Die Nacht des 22. Tages im zweiten Vikentori, 488 Jahre nach Gründung Mechanika. 29 Uhr
„Hier ist es!“ rief Theodor Smaugle und trat durch die geöffnete Pforte hinaus auf den angrenzenden Balkon, hinein in die Zeitenhöhle, tief unterhalb des Uhrturms der Ewigkeit. Beatrice Ornstein achtete darauf, genauestens jeden seiner Schritte zu folgen und versuchte sich nicht durch die zahlreichen, geisterhaften Erscheinungen und Irrlichter aus der Ruhe bringen zu lassen, welche seit über einer Stunde ihren Weg, durch den Bauch des Turms begleiteten. Schweißperlen säumten ihre Stirn und die Furcht vor Übernatürlichen stand ihr sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben, doch sie wusste um die Wichtigkeit ihrer Mission und hatte keinen Gedanken daran verschwendet, jemals zu zögern oder gar die Flucht zu ergreifen.
Die Nation verlangte nach ihrem Mut und die Königin vertraute auf ihr Handeln. Die beiden waren hier, um das Grim Noria wieder in Gang zu setzen. Damit eine neue Brigade erwählt werde, um den Bewohnern der Stadt etwas zu schenken, was in heutiger Zeit teilweise schon als Relikt blühender Vergangenheit galt...
Nämlich Hoffnung.
Lange genug hatte sie mitansehen müssen, wie Hochmut und Eitelkeit diese Stadt vergifteten. Wie aus Wohlstand Egoismus geboren wurde und Neid sich wieder in Hass verwandelte. Einst waren die bitter benötigten Mauern dieser Bastion geschaffen worden, um diesem Volk eine zweite Chance zu geben. Auf dass sie sich bessern, die Vergangenheit und alten Fehler als Mahnmal sehen würden...
Doch niemals hatten sie es geschafft, die Schwärze gänzlich aus den Herzen der Bewohner zu bannen. Und solange sie existierte, so wusste Beatrice...
War es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Dunkle Drüben dies wieder zu Nutze machen würde und einen Spalt fände, durch das es zurückkehren konnte. Die Zeichen standen schlecht und so sehr sie sich auch eingeredet hatte, es würde besser werden... Der Turm hatte sich schließlich geöffnet. Und das hatte einen Grund, der über allen plausiblen Argumenten stand. Denn die Königin lehrte ihr einst, dass dieses Gebäude, diese Maschine das Dunkle Drüben spüren würde. Dafür war sie erbaut worden.
Es war also wieder hier und der Moment hätte nicht schlimmer sein können. Die Straßen der Armutsviertel wurden überzogen mit dem bitteren Blut unschuldiger Opfer. Gewalt fand selbst in Argylle und Neu Bezoa Einzug, als die Bezirke von grauenvollen Mordserien heimgesucht wurden. In Godrien ertränkte ein Vater seine beiden Kinder, in Arkham zündeten Fanatiker eine Familienvater vor den Augen seiner Frau an und ließen sie zusehen, wie er zu Asche verbrannte.
Die Freiheitsläufer hatten noch nie so viel Zuwachs, denn immer mehr Bewohner zog es hinaus... sie bevorzugten mittlerweile lieber den Tod im Ödland, anstatt weiter in dieser Stadt zu bleiben.
Beatrice konnte nicht mehr tatenlos zusehen, wie alles um sie herum auseinander brach. Die Menschen und Bolde brauchten wieder Mut in ihren Herzen. Einen Schimmer von Sicherheit, welcher sie vereinte und die Dunkelheit vernichtete. Nur so könnte dieses Volk letztendlich überleben.
Sie brauchten dieses Uhrwerk. Helden, welche ihnen halfen, aufzustehen und zu kämpfen!
„Hier Mylady! Seht euch das an!“ rief der Kobold mit zitternder Stimme. Zögerlich trat nun auch Senatorin Ornstein hinaus auf den großen, geschwungenen Balkon und ließ sich von der Erhabenheit der riesigen Höhle in den Bann ziehen.
Dutzende Meter im Durchmesser erstrecke sich eine ehemalige Tropfsteinhöhle von diesem Zugang aus, hunderte Meter tief, sodass man keinen Blick auf den Boden erhaschen konnte und sich die Ränder gen unten in Finsternis verloren. Doch die Wände erinnerten nur noch vereinzelt an die Felsengrotte, welche sich hier einst in grauer Vorzeit befand.
Tausende Rohre, Leitungen und Zahnräder bedeckten den kalten Stein und gaben ihm ein mechanisches Aussehen. Beatrice fühlte sich wahrlich wie im Herzen eines Uhrwerkes, als sie die unzähligen, teilweise gigantischen Mechanismen beobachtete, welche still seit über einhundert Jahren auf ihr Kommen warteten. Hier und dort wurde der Abgrund durch ein kurzes, grellblaues Zucken erhellt, als ein Energieblitz von einer Maschine zur Nächsten raste und knisternd die Szenerie in eigenartiges Licht tauchte.
Dieses Sammelsurium aus Technologie fand sein Zentrum in einer schwebenden Plattform direkt in der Mitte dieser mystischen Höhle, mitten über dem bodenlosen Abgrund. Ehrfürchtig riss die Senatorin ihre Augen auf bei dem Anblick, wusste sie doch, worum es sich bei dieser Maschinerie handelte...
Das Grim Noria. Der Geist der Maschine.
„Miss Ornstein?“ Sie riss sich von dem legendären Bildnis weg und wandte sich wieder Theodor Smaugle zu, welcher nun etwas abseits weiter vorne auf dem Geländer-losen Balkon stand. Ein weiterer Blitz löste sich, schlug ohrenbetäubend, nicht weit von ihnen in die Steinwand ein und brach knallend einen großen Felsen heraus, welcher dröhnend in die Tiefe stürzte. Instinktiv duckte Beatrice sich und versuchte, sich dadurch nicht aus der Konzentration bringen zu lassen.
„Hierher! Hier ist die Löwentreppe. Der Sprung des Vertrauens, das erste Opfer was ein Zeitschreiber bringen muss!“ Der Kobold deutete direkt auf die Kante des Vorsprungs, auf dem sie sich befanden. Beatrice schloss zögerlich zu ihm auf und blickte über den Rand hinab.
„Sie müssen vertrauen haben, Miss Ornstein! Das ist die erste Prüfung, welche ihnen der Geist auferlegt!“ rief Theodor. Wieder und wieder zuckte ungezügelte Energie durch die Luft und erschwerte den beiden sichtlich die Kommunikation.
Beatrice hatte keine Angst, hier zu sterben. Doch gleichsam wusste sie auch, dass sie nicht diejenige sein würde, welche diesen Schritt wagen würde. Mit eisernem Blick kniete sie sich auf die Höhe des Koboldes herab und legte ihm sanft die Hand auf seine vom Alter geschwächte Schulter.
„Theodor, ich bin es nicht, nach dem der Geist verlangt – das weißt du ebenso gut wie ich.“ Sprach sie und lächelte ihm ermutigend zu. Die Mimik des Koboldes veränderte sich. Adern bildeten sich auf seiner Stirn, als er angestrengt nach den richtigen Worten suchte.
„Mylady, ich... Ich kann nicht. Nicht mehr – Es würde mir keine zweite Chance erteilen.“ Er wollt seinen Kopf senken, doch die Frau griff an seinen buschigen Bart und drückte leicht das Kinn zurück auf Höhe ihres Blickes. „Theodor, du darfst Beatrice sagen, das durftest du immer.“ Sie lächelte und überwand sich, nicht vor dem nächsten Donnern zurück zu zucken. Ausdruckslos erfasste Trauer den glasigen Blick des alten Mannes.
„Theodor Smaugle, der Geist hat dich gerufen. Du wusstest, dass es passieren würde. Nur deinetwegen hat er die Pforte geöffnet. Nur deinetwegen sind wir heil hier unten angekommen. Die Brigadiere haben dich nicht vergessen. Sie lieben dich, wie sie es damals getan haben und vertrauen dir, wie sie dir schon einst vertrauten. Erkläre mir, wieso du über einhundertundvier Jahre den Turm gehütet hast, mein alter Freund, wenn nicht für diesen Moment? Weil es deine Bestimmung ist! Weil das Schicksal dich auserkoren hat. Weil du ein Held bist und weil du, nur du dieser Stadt helfen kannst. Ich wäre nicht stark genug, den Zauber zu bändigen. Niemand wäre es mehr, außer dir, mein alter Freund.“
Tränen bildeten sich in den Augen des Boldes und wuschen seine runzeligen Wangen. Schließlich schaffte er es, der Senatorin wieder in die Augen zu schauen. Zitternd biss er sich auf die Unterlippe, wodurch sein schneeweißer Bart einen kleinen Sprung nach oben machte.
„Mylady, Beatrice... Ich...-“ er nickte zögerlich, bevor er fortfuhr. „Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich bin kein Anführer! Das... Das war ich nie.“ Beschämt wandte er den Kopf zur Seite und blickte nachdenklich auf die Plattform, welche ruhig in der Luft schwebte. Für einen Sekundenbruchteil erschien dort plötzlich die Gestalt einer Frau, grün, grell und durchsichtig, die seinen Blick erwiderte. Smaugle wusste, wer ihn von dort aus beobachtete. Wie könnte er sie vergessen haben... Wie hätte er sie alle nur vergessen können? Ornstein hatte Recht. Sie riefen ihn zu sich. Er hatte keine Wahl. All seine Freunde... Die Gefährten längst vergangener Zeiten warteten auf ihn. Selbst wenn er es nicht für Mechanika tat. Er stand in ihrer Schuld.
Und es war an der Zeit, diese Rechnung ein für alle Mal zu begleichen.
Beatrice beobachtete den alten Kobold, als dieser plötzlich ebenfalls zu lächeln begann. Er wandte den Blick nicht ab von der Maschine, als weitere Tränen sich in seinen, vom Alter geschwächten Augen lösten. Doch die Angst schien plötzlich aus seinem Ausdruck verflogen zu sein. Als würde er etwas sehen, was der Senatorin verwehrt blieb... Nachdenklich nickte Theodor erneut.
„Ja. Es muss sein. Mein Leben gehört dieser Stadt, doch mein Herz war schon immer hier, in diesem Raum. An ihrer Seite.“ Entschlossen verfestigten sich seine Züge, als er ein letztes Mal durch seine eigenen Augen den Blick der Senatorin einfing. „Ich werde es tun. Ich werde das Grim Noria aktivieren und der Chronoskriptor werden.“
Beatrice umarmte den alten Bold und drückte ihn an sich, bevor sie sich aufrichtete und etwas zurück ging. „Viel Glück mein alter, alter Freund. Du wirst sehen – ein neues Zeitalter bricht an. Dank deiner Hilfe! Das Noria wird dich willkommen heißen, da bin ich mir sicher.“
„Pass auf dich auf Beatrice. Wir werden uns wiedersehen... Und wenn mir was passiert – bitte kümmere dich darum, dass dieser verfluchte Butler endlich gekündigt wird!“
Theodor Smaugle lachte, als er den rechten Fuß hob und entschlossen über den Rand sprang, direkt dem Abgrund entgegen.