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Autor Thema: Eine neue Ordnung  (Gelesen 25389 mal)

Beschreibung: Einstieg für Will und Arjen

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Sternenblut

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Eine neue Ordnung
« Antwort #45 am: 04.11.2014, 11:52:33 »
Und so machten sich Will und Arjen sowie der Fremde, der zumindest klar genug war, um die Leiter zu meistern, an den Abstieg. Sie ließen sich nicht die Zeit, zu beobachten, wie der Riese seinem Gefängnis entkam - ganz im Gegenteil, je weiter sie bis dahin von ihm entfernt waren, desto besser.

Die Straßen der Umgebung schienen sicher - für den Moment jedenfalls. Will wusste noch zu gut, wie er denselben Gedanken kurze Zeit in der letzten Nacht gehabt hatte, bis ihn plötzlich die Horde verfolgt hatte. So ließen sie sich keine Zeit, zu verweilen. Eine Nacht echten Schlafes, so unruhig er auch gewesen war, hatte den beiden Männern geholfen, ihre Kräfte zu regenerieren.

Das einst prächtige Viertel lag in Ruinen. Was die Todlosen nicht zerstört hatten, war dem Feuer zum Opfer gefallen. Selbst hier, wo die Verbundhäuser eher eine Seltenheit waren, hatte das Feuer reichlich Nahrung gefunden: Die Reichen von Aradan hatten es schick gefunden, ihre Häuser aus einer Mischung von Holz und Stein zu bauen. Und tatsächlich hatte es gut ausgesehen, hatte der Stadt ein natürliches, gewachsenes Aussehen gegeben. Doch von all dem Holz war kaum mehr als Asche übrig, und Stein, der von Holzbalken gehalten worden war, hatte nun seine Stabilität verloren. Links von sich sahen Will und Arjen ein Haus, das ganz einfach zur Seite weggerutscht war, wie ein von einem Kind gebautes Papierhaus, das man zu heftig nach links gedrückt hatte. Vor ihnen war die halbe - zum Glück nur die halbe! - Straße versperrt, weil ein privater Wachturm umgefallen war wie ein Streichholz, das man umgepustet hatte. Kopf und Schultern einer Frau mittleren Alters ragten aus den Trümmern hervor. Sie musste von dem Gebäude erschlagen worden sein, und doch reckte sie ihre Hände nach vorne, und starrte die drei Männer aus milchig-gelben Augen gierig an. Sie öffnete den Mund, doch kein Geräusch drang hervor, bis auf das Klappern ihrer Zähne.

Der Geruch von Rauch lag noch immer in der Luft, obwohl das Feuer inzwischen abgebrannt war. Nur hier und da fand sich noch ein glühender Funken Kohle, winzige Spuren eines Feuers, das eine ganze Stadt verwüstet hatte.

Sie liefen durch die Straßen, in die Richtung, die der Fremde ihnen gesagt hatte. Einmal sahen sie in einiger Entfernung eine einzelne, wankende Gestalt, die schlurfend in entgegengesetzter Richtung lief. Doch der Untote war keine Bedrohung, und so gingen sie, möglichst leise, daran vorbei. Schließlich konnten sie die Zitadelle erkennen, die der "Theaterfreund", wie Will ihn nannte, angekündigt hatte. Es war die Miniaturform einer großen Festung; vier Mauern, an jeder Ecke ein Turm, der gute fünfzehn Meter in die Höhe ragte, und damit einige Meter höher war als die meisten Gebäude der Umgebung. Sie konnten die Wachzitadelle über die Dächer der anderen Gebäude hinweg erkennen, vielleicht noch hundertfünfzig oder zweihundert Meter von ihnen entfernt.

"Versucht es gar nicht erst", ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. "Die Zitadelle ist gefallen. Die Wachen in ihrem Inneren sind wandelnde Tote."
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

Arjen Bucalo

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Eine neue Ordnung
« Antwort #46 am: 04.11.2014, 17:54:45 »
"Ausgebrannt", schoss es Arjen durch den Kopf, als sie durch die Ruinen des einstigen Nobelviertels eilten. "Diese Stadt ist ein Spiegelbild meiner Seele."

Der Krieger schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen und eilte zusammen mit seinen Gefährten durch die Gassen. Als sie an der feststeckenden, untoten Frau vorbeikamen, nahm er seinen Schild vom Rücken und umfasste den Griff seines Schwertes stärker. Beim Anblick der Zitadelle, glaube Arjen ungäubig, dass sie diesmal wirklich ohne unliebsame Überraschungen ans Ziel gelangen würden, doch dann ertönte die Stimme hinter seinem Rücken und zerstreute diesen Gedanken.

Arjen wirbelte bei den Worten in seinem Rücken herum und versuchte die Person zu erspähen, die sie angesprochen hatte. In dieser Umgebung wollte er niemandem ungesehen in seinem Rücken haben - auch keine Stimme, die scheinbar wohlwollende Warnungen ausstieß.[1]
 1. Perception: 9

William Marlowe

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Eine neue Ordnung
« Antwort #47 am: 04.11.2014, 18:12:48 »
Auch Will drehte sich nach der Stimme um. War der Sprecher allein? Sah er freundlich oder feindselig aus? Wenn ersteres—und wenn ein Rundumblick auch sonst keine unmittelbaren Gefahren erkennen ließ[1]—würde Will den Augenblick nutzen, um seinen Wasserschlauch aus dem Sack mit den Kostümen zu holen und seinem erschöpften Begleiter ein paar Schluck daraus einzuflößen. Sollte der Sprecher aber eine Waffe gezogen habe, wäre Wills Hand gleich beim Schwert. Wer wusste schon, was für Plünderer hier womöglich durch die Gassen zogen?
 1. perception = 13
« Letzte Änderung: 04.11.2014, 18:13:18 von William Marlowe »
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Sternenblut

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Eine neue Ordnung
« Antwort #48 am: 04.11.2014, 18:20:01 »
Im Eingang einer ausgebrannten Ruine hinter ihnen stand ein Mann mittleren Alters. Sein dunkelbraunes Haar und sein Bart waren von deutlichen grauen Strähnen durchzogen, sein Gesicht zeigte die Furchen eines Menschen, der viel Zeit in freier Natur verbracht hatte. Er trug praktische, dunkelgrün gehaltene Kleidung - ein Jäger vielleicht, oder ein Spurenleser -, und hatte keine offensichtliche Waffe in der Hand. Im Gegenteil: Er hob seine Hände vor die Brust, so dass Arjen und Will seine Handflächen sehen konnten.

"Ich freue mich, Menschen zu sehen. Also, lebende Menschen." Er sah zu seiner Linken. "In dieser Richtung ist eine kleinere Horde unterwegs, solltet ihr meiden. Wenn ihr Interesse habt, kann ich euch zu dem Ort führen, den ich zu meinem Zuhause gemacht habe. Ein sicherer Ort. So sicher, dass ich meine beiden Töchter dort alleine lasse, während ich nach Überlebenden suche."
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Arjen Bucalo

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Eine neue Ordnung
« Antwort #49 am: 05.11.2014, 10:20:37 »
Arjen beäugt den Mann genauer, während dieser zu ihnen spricht. Dieser scheint sich in dem Viertel recht gut auszukennen. Auch die Tatsache, dass er von einem ort spricht, den er bereits gesichert hat, ist beeindruckend - immerhin sind erst zwei Tage seit dem Ausbruch dieses Wahnsinns vergangen. Unbewusst regt sich Misstrauen in Arjens Hinterkopf "Ein sicherer Ort und ein Mann, der nach Überlebenden sucht, anstatt sich irgendwo möglichst weit zu verkriechen - das kling ein wenig zu gut, um wahr zu sein."

Doch dann versucht der Krieger, diesen Gedanken zu verjagen. "Dieser Mann spricht genau davon, was auch ich gerne versuchen würde. Einen sicheren Ort finden, und möglichst viele Menschen dorthin führen - das war mein Plan für das Theater gewesen. Es ist nicht fair, ihm dafür zu misstrauen."

Mit diesen Gedanken lässt Arjen die Schwertklinge absinken, so dass sie gen Boden zeigt, bleibt jedoch in Bereitschaft, sie bei Gefahr wieder zu heben. "Sagt - wo ist dieser sichere Ort? Und wie viele seid ihr?"

Während er diese Fragen stellt, schaut der Krieger auch kurz zu seinen beiden Begleitern hinüber und sieht, wie Will dem Mann Wasser einflößt. Unbewusst macht er noch ein, zwei Schritte in die Richtung der beiden, um sie im Fall der Fälle decken zu können.

Sternenblut

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Eine neue Ordnung
« Antwort #50 am: 05.11.2014, 11:31:14 »
Die Schultern des Mannes senkten sich. "Bisher nur ich und meine Töchter. Die Wenigen, die ich fand, wollten entweder nicht mitkommen, sind weitergezogen, um jemanden zu suchen, oder..." Er zögerte, und sah bei seinen nächsten Worten zu Boden. "Oder sie haben verschwiegen, gebissen worden zu sein."

Er sah wieder auf. "Wie ist es bei euch? Wurdet ihr gebissen?"
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William Marlowe

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Eine neue Ordnung
« Antwort #51 am: 05.11.2014, 14:38:14 »
"Wie weit ist dieser Ort entfernt? Unser Kamerad hier klappt uns nämlich gleich zusammen." Will ließ nicht nach in seinem Bemühen, dem Mann, den er in Gedanken 'Angelo' getauft hatte, das dringend benötigte Wasser zu verabreichen.

"Gebissen? Nein. Und die Suche nach den Lieben, ja, da wüsst ich im Augenblick gar nicht, wo anfangen. Zuhause war niemand. Deshalb würd ich gern erst einmal die Leute, die wir bereits gefunden haben, in Sicherheit wissen."

An dieser Stelle blickte er wild um sich, weil er—in seiner übersteigerten Phantasie?—nicht allzuweit entfernt ein Krachen gehört zu haben meinte.

"Können wir nicht dort reden? An Eurem sicheren Ort? Wir mussten nämlich aus dem Theater fliehen, als wir einen untoten Hügelriesen unter der Bühne entdeckten. Wenn der uns gebissen hätte, glaubt mir, das würdet Ihr sehen! Da würde der halbe Arm fehlen! Aber jetzt weiß ich nicht, ob er sich von der Mauer aufhalten ließ oder ob er die acht Schritt einfach runtergesprungen ist und uns verfolgt."

In seinen Beteuerungen, dass sie nicht gebissen worden seien, wirkte Will ein wenig übereifrig, das merkte er selbst. Er stöhnte innerlich. Übertreibung war der Erzfeind jedes Schauspielers! Was das Spiel glaubwürdig machte, waren die kleinen Gesten... Und dass ein Hügelriese womöglich ihre Fährte verfolgte, das hätte er besser nicht erwähnt! Überhaupt, Angelo hier sah schon verdächtig krank aus...[1]

Abgesehen davon, dass sie sich bei diesem so ganz sicher eigentlich nicht sein konnten. Doch wenn es stimmte und Angelo hatte sich tatsächlich dafür eingesetzt, dass Will nach seiner Entlassung überhaupt wieder Aufnahme als Schauspieler gefunden hatte, und sei es auch nur auf einer kleinen Bühne wie dem Theater bei der Linde, dann wäre er es ihm schuldig, alles zu versuchen, sogar—falls dies nötig werden sollte, um ihn vor einem noch schrecklicheren Schicksal zu bewahren—ihm eigenhändig den Schädel zu spalten.

"Will ist mein Name", fügte er hinzu in der Hoffnung, dass es schwerer sei, Menschen dem sicheren Schicksal des Gefressenwerdens zu überlassen, deren Namen man kannte, "und das da ist Arjen, und den hier will ich mal Angelo nennen. Wir haben alle drei die Nacht im Theater verbracht, und wenn einer von uns gebissen worden wäre, wäre er sich inzwischen längst... einer von ihnen."
 1. Diplomatie = 9, schon wieder eine nat. 1!
« Letzte Änderung: 05.11.2014, 14:57:30 von William Marlowe »
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Arjen Bucalo

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Eine neue Ordnung
« Antwort #52 am: 06.11.2014, 09:03:10 »
Arjen fiel ebenfalls auf, dass Will etwas übereifrig in seinen Erklärungen war, aber kein Wunder - sie hatten in den letzten Tagen genug erlebt, um etwas außer Form zu sein und Will musste sich auch noch um den labilen Begleiter kümmern, den sie gerettet hatten.

Der Krieger nickte bei Wills Worten und sprach ebenfalls zu dem Mann. "Wie Will schon gesagt hat - unser Begleiter braucht dringend einen Platz zum Ruhen. Wir sind nicht gebissen worden, auch wenn es oft genug knapp war. Wenn wir an dem sicheren Ort sind, von dem Ihr sprecht, dann könnt ihr uns alle drei in Ruhe besehen und euch überzeugen. Aber dafür ist hier keine Zeit."

Arjen machte eine kurze Pause und führte dann fort: "Ich weiß, dass es schwer ist, in so einer Umgebung Vertrauen zu Fremden zu fassen. Das gilt auch für uns, genauso wie für Euch. Ich vertraue Euch, dass Ihr uns wirklich an einen sicheren Ort führen wollt. Vertraut Ihr darauf, dass wir die Wahrheit sagen."[1]
 1. Diplomacy: 25, natürliche 20
« Letzte Änderung: 06.11.2014, 12:24:46 von Arjen Bucalo »

Sternenblut

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Eine neue Ordnung
« Antwort #53 am: 07.11.2014, 17:12:47 »
Der Fremde nickte. "In Ordnung. Mein Name ist Luca. Wir brauchen etwa zehn Minuten von hier aus. Kommt mit."

Er deutete auf eine Gasse, gute fünf Meter von Will und Arjen entfernt. "Dort entlang. Es gibt dort einen Park, von einer breiten Mauer umgeben. Darauf kann man gut laufen, und ist für die Wanderer unerreichbar. Damit überwinden wir fast die Hälfte der Strecke."

Luca hatte nicht zu viel versprochen: Nachdem sie ihm ein kurzes Stück in die Gasse gefolgt waren, stießen sie auf die Steinmauer. Man hatte eine Vielzahl größerer Steine mit Lehm zu einer gut zwei Meter hohen Mauer angelegt, die tatsächlich gerade breit genug war, damit Will den neu "getauften" Angelo vorsichtig neben sich her bugsieren konnte. Es war nicht ganz leicht, aber es ging.

In dem Park selbst war ebenfalls alles niedergebrannt. Es machte im Grunde keinen Sinn: Das Feuer hätte gar keine Basis gehabt, um sich hier auszubreiten. Und doch war alles verbrannt, Bäume, Sträucher, und auch die einst kunstvoll angelegten Parkbänke. Der eine oder andere Wanderer, wie Luca die Toten genannt hatte, lief durch den Park, ziellos auf der Suche nach lebendigem Fleisch. Die meisten bemerkten sie nicht, doch nach einigen Minuten gab es zumindest drei der Kreaturen, die ihnen in einigem Abstand an der Innenseite der Mauer entlang folgten. Durch ihren langsamen, schlurfenden Gang allerdings wurde der Abstand immer größer.

Schließlich erreichten sie den Punkt, an dem der quadratisch angelegte Park auf dieser Seite endete. Vorsichtig stiegen die Männer die Mauer hinab, und Luca deutete auf eine weitere Gasse. "Ab hier wird es gefährlicher. Es gibt immer wieder vereinzelte Streuner. Ich ziehe es vor, sie nicht zu töten, sondern einfach einen Bogen um sie zu machen. Wer weiß schon, welche Krankheiten sich ausbreiten, wenn die Leichen hier in der Sonne liegen bleiben."

Es war offensichtlich, dass sich Luca in der Gegend gut auskannte. Er führte sie von einer Seitengasse in die nächste, mied die großen Straßen und brachte sie immer schnell außer Sichtweite, wenn einer der besagten "Streuner" ihren Weg kreuzte. "Das ist leider nicht alles", warnte Luca seine Begleiter. "Es gibt hier auch noch andere Lebende. Ich bin ihnen noch nicht begegnet, aber... den Spuren, die sie hinterlassen haben. Leute, für die all das hier eine Chance ist, sich endlich nicht mehr an die Gesetze halten zu müssen, wenn ihr versteht."

Wenige Wegminuten später kamen sie an einer Wegkreuzung an: Vier breite Straßen trafen sich, und in der Mitte, auf dem Platz, der sich dazwischen bildete, stand die Ruine eines viergeschössigen Gebäudes. Wenig war davon übrig geblieben: Die Wände, vermutlich aus Holz, existierten nicht mehr, das Innere war nichts als Schutt und Asche. Lediglich die vier steinernen Säulen an seinen Eckpunkten ließen das Skelett des Gebäudes noch stehen. Der Boden der einzelnen Etagen war teilweise eingebrochen, und es gab keine Treppen mehr, die hinauf führten.

Luca deutete auf die oberste Etage. "Dort oben. Seile sind der einzige Zugang. Man hat alle vier Himmelsrichtungen im Blick, und kann, sollte das jemals nötig werden, eben auch in alle vier Richtungen fliehen. Ich habe schnelle Fluchtmöglichkeiten vorbereitet. Das Dach ist weitgehend intakt, so dass wir geschützt sind, und durch die wenigen Löcher können wir Regenwasser sammeln." Er sah zu Will, dann zu Arjen. "Wenn ihr noch immer wollt, dann könnt ihr mit hochkommen."

Angelo war inzwischen an einem Punkt, an dem er kaum noch weiter laufen konnte. So wie Will es einschätzte, würde der gute Mann vermutlich bald wieder zusammenbrechen.
« Letzte Änderung: 07.11.2014, 17:13:42 von Sternenblut »
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Arjen Bucalo

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« Antwort #54 am: 07.11.2014, 21:01:38 »
Auf dem Weg zu Lucas Versteck besah sich Arjen die Umgebung. Die "Wanderer", wie ihr Begleiter sie nannte, wirkten immer noch verstörend auf ihn. Dieser leere Blick und die dumpfe, langsame Gleichmäßigkeit, mit der diese Kreaturen ihnen durch den Park folgten, als sie auf der Mauer waren, ließen den Krieger nicht kalt.

"Wenn ich sie mir nur als gefühl- und verstandlose Zombies vorstelle, wird es leichter", dachte er. "Aber die Wahrheit ist, dass ich mir etwas vormachen würde - dieses Monster da mit den heraushängenden Eingeweiden und dem Blut um das Maul - nicht mehr "den Mund" - vor zwei Tagen war es wahrscheinlich noch ein lebensfrohes junges Mädchen gewesen. Mit all den Träumen, die ein solches Mädchen haben kann. Vielleicht müssen wir das verdrängen, wenn wir überleben wollen. Aber damit opfern wir auch einen Teil unserer Menschlichkeit - das muss uns klar sein. Andererseits - ich habe meine Menschlichkeit vor den Göttern schon vor langer Zeit verspielt.

Wiederum versuchte Arjen mit einem Kopfschütteln diese Gedanken zu vertreiben. Er registrierte, dass Luca sich in der Umgebung sehr gut auskannte und nahm an, dass der Mann noch vor Ausbruch dieses Chaos in diesem Viertel gelebt haben musste. Als sie am Versteck des Mannes ankamen, konnte Arjen seine Enttäuschung nur schwerlich verbergen. Er konnte sich nicht helfen - er war sechs Jahre beim Heer gewesen. Einen "sicheren Ort" assozierte er mit der Sicherheit von wehrhaften Mauern, auch wenn ihm durchaus der Vorteil einer erhöhten Position und eines guten Überblicks klar waren. "Diese Plattform mag für uns und Lucas Töchter reichen, aber es wird sicher kein Ort sein, an dem eine größere Gruppe von Überlebenden ausharren oder sich organisieren kann. Und - falls diese "anderen Lebenden", von denen Luca spricht, uns entdecken, können sie vielleicht nicht heraufkommen, aber nichts hindert sie daran, uns auszuhungern."

Dennoch - Angelo dürfte bald zusammenbrechen und sie waren nicht in der Position, sich ihr Domizil frei auszusuchen. Sie mussten dankbar sein, Luca getroffen zu haben, auch wenn Arjen sich wieder fragte, warum der Mann so hilfsbereit war. Der Krieger nickte. "Es mag keine Festung sein, aber in der heutigen Zeit, ist es sicherlich ein viel besserer und sicherer Ort, als diese Straßen hier. Vielen Dank, dass Ihr uns anbietet, diesen mit Euch zu teilen." Sein Blick ging zu Will und dem entkräfteten Angelo. "Was meinst du, Will - schafft er es über die Seile nach oben, oder müssen wir ihn hochziehen?"

William Marlowe

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« Antwort #55 am: 07.11.2014, 21:18:00 »
Will lachte gequält. Auch er war sehr enttäuscht von dem sicheren Ort, obwohl es im Nachhinein völlig logisch erschien. Wenn die Wanderer eines nicht konnten, dann an Seilen hochklettern.

Er leider auch nicht.

"Angelo schafft es auf keinen Fall", antwortete er auf Arjens Frage, "aber es kann sein, dass ihr mich ebenfalls hochziehen müsst." Er hob seine nutzlosen Hände. Weder konnte er die Finger ganz strecken, noch ganz einrollen; Kraft hatte er auch keine darin. "Die sind mir in den letzten Jahren ein paarmal zu oft gebrochen worden... Aber lasst es mich versuchen. Wo sind die Seile, von denen Ihr sprecht?" wandte er sich an Luca.

« Letzte Änderung: 07.11.2014, 22:04:54 von William Marlowe »
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« Antwort #56 am: 07.11.2014, 21:46:23 »
Luca lächelte. "Keine Angst, ihr müsst nicht klettern. Wir haben eine Seilwinde, und eine kleine Plattform. Wartet noch kurz. Wenn ich unterwegs bin, haben meine Töchter die Anweisung, die Umgebung im Blick zu halten. Sobald sie..."

In dem Moment konnten die Gefährten erkennen, wie etwas an einer der Steinsäulen heruntergelassen wurde. Eine metallene Platte, gut einen mal einen Meter groß, an einigen Seilen befestigt. Aber die Konstruktion würde nicht einfach heruntergelassen; sie schien an der Säule entlang zu gleiten. Offenbar hatte Luca dort etwas angebracht, was das Tragekonstrukt sicher nach oben und unten führte.

"Falls ihr eine Festung erwartet habt", erklärte Luca, während sie auf die Plattform warteten, "das wäre weniger sicher, glaubt mir. An so etwas denkt jeder zuerst. Es weckt Begehren. Unser kleines Versteck da oben nicht. Und bis jetzt haben wir noch mehr Platz, als wir brauchen."
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William Marlowe

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« Antwort #57 am: 08.11.2014, 11:47:29 »
Will sah zunächst die Konstruktion, dann Luca mit offenem Mund an. Was, während andere um ihr nacktes Leben rannten, baute dieser Mensch allein und in aller Seelenruhe eine Hebevorrichtung in eine Ruine ein? Und die beiden Töchter bedienten oben die Seilwinde, wo Angelo in seinem Theater dafür einen Hügelriesen benötigt hatte? Da war doch etwas oberfaul. Da musste man sich doch fragen, ob es nicht vielmehr ein paar kräftige Männer waren, die dort oben die Winde bedienten, um Arjen und ihm dann einen Knüppel über den Schädel zu ziehen, sobald man den obersten Stock erreicht hatte.

Und so besah Will sich ihren neuen Bekannten noch einmal ganz genau. Was für ein Mensch war das? Was machte er, in seiner doch eher für den Wald geeigneten Kleidung, hier im besten Viertel der Stadt? War er vielleicht einer jener gesetzlosen Meute, die er angeblich noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, sondern nur deren Spuren? Aber Arjen und Will besaßen nicht, warum sollte Luca sich die Mühe machen, sie in eine Falle zu locken?

Nun gab es über Schauspieler die seltsamsten Missverständnisse. Die meisten Leute schienen zu denken—wie auch Albertis Anwalt vor Gericht—dass Menschen wie Will und sein Ensemble, als 'professionelle Lügner', die Lügen anderer durchschauen müssten. Nichts wäre weiter entfernt von der Wahrheit! Als Schauspieler war Will darauf angewiesen, die 'Lügen' seiner Kollegen für bare Münze zu nehmen! Man stelle sich vor, er stünde auf der Bühne und überlegte sich die ganze Zeit: das war aber jetzt unglaubwürdig von dir, mein Freund! Nein, er musste ganz in seiner Rolle versinken, musste das Spiel der anderen für echt halten! Wenn der Schurke sein Leben bedrohte, musste er um sein Leben bangen; wenn die Dame ihm ewige Liebe versprach, musste er vor Glückseligkeit seufzen! Nur wenn er glaubte, glaubte auch das Publikum!

Über Stückeschreiber hieß es, sie seien geniale Beobachter ihrer Umwelt und der Mitmenschen, sie kennten sich aus mit allem, was menschlich war, mit den niederen Motiven wie den hehren; von den besseren Dichtern sagte man gar, sie hielten der Welt einen Spiegel vor, damit diese sich selbst erkenne. Nun stimmte es zwar, dass Will seine Mitmenschen genau beobachtete, dass er diese auch zu durchschauen vermeinte in ihren Absichten und Beweggründen, dass er sofort und überall Zusammenhänge erblickte, die andere nicht erblickten—aber ob dies alles auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielt, das war ihm doch schnurzegal! Da machte er sich keinerlei Sorge drum, verschwendete keine Zeit und Gedankenkraft, um es zu überprüfen, nein, für ihn zählte allein: wie verwerte ich das in meinem nächsten Stück?

Als Mensch wurde Will daher täglich von seinen Mitmenschen überrascht, im positiven wie im negativen. Und das war auch gut so, sonst wäre das Leben langweilig, wie das Stück eines mittelmäßigen Dichters, bei dem der Kenner jede "Wendung" voraussah und keiner der Charaktere ihn je bestürzen, erstaunen oder aus der Fassung bringen konnte.

Für diesen Luca nun hatte Will, ohne groß zu überlegen, gleich vier Theorien parat, die sein Auftreten erklärten und die Will in einem Stück allesamt, mit den richtigen Worten und Kniffen, dem Publikum als glaubhaft hätte verkaufen können—er selbst aber hatte nicht die geringste Ahnung, woran er mit dem Mann war.[1]

Daher stellte er die Frage, die seinen plötzlichen Zweifel ausgelöst hatte, einfach laut. "Und Eure beiden Töchter bedienen oben die Seilwinde? Im Smaragd-Theater hat man dafür einen Hügelriesen gebraucht."
 1. sense motive = 7
« Letzte Änderung: 20.11.2014, 15:38:29 von William Marlowe »
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Arjen Bucalo

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« Antwort #58 am: 08.11.2014, 12:15:44 »
Auch Arjen stutze überrascht, als die Hebeplattform heruntergelassen wurde. Es verlangte viel Wissen und Können, in so kurzer Zeit und unter den gegebenen Umständen so etwas zusammenzubauen. Wills Zweifel verstand er, auch wenn er wusste, dass Seilwinden ja genau dazu da waren, um Kräfte zu potenzieren - insofern war es durchaus möglich, dass die beiden Töchter von Luca die Seilwinde allein bedienen konnten.

Er wusste nicht genau, woran es lag - vielleicht daran, dass er als gelernter Soldat und noch im guten Besitz seiner Kräfte, sich sicherer fühlte, als Will in seinem Zustand - doch noch wollte er Luca nicht misstrauen. "Was genau soll dieser Mensch von uns wollen? Wir besitzen nichts, nicht einmal Proviant oder brennbares Material, geschweige denn Wertvolleres."

Er entschied sich jedoch dafür, falls sie mit der Plattform hochfuhren, abwehrbereit zu sein. "Wenn die Sache faul sein sollte, dann lasse ich mich zumindest nicht überraschen."

Ansonsten wartete er zunächst auf die Antwort Lucas auf Wills Frage.

Sternenblut

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« Antwort #59 am: 08.11.2014, 12:59:26 »
Luca nickte; in seinem Gesicht zeigte sich Stolz. "Bevor... all das hier passierte, lebten wir zusammen draußen im Wald vor der Stadt. Ich habe alles, was wir brauchten, selbst gebaut. Am ersten Tag nach dem Fall Aradans gab es noch zwei Männer, die mir bei dem Bau geholfen haben. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ein Biss..." Er führte den Satz nicht zuende. "Jedenfalls ist die Konstruktion fast ohne Muskelkraft zu bewegen - zumindest solange niemand drauf steht. Um hochzukommen, müssen wir mit anpacken, das schaffen die Mädchen nicht alleine."

Schließlich kam die Plattform unten an. Doch Luca lief nicht gleich los. Einen Moment lang richtete sich sein Blick in eine unbekannte Ferne. "Ich wünschte, ich könnte zurück, in den Wald. Wir waren glücklich dort. Bis..." Er biss die Zähne aufeinander, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schüttelte den Kopf, und ging ohne weitere Erklärungen in Richtung der Plattform.
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