Die Gefährten folgen Ricky schweigend durch das Spalier der Felsleute. Niemand sagt ein Wort – zu feierlich wirkt die plötzliche Stille auf sie alle. Selbst die vorlaute Laura Ann hält den Mund ausnahmsweise geschlossen. Standbildern aus Granit gleich säumen die Wächter des Orakels ihren Weg, als sie langsam auf die steinerne Hütte zugehen. Der Adler weit über ihnen lässt einen letzten, triumphierend klingenden Schrei hören, ehe er direkt in die Sonne zu fliegen scheint und sich ihren Blicken endgültig entzieht. Jeder von ihnen fühlt dieselbe Anspannung – nicht durch eine Gefahr, die hier drohen würde, sondern weil ihnen auf seltsame Art bewusst ist, dass sie hier vor einer wichtigen, vielleicht entscheidenden Begegnung stehen. Ein Scheideweg, an dem sich verschiedene Schicksalspfade für sie auftun mögen. Wege, Schritte im Verlauf einer langen Reise, die lange vor ihrer Geburt begonnen hat und auch noch lange andauern mag, nachdem sie nicht mehr sind.
Vor dem Durchgang ins Innere des groben Steinbaus zögern sie unwillkürlich. Sie sind sicher, es droht dort keine Falle, kein Hinterhalt oder vergleichbares – und doch: Der letzte Schritt von der sonnendurchfluteten Platte des Felsmassivs ins Innere der kaum erleuchteten Hütte erfordert eine Entschlossenheit, die aufzubringen Mühe kostet. Doch dann tun sie jenen letzten Schritt und betreten das Domizil des Orakels. Drinnen müssen sich ihre Augen zunächst an die hier herrschende Halbdüsternis gewöhnen. Ganz allmählich erkennen sie jedoch Umrisse und schließlich auch Details: Die Hütte ist, wie sie schon von außen sahen, aus großen, grob behauenen Steinblöcken aufgeschichtet. Außer dem Türdurchgang besitzt sie keine Verbindung nach außen, kein Fensterloch, nichts. Das Dach wird von mehreren Säulen aus einem alten, steinhart aussehenden Holz gestützt.
Zwischen diesen brennt ein seltsames Feuer, das ihre Blicke auf sich zieht: In einer halbkugeligen Schale, die mit der runden Seite nach unten direkt auf dem Boden ruht, tanzen rauchlos Flammen, die unablässig ihre Farbe ändern. Weiße und rote Funken züngeln zwischen grünen, blauen und gelben empor, scheinen einander zu umtanzen und können das Auge geradezu fesseln. In ihrem flackernden Licht sehen sie, an den Wänden rundum aufgestapelt, teils aber auch an kurzen Lederriemen von den Balken unter der Decke baumelnd, allerlei merkwürdige Dinge: getrocknete Pflanzen, Wurzeln, Knollen und Blüten zuhauf, einige lederne Säckchen, einfache Töpferwaren, im Flammenschein glitzernde Gegenstände, die metallener Schmuck sein, aber auch aus Bernstein oder anderen unbekannten Materialien bestehen könnten.
Auch Kultgegenstände erkennen sie: Rasseln, Trommeln, Flöten, Tonpfeifen und Medizinbeutel. Daneben Wampums und anderes Muschelgeld. Ein prächtiger Brustschmuck für Krieger, aus Röhrenknochen gefertigt, hängt neben einem kostbar bestickten und verzierten Frauenkleid mitsamt einem dazu passenden Gürtel aus bunt gefärbten, ineinandergeflochtenen Lederschnüren. Es finden sich hier alle möglichen Gegenstände aus dem Lebenskreis der nordamerikanischen Ureinwohner, die einem Anthropologen die Freudentränen in die Augen treiben würden, mit einer Ausnahme: Die Gefährten können keine einzige Waffe entdecken. Weder Pfeil und Bogen noch Speere, Beile, Schädelbrecher oder womit die Indianer sonst üblicherweise Jagd oder Krieg betreiben. Noch nicht einmal ein kleines Frauenmesser zum Ausnehmen von Tieren.
Dafür aber sehen sie rund um das Feuer mehrere flache Steine als Sitzgelegenheiten platziert, mit Fellen bedeckt. Und auf einem davon hockt eine Gestalt im Schneidersitz, vornüber gebeugt, in eine große Felldecke gehüllt. Ein alter, hutzeliger Mann, der vor dem Feuer eingeschlafen ist: So wirkt die regungslose Silhouette. Doch dann erkennen sie das volle, blauschwarz schimmernde Haar, das ohne jeden Schmuck und jede Feder wie ein dunkler Schleier den Kopf umfließt. Und als sie sich aufrichtet, blicken sie in das Antlitz eines Knaben! Dunkle, fast bronzefarbene Haut, große, ausdrucksvolle Augen in einem mädchenhaft weichen Gesicht mit hohen Wangenknochen und den typischen indigenen Zügen. Als er lächelt, zeigt er zwei Reihen perlweißer, wunderschöner Zähne. "Seid willkommen, Wanderer, und setzt euch zu mir ans Feuer" sagt er mit einer Stimme, die man fast für die eines Weibes halten könnte. Sie können alle nicht leugnen, dass er auf eine feenhafte, fast zerbrechliche Art schön wirkt. Jung, unschuldig und schön. Doch in seinen dunklen Augen liegen Ewigkeiten...