Will sah zunächst die Konstruktion, dann Luca mit offenem Mund an. Was, während andere um ihr nacktes Leben rannten, baute dieser Mensch allein und in aller Seelenruhe eine Hebevorrichtung in eine Ruine ein? Und die beiden Töchter bedienten oben die Seilwinde, wo Angelo in seinem Theater dafür einen Hügelriesen benötigt hatte? Da war doch etwas oberfaul. Da musste man sich doch fragen, ob es nicht vielmehr ein paar kräftige Männer waren, die dort oben die Winde bedienten, um Arjen und ihm dann einen Knüppel über den Schädel zu ziehen, sobald man den obersten Stock erreicht hatte.
Und so besah Will sich ihren neuen Bekannten noch einmal ganz genau. Was für ein Mensch war das? Was machte er, in seiner doch eher für den Wald geeigneten Kleidung, hier im besten Viertel der Stadt? War er vielleicht einer jener gesetzlosen Meute, die er angeblich noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, sondern nur deren Spuren? Aber Arjen und Will besaßen nicht, warum sollte Luca sich die Mühe machen, sie in eine Falle zu locken?
Nun gab es über Schauspieler die seltsamsten Missverständnisse. Die meisten Leute schienen zu denken—wie auch Albertis Anwalt vor Gericht—dass Menschen wie Will und sein Ensemble, als 'professionelle Lügner', die Lügen anderer durchschauen müssten. Nichts wäre weiter entfernt von der Wahrheit! Als Schauspieler war Will darauf angewiesen, die 'Lügen' seiner Kollegen für bare Münze zu nehmen! Man stelle sich vor, er stünde auf der Bühne und überlegte sich die ganze Zeit: das war aber jetzt unglaubwürdig von dir, mein Freund! Nein, er musste ganz in seiner Rolle versinken, musste das Spiel der anderen für echt halten! Wenn der Schurke sein Leben bedrohte, musste er um sein Leben bangen; wenn die Dame ihm ewige Liebe versprach, musste er vor Glückseligkeit seufzen! Nur wenn
er glaubte, glaubte auch das Publikum!
Über Stückeschreiber hieß es, sie seien geniale Beobachter ihrer Umwelt und der Mitmenschen, sie kennten sich aus mit allem, was menschlich war, mit den niederen Motiven wie den hehren; von den besseren Dichtern sagte man gar, sie hielten der Welt einen Spiegel vor, damit diese sich selbst erkenne. Nun stimmte es zwar, dass Will seine Mitmenschen genau beobachtete, dass er diese auch zu durchschauen vermeinte in ihren Absichten und Beweggründen, dass er sofort und überall Zusammenhänge erblickte, die andere nicht erblickten—aber ob dies alles auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielt, das war ihm doch schnurzegal! Da machte er sich keinerlei Sorge drum, verschwendete keine Zeit und Gedankenkraft, um es zu überprüfen, nein, für ihn zählte allein: wie verwerte ich das in meinem nächsten Stück?
Als Mensch wurde Will daher täglich von seinen Mitmenschen überrascht, im positiven wie im negativen. Und das war auch gut so, sonst wäre das Leben langweilig, wie das Stück eines mittelmäßigen Dichters, bei dem der Kenner jede "Wendung" voraussah und keiner der Charaktere ihn je bestürzen, erstaunen oder aus der Fassung bringen konnte.
Für diesen Luca nun hatte Will, ohne groß zu überlegen, gleich vier Theorien parat, die sein Auftreten erklärten und die Will in einem Stück allesamt, mit den richtigen Worten und Kniffen, dem Publikum als glaubhaft hätte verkaufen können—er selbst aber hatte nicht die geringste Ahnung, woran er mit dem Mann war.
[1]Daher stellte er die Frage, die seinen plötzlichen Zweifel ausgelöst hatte, einfach laut.
"Und Eure beiden Töchter bedienen oben die Seilwinde? Im Smaragd-Theater hat man dafür einen Hügelriesen gebraucht."