Lange denkt Lîf nach, und den meisten mag es scheinen, als träume die junge Frau in den Tag hinein, statt sich sinnvolle Gedanken zu machen. Einzig Tristan, der sie besser kennen wird, könnte erkennen, dass sie sich auf einer Art Schwelle zwischen Traum und Grübeln befindet. Erinnerungen ziehen vor ihrem inneren Auge vorüber, und sie durchlebt jene Momente noch einmal, was sich in ihrer Miene schwach widerspiegelt: Andeutungsweise wechseln sich auf ihren Gesichtszügen Freude, Rührung, Zorn, Angst, Enttäuschung, Ungeduld... all jene Eigenschaften, die sich bei ihr zuweilen im Übermaß äußern und die er kennen – und lieben? – gelernt hat. Dabei steht sie fast reglos, macht nur gelegentlich ein unentschlossen wirkendes Trippelschrittchen zur Seite wie ein nervös tänzelndes Pferd, schließt immer mal wieder die Augen, während sich ihre Lippen lautlos bewegen, einem Kind gleich, das einem Geschichtenerzähler das Märchen nachspricht, mit dem dieser seine Aufmerksamkeit fesselt.
Endlich sieht sie wieder auf, in ihre Augen kehrt der klare Blick zurück, aber auch eine gewisse Unsicherheit. Sie nimmt die Umgebung in sich auf, als müsse sie sich neu orientieren. Da streift ihr Blick Tristan, versichert sie nochmals seiner Anwesenheit, und sie entspannt sich sichtlich. "Eine Halluzination" meint sie nachdenklich. "Es muss eine Halluzination sein – eine sehr machtvolle... Verzauberung, die seine Sinne und nur seine verwirrt. Er ist der einzige, der diesen Trug wahrnehmen kann – und der oder die die Fäden zu diesem Zauber geflochten hat." Ihr Blick wandert zu Freydis, als sie in einem leicht fragenden Ton fortfährt: "Das könnte womöglich dieselbe Person sein, die für die Geschehnisse im Kloster verantwortlich ist, sofern wir annehmen, dass sie dazu in der Lage sei..." Nun wendet sich Lîf Uther erstmals ganz zu. "...oder jemand, der es aus Liebe zu Euch getan hat, um Euch vor Schmerz zu bewahren. Ein Wesen, das Euch wohl will, weil ihr ihm nahesteht. Aber auch eines, das uns Menschen nicht vollkommen verstehen kann und darum nicht einzusehen vermag, dass Handeln aus Liebe nicht immer im Sinne desjenigen ist."
Kurz verstummt sie, ehe sie vor Uther hintritt. Den anderen wirft sie noch einen Blick zu, der zu besagen scheint, dass es keinen Sinn mehr hat, ihre Absichten zu verschleiern. "Ich bitte Euch, lasst uns versuchen zu klären, ob wir uns irren oder nicht. Ich bin mir so gut wie sicher, dass Ihr nicht krank seid – aber ich glaube auch, dass jemand Euch Wissen vorenthält. Wissen, das schmerzhaft und bitter ist. Das geschieht aus guter Absicht heraus, doch es hindert Euch auch daran, klar zu sehen und zu handeln, wie es ein Mann tun sollte, zumal einer, den seine Leute jetzt brauchen! Ich weiß, Ihr habt die Kraft dazu, und ich spüre in Euch die Unrast, weil man Euch davon abhalten will, zu handeln, wie es Euch Ehre und Pflicht gebieten. Seht in mir für den Moment kein Weib, sondern einfach eine, auf die sehr altes Wissen gekommen ist. Erlaubt mir den Versuch, Euren Blick zu schärfen, auf dass Ihr selbst entscheiden könnt, was Euer Herz Euch zu tun aufträgt." Die drudkvinde spricht ruhig, ohne Hektik oder Drängen, aber doch eindringlich genug, um erkennen zu lassen, wie ernst es ihr mit dieser Bitte ist. Auf seinen Versuch, das Thema zu wechseln, geht sie erst gar nicht ein. "Ja, Ihr spürt die Wahrheit bereits, da drinnen" deutet sie auf die linke Seite seiner Brust, "aber Ihr vermögt sie noch nicht zu sehen. Wünscht Ihr nicht, den Dingen ins Auge zu sehen wie ein Mann, statt an einem Gängelband geführt zu werden wie ein Kind, und sei es von noch so liebevoller Hand?"