Tatsächlich beruhigte es Esulilde, sich der Dunkelheit hinzugeben. Bevor sie einschlief, musste sie noch einmal an Meister Udeons Worte denken: "Du verbreitest doch Aguas' Wort. Ist es da angemessen, dass du Angst vor der Dunkelheit hast?"
Was auch immer er getan hatte, was auch immer er nun sein mochte, in dem Punkt hatte er Recht gehabt.
Timbar hörte Gelirion aufmerksam zu, und nickte dann. "Die Gefangenen können ihr nichts tun, es gibt doppelte Gitter - vom inneren Gitter kann man nicht bis zum äußeren greifen. Trotzdem sollte sie nicht... gehen wir."
Er stieß die Tür auf. Dahinter lag ein großer Raum, der zur rechten zu einer Wendeltreppe führte, die weiter nach oben ging. Geradeaus ging auf der linken Seite ein Gang gute sechs Meter weiter, während auf der rechten Seite die von Timbar angekündigten Zellen lagen. Eine Mauer bildete den Abschluss der Zellen, etwa auf gleicher Höhe mit der Wendeltreppe, so dass Gelirion nur die Gitterstäbe, aber nicht die Insassen sehen konnte.
Timbar lauschte einen Moment, und deutete dann auf die Treppe. "Ich denke, sie ist hoch."
Fast zeitgleich kamen Rhamedes und Areo aus den Räumen heraus, und sahen sich im Gang um. Sie bekamen noch gerade mit, wie Timbar die Tür hinter sich schloss. Areo sah kurz zu Rhamedes, und folgte dann Timbar, während der alte Medicus ihm folgte. Irgendwie ahnte er, dass Ina auf dem Weg nach draußen war, und irgendwie fühlte er sich verpflichtet, ihr hinterher zu gehen - vielleicht einfach, weil er ihr den Gang nach draußen auch erlaubt hatte.
Gelirion und Timbar waren noch nicht weit gekommen, als die beiden anderen Männer ihnen folgten. Sie bemerkten einander, und der Wachmann erklärte kurz die Situation - dass sie Ina suchten, und dass sie vermutlich über die Wendeltreppe auf die Außenmauer gegangen war, um frische Luft zu schnappen. Sie ließen einige Stufen hinter sich, genug, um bis ins oberste Stockwerk der Festung zu kommen - Rhamedes dachte zwischendurch, dass die Kraft in seinen Beinen ihn verlassen würde, aber er konnte sich immer noch weiter nach oben zwingen. Dort erreichten sie einen kleinen Raum, in dem Türen in drei Richtungen führten - nach links und rechts weiter in die Festung, und nach hinten zur Außenmauer. Diese Tür stand offen.
"Ich habe den Luftzug gespürt", erklärte Timbar. "Sie ist auf der..."
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn er wurde von einem lauten Schrei unterbrochen. Der Schrei einer Frau - aber es war nicht Ina, da war sich Gelirion sicher. Timbar und er zögerten keine Sekunde, und liefen eine letzte kleine Treppe hinaus aus der Festung und auf die äußere Mauer. Draußen angekommen, konnten sie über die Zinnen der Außenmauer weit über die Stadt hinaus blicken - die brennende, untergegangene Stadt, die doch einst so schillernd gewesen war.
Doch sie war es nicht, die im Moment ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Zwei Frauen standen da vor ihnen. Gelirion erkannte die eine als Ina, die andere war - Lynette, die älteste der drei Schwestern. Ina hatte sich seltsam über ihre Schulter gebeugt, und Lynette schien vor Schmerzen zu zucken. "Hilfe!" schrie sie verzweifelt.
Dann richtete sich Ina auf. Ihr Mund war blutig, ihr ganzes Gesicht, und ein Fetzen Haut hing an ihrem linken Mundwinkel. Ihre Augen, ihre leeren, seelenlosen Augen, sahen Gelirion an, sahen ihm direkt in die Augen. Hungrig.
Dem Paladin kam es vor, als würde, was in Wahrheit nur Sekunden waren, Stunden verschlingen. Lynette drehte sich um, stieß ihre Peinigerin von sich. Ina, Gelirions Schwester, seine geliebte Schwester, die er zu beschützen geschworen hatte, stolperte zurück. Eine Fontäne aus Blut schoss aus Lynettes Wunde (war es ihre Schulter? Zu viel Blut nur für die Schulter...), und das Mädchen fiel auf seine Knie. Ina stieß gegen eine der Zinnen, rutschte auf dem von Blut besudelten Boden aus. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten, zwischen zwei Zinnen hindurch. Sie schrie nicht einmal, sie war einfach plötzlich fort.
Einen Moment herrschte Stille, mit Ausnahme dieses schrecklichen Geräusches, das durch Lynettes aus ihr heraus sprudelndes Blut verursacht wurde. "Helft mir..." hauchte das Mädchen. Das Geräusch von etwas Schwerem, das in Wasser fiel, ertönte von weit unterhalb der Mauern. Dann ein dumpfer Schlag, als Lynette nach vorne auf den Stein fiel.
Timbar eilte zu ihr, drehte sie um. Einen Moment untersuchte er das Mädchen, dann stand er auf. Seine Hände und seine Rüstung waren voller Blut. "Sie ist... ihr Hals..." brachte er nur hervor. Die tropfenden, blutigen Hände hielt er von seinem Körper gestreckt, als würden sie nicht zu ihm gehören.