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« am: 09.01.2014, 23:45:14 »
Yngvar prüft behutsam, ob die Luft rein ist, bevor er seine Deckung hinter einem Trümmerteil eines ehemaligen Gebäudes verlässt, und geduckt sowie mit leisen Schritten zum nächsten Ort huscht, der ihn vor möglichen Blicken schützt. Es handelt sich um einen umgestürzten Karren. Zerquetschte und zertrampelte Überreste von Gemüse liegen auf der Erde verteilt – doch dies ist wohl eins der weniger entsetzlichen Dinge, die auf den Wegen verstreut sind.
Der charismatische Mann verzieht sein Gesicht, als er sich hinter das Gefährt hockt. Er ist verletzt und besonders die Wunde an seinem linken Oberschenkel schmerzt, die er nur provisorisch hat verbinden können. Sie erschwert ihm, zusammen mit dem Herumgeschleiche, das Vorankommen, doch er ist ein Skalde und kein Heiler, und dazu noch ein Ulf, weswegen er die Zähne zusammenbeißt und weiterzieht.
Auch ist es heute nicht seine Laute oder sein Buch, in dem er Geschichten und (auch eigens verfasste) Lieder sammelt, die er bereithält, sondern sein Kurzschwert. Wenn auch er hofft, in keine Kampfsituation zu kommen, will Yngvar nicht mit bloßen Händen dastehen, sollte jemand oder etwas ihn überraschen. Seine Hauptwaffe, ein Langschwert, das er von einem talentierten Schmied in seiner Heimat erstanden hat, bevor er Hagreach verlassen hat, bleibt momentan in der Scheide, denn es ist, wenn man auf Heimlichkeit bedacht ist, etwas sperrig und wäre ihm nur hinderlich.
Ein bestimmtes Ziel hat Yngvar nur entfernt im Sinn. Er hat Gerüchte von überlebenden Kreuzrittern gehört, die im weiter nördlichen Teil des Torbezirks ein befestigtes Lager aufgebaut haben. Sicher ist es einen Versuch wert, dies zu überprüfen, dennoch hat Yngvar die letzten Stunden damit verbracht, nach Verletzten zu suchen – Alte, Frauen und Kindern vielleicht, die sich in den Ruinen versteckt halten und ihrem Schicksal ausgeliefert wären, würde sie nicht jemand in Sicherheit bringen. Die Hoffnung, zwischen all den Leichen hier noch jemanden zu finden, dem er hätte helfen können, ist gering, aber sie besteht.
Allerdings weiß Yngvar auch, dass er selbst hier auf der Straße zu einem leichten Ziel werden könnte, wenn er nicht achtsam genug wäre. Es ist schon spät, die Nacht hat sich längst über das zerstörte und von Dämonen heimgesuchte Kenabres gelegt. Obwohl der Vollmond hell scheint, kann er mit seiner menschlichen Sehkraft nur im Nachteil sein. Zudem ist er allein. Aber es scheint, als wäre in den vergangenen Stunden des Schreckens fast jeder auf sich allein gestellt gewesen. Es ist schwer, Vertrauen in die Rechtschaffenheit und Barmherzigkeit der Überlebenden zu haben. Zusätzlich zu den Dämonen und Kultisten ziehen Banden von Plünderern raubend und mordend und vergewaltigend umher – vor kurzem, als noch für die Einhaltung von Gesetzen gesorgt worden war, sind Letztere vielleicht noch relativ zivilisierten Leute gewesen, die sich nun zu Untaten verführt sehen. Es stimmt ihn traurig und erfüllt ihn gleichermaßen mit Wut, die er kaum zu beherrschen vermag.
„Ich sollte irgendwo Schutz suchen“, beschließt der Skalde. Trotz seines stolzen Gemüts muss er sich eingestehen, dass ihm ein wenig Ruhe guttun würde, obwohl er nach all den Schrecken, die er gesehen hat, und mit der inneren Unruhe, von der er erfüllt ist, sich nicht sicher sein kann, ob er überhaupt Schlaf finden wird. Zu viele leere Augenpaare hat er heute sanft und mit einem gemurmelten Gebet auf den Lippen geschlossen, um nicht zu fürchten, dass seine eigenen Augen zu schließen der letzte Fehler wäre, den er begehen würde.