in eine bestimmte, anti-blanquistische Richtung zu lenken, was sich final durch bestätigte, dass Blanc ihm die „freie Wahl“ ließ, sich statt der Darboy-Aktion für eine Anstellung beim Bürgermeister Montrematres zu entscheiden. Hatte Sébastien sich zuvor bemüht, nicht sonderlich gequält oder verstimmt dreinzublicken, verfinsterte sich seine Miene bei Blancs letzten Worten schließlich etwas.
Doch war es nicht Blanc, den Sébastien vorwurfsvoll ansah, als man ihm das Wort überließ, sondern Archille. Archille, der in sein Weinglas starrte, anstatt Sébastiens Blick zu erwidern. Wohl vom schlechten Gewissen geplagt – und das nicht ohne Grund!
„Ich dachte, du seist mein Freund, Archille“, sagte Sébastien etwas kühl. Er fühlte sich in eine Falle gelockt. „Ich weiß, dass dir unser Plan nicht zusagt, aber das gibt dir nicht…“
Nein, er unterbrach sich selbst, bevor er laut wurde. Er schnaubte stattdessen.
„Was hast du dir dabei gedacht?“
Er führte dies an dieser Stelle nicht näher aus. Er war aufgewühlt und Archille konnte sich sicher denken, dass er sich darüber empörte, dass er einerseits Details ausgeplaudert und andererseits Sébastien selbst in diese aktuelle Situation gebracht hatte.
Sébastien wartete keine Reaktion ab, sondern wandte sich direkt Louis Blanc zu.
„Sie, Monsieur, Sie stellen mich vor eine Wahl, die ich nicht treffen möchte“, stellte er ernst klar, fühlte sich allerdings nicht selbstsicher, sondern wie ein in eine Ecke getriebenes Tier.
„Entweder soll ich meine Freunde, meine Brüder hintergehen, indem ich sie im Stich lasse, oder aber meine Familie, denn nichts anderes wäre es doch, wenn ich Ihr Stellengebot ablehne, nicht wahr?“
Es war eigentlich eine unverhoffte Gelegenheit, eine beinahe schon glückliche Wendung für Sébastien, Arbeit angeboten zu bekommen. Gut bezahlte Arbeit, wie er vermutete. Denn um seine jetzige Stelle stand es vermutlich nicht erfreulich, da heute nicht der erste Arbeitstag war, den er versäumte. So etwas wurde, selbstverständlich, nicht gern gesehen. Nicht von seiner Frau Joséphine (weswegen Sébastien sich auch davor hütete, nun, da er eigentlich arbeiten sollte, Zuhause vorbeizusehen), aber auch nicht von seinem Arbeitgeber – einem ihrer Gegner im Kampf um Freiheit und Gleichheit, wenn man so wollte. Doch derzeit war Sébastien, war Sébastiens Familie, von dem Lohn abhängig, den er verdiente. Joséphine wäre nicht erfreut zu erfahren, wenn Sébastien seine Anstellung verlieren würde… Das wäre fatal. Er konnte eine Anstellung beim Bürgermeister sehr gut gebrauchen, das stand fest. Allerdings…
„Sie wollen mich also nicht manipulieren, nein? Das hört sich für mich ganz anders an.“
Es war für ihn nur natürlich, auf die „freie Wahl“, die Blanc ihm anbot, misstrauisch und abweisend zu reagieren.
„Sie wollen nicht, dass ich helfe, Blanqui zu befreien, also bieten Sie mir… was eigentlich?“, verlangte er zu wissen. „Geld? Ansehen? Macht? Soll ich Ihrem Freund Clemenceau den Rücken freihalten? Wahlzettel sortieren? Oder seine Möbel reparieren?“
Sébastien schnaubte erneut.
„Ich bin Tischler, Monsieur Blanc“, betonte Sébastien, „kein gebildeter Mann, der mit Zahlen und Worten jonglieren kann, so wie Sie es wahrscheinlich tagtäglich tun. Habe ich den Eindruck vermittelt, dass ich eine größere Rolle spielen möchte als meine Brüder im Geiste? Vielleicht will ich mich gar nicht gar nicht von den anderen Arbeitern abheben, haben Sie daran schon einmal gedacht? Gleichheit, darum geht es doch. Um Kameradschaft. Das Nutzen der Gelegenheit, solange noch Zeit dafür ist und Thiers sich nicht wieder einmischt.“
Sich zu wehren, Trotz zu beweisen, hatte vielleicht keinen Sinn. Sébastien war sich bewusst, dass er sich in einer furchtbaren Zwickmühle befand. Nein: Er wollte die Wahl, vor die Blanc ihn stellte, wirklich nicht treffen. Aber blieb ihm nun ein Ausweg? Sébastien sah keinen. Entweder, oder – zwei Optionen. Er sank in seinem Stuhl zurück.
„Sie wollen also wissen, was ich sage“, nahm er resigniert, nach einer kurzen Pause, wieder das Wort auf, fixierte dann allerdings Archille, als er fortfuhr:
„Ich kann François und Nicodème das nicht allein tun lassen. Wir wollen niemanden verletzen. Das ist alles nur Schau. Wir wissen das, natürlich, doch falls es zu Schwierigkeiten kommt…“
Sébastien mochte es sich nicht vorstellen.
„Ich würde mir nie verzeihen, wenn den beiden etwas zustieße und ich nicht da gewesen wäre, um das zu verhindern.“
Ein Verrat an seinen Freunden, gerade an François, konnte Sébastien nicht mit seinem Gewissen vereinen.
Nun suchte er wieder Blickkontakt zu Blanc. „Dennoch sitze ich noch hier, wie Sie sehen. Ich bin noch nicht aufgestanden und gegangen.“
Nein, seine Familie konnte Sébastien auch nicht dem Elend überlassen. Seine Liebsten versorgt zu wissen, war eine Herzensangelegenheit. Um seine Frau und Kinder abzusichern, würde er sofort und jederzeit sein Leben geben.
„Offenbar bin ich wirklich verzweifelt“, murmelte Sébastien, seine Lage kommentierend, als er nun nach seinem Weinglas griff und es, wenig genießend, mit einem Zug leerte.
„Verraten Sie mir, Monsieur Blanc: Was genau haben Sie im Sinn? Was genau wollen Sie von mir?“
Dass Blanc uneigennützig handelte, konnte Sébastien nicht glauben. Dass dieser Mann ihn nicht zu manipulieren versuchte, sowieso nicht. Blanc sollte die Karten auf den Tisch legen, statt allgemeine, schwammige Aussagen zu machen. „Hehrere, parlamentarische Wege“? Sébastien sah nicht, wie genau diese größere Rolle aussehen sollte, die Blanc ihm zugedachte. Er sah nicht, wie genau das erfolgsversprechender sein sollte, als den Arbeitern ihren Louis zu geben. Denn langsame Änderungen waren zwar auch Änderungen, aber wer sagte ihnen, dass sie wirklich beständiger waren als schnell errungene?