Fünf Stunden bis Protokoll 88-15 / Irgendwo tief, tief unter Mechanika...
Völlige Dunkelheit umgarnte seit über einhundertundfünfzig Jahren jenen Ort.
Doch plötzlich durchschnitt ein ferner Lichtstrahl die tonlose Finsternis und warf einen einzigen, eleganten Schatten die uralten, brüchigen Treppenstufen hinab. Eine Silhouette schälte sich durch das, ehemals für alle Zeiten versiegelte, Tor und betrat nun die ersten Stiegen zu jener Grabkammer; tief, tief unter der verkrusteten Erde Alt Bezoas.
Ein sanftes, leises Glucksen entfuhr dem schlafendem Säugling in
Randall Flaggs Händen, als dieser das Kind sanft im Arm wog, während seine pechschwarzen Stiefel sie beide stetig weiter nach unten trugen.
Er lächelte und streichelte den haarlosen Kopf des Neugeborenen, schenkte ihm Obhut und das Gefühl von Geborgenheit; eine Wärme, welche so reell und greifbar war, dass jenes kleine Geschöpf nicht anders konnte als ihm zu vertrauen und aufrichtig zu lieben. Denn in seinen kleinen Augen war
Flagg niemand anderes als sein eigener Vater, sein Beschützer; in dessen starke Hände man vertrauensvoll nicht weniger als sein eigenes Leben legen konnte. Und
Flagg ward sich dieser Liebe bewusst und kam deshalb nicht drum herum, aufgrund jener, so unendlich aufrichtigen und tödlichen Lüge zu lächeln.
Der helle Schein jenseits der uralten Tore ward längst über ihnen verschollen, als
Randall Flagg mitsamt seines Mündels schließlich den Spiegelraum erreicht hatte. Ein einzelner, schmuckloser Felsen stand in der Mitte der finsteren Halle. Hätte hier unten jemals eine Lichtquelle erstrahlt, so hätte sich ihr Schein in über eintausend der glanzvollsten kristallernen Spiegel gebrochen und wäre zu einem Kaleidoskop an Helligkeit gewachsen, welches den unwissenden Betrachter wohl bis ans Ende seines Lebens geblendet hätte. Doch hier unten, tief, tief unter den alten Gängen, war das Wort 'Licht' eine hämische Beleidigung und das Wagnis, dieses überhaupt mit der Zunge zu formen tödlicher als ein Dolchstoß in die Magengrube. Glücklicherweise wusste
Er darüber längst Bescheid. Zu seiner Erleichterung benötigte er nicht einmal die Kraft seiner Augen, um hier unten wirklich zu sehen.
Flagg bettete das Kind auf dem steinernen Altar und strich ihm ein letztes Mal sanft über die zarte Stirn, bevor er sich dem Wesen dahinter zu wandte, welches sie seit Betreten ihrer Heimstätte bereits verstohlen beobachtete.
„Oh heilige Baba Yaga.“ beschwor er sie in der alten, verbotenen Sprache. Uralte, meterdicke Ketten schliffen ihr bedrohliches Lied und kratzten auf verwunschenem Stein.
„Schönste unter den Gesandten und Mutter der Nacht! Erhöre mich!“ Ein leises Knurren entfuhr ihrer staubtrockenen Kehle, als sich das Ungetüm langsam nach vorne beugte.
Flagg grinste über beide Ohren und bleckte seine strahlend weißen Zähne, als die
Erste aller Hexen sich von oben herab näherte und ihn mit ihrem einzigen Auge voller Hass fixierte.
„Baba Yaga... Zeig mir den Pfad zu deinem Hahnenfußheim.“Riesige, Warzen-vernarbte Finger deuteten zur Seite und wiesen dem schwarzen Mann den Weg. Ein Spiegel verformte sich am gegenüberliegenden Ende und öffnete ein Tor nach innen.
Randall Flagg lachte vergnügt, als er durch das magische Portal trat, auf dessen öliger Oberfläche sich das verwaschene Bildnis eines zyklopischen Hahnenfußes abzeichnete. Das Lachen hallte noch einige weitere Augenblicke in dem für allezeit versiegelten Spiegelraum umher. Selbst als die Ketten erneut unter ihrer tonnenschweren Last ächzten und sich Baba Yaga, erste der Hexen und
Mutter des schwarzen Mannes, jenem kleinen Säugling zu wandte, welcher nach wie vor ruhig auf dem kühlen Felsenaltar schlummerte.
Eine aufrichtige, wie tödliche und einfache Lüge.