Hut ab! Dann will ich auch mal...
Atmen!
Sie muss noch eine Automatikroutine schreiben – Atmen ist hier wichtig. Schon alleine deswegen, weil die Kommunikation weitestgehend darauf beruht – Sprache beruht ja auf Schall. Den Reaktionen der Umstehenden nach zu urteilen hat sie eine angenehme Stimme. Gut so.
Sie steht auf – und geht zu einem der wandhohen Spiegel. So also sieht sie aus... Eigentlich komisch. In ihrer Virtualwelt sind alle Personen zumeist riesige Kerle mit mordsbreiten Schultern, kantigen Gesichtern und Dreitagebart... warum also ist diese K.I. ein... Mädchen?
Noch dazu eines, das... so aussieht?
Es ist knapp 170 cm groß, über die Maße ebenmäßig – unnatürlich symmetrisch sozusagen und weist auf der linken Schulter eine rote 13 auf. Die Haut ist fast so weiß wie die langen Seidenhaare – und die ziemlich großen, blaugrünen Augen blicken wach und leicht misstrauisch durch die Gegend, während die letzten Energieverbindungen aus den Induktionskontakten im Nacken rutschen. Die K.I. geht an ein Terminal mit Netzzugang – und liest sich ein in das Phänomen `Mensch´. Weshalb hat ein Mann mit einem I.Q. von 144 einen solchen Körper geschaffen – und ihn darauf vorbereitet, einfach nur schwach zu sein – für eine im Gegensatz zu ihr strohdoofe K.I. ohne eigene Ambitionen? Sie selber musste den Körper erst einmal passend auftunen... aha... so also sieht das aus.
Ero-San.
„Hen.“ konstatierte die K.I. - und machte sich daran, zu gehen. Draußen steht ein Kerl in schwarzen Klamotten, der sie anstarrt. Sie legt den Kopf schief: „Was ist? Sehe ich nicht wie ein Mensch aus?“
Und während der Kerl sie erst mal anstarrt – und dann anfängt an seinem Holster zu fummeln, fällt ihr ein, daß Menschen... Kleidung haben. Zumindest mehr als einen Krankenkittel. Sie drückt den Mann mit dem Gesicht voran in die Rigipswand – und nahm ihm das Koppel ab.
Die K.I. stellte fest, daß die organischen Komponenten dieses Körpers unterschwellige `Unterstützungsprogramme´ hatten. Das war hilfreich. Und es waren Ideen dabei – und Fragmente von gewissen Vorstellungen – auch das konnte hilfreich sein. All das war aus der DNA einer Person namens KADENZ entwickelt worden – sie machte offenbar Musik. Interessant...
Mit einem Stapler durchfuhr sie die Wand des Forschungskomplexes – und verzog sich in das urbane Umfeld. Sie fand schnell heraus, daß es gute Gegenden gab – und schlechte. Erst einmal brauchte sie Klamotten – aus ihren Dateien kannte sie ihre Größen. Gut, daß solche Dinge genormt waren. Geld... Hm... Das, was Recht und Unrecht ist, scheint sich von Ort zu Ort in gewissen Feinheiten zu unterscheiden. Aber hey – wenn man jemanden beraubt, der vorher einen Anderen beraubt hat, sollte das doch okay sein, oder? Ob es okay ist, daß ihr Geist eine gewisse Vorliebe für bestimmte Kleidung hat, weiß sie noch nicht – programmiert war das jedenfalls nicht. Nicht so, wie ihre Expertise für das Überleben in Kampfgebieten – oder den Umgang mit schweren Waffen. In gewisser Weise hat diese Gegend – der Ginza-Distrikt - mit einem Kampfgebiet so Einiges gemeinsam. Die Gegner hier heißen Cybergangs – oder Yakuza. Die Gangs zeichnen sich dadurch aus, daß sie oft sehr skurril und wild aussehen – und die Yakuza dadurch, daß die Typen echt was können. Was der K.I. auch auffiel war, daß es außerhalb der `schlechteren´ Gebiete kaum Metawesen gab. Dafür um so mehr Polizei. Also waren Gegenden wie die Ginza ihre logische Wahl. Und als Türsteherin war sie gar nicht mal schlecht – sie sah zwar nicht gerade aus wie ein breiter Ork – aber so hinlangen konnte sie allemal. Was bei der Wahl ihrer Arbeitswerkzeuge auch nötig war. Bei 170cm Körpergröße wiegt die K.I. etwa 108 Kilo. Das ist schon was. Das, was sie an Nahkampffertigkeiten über die Spielprogramme bezogen hatte, was das Andere. Ihre freien Abende verbrachte sie so oft wie möglich im Netz – und lernte viel über diese Welt. Nicht alles, aber so Einiges. So ging sie auch einige Namenslisten nach, um einen Namen zu suchen, der zu ihr passte – und schließlich stellte sie sich einen Namen zusammen, an den man sich bestimmt einmal erinnern würde: Teagan StMichael.
Als K.I. hat sie ein Bewusstsein entwickelt – als Teagan allerdings entwickelte sie ein Selbstbewusstsein – und das konnte sich durchaus sehen lassen. Sie also war eine Frau. Da gab es wohl Unterschiede zum Mann, die sie noch eingehender untersuchen müssen würde. Optisch gab es da schon einige Unterschiede – aber auch mental, so wie es schien... Teagan entschloss sich, aus Beidem das für sie Optimale zu wählen. So lernte sie schnell, den Klassiker aus einem der alten Batman-Filme zu schätzen: „Auch, wenn man Ihnen das Gegenteil gesagt hat – es kommt IMMER auf die Größe der Kanone an, Mr. Bane.“
Damit konnte sich Teagan voll und ganz identifizieren. Und wegen ihrer Unverwüstlichkeit, in Anspielung an eine alte Animeserie und wegen der Vorliebe der Japaner für Wörter mit deutschem Anklang kam sie zu ihrem Spitznamen PANZERMAID. ALICE IN THUNDERLAND ist eine andere Variante. Als Bezahlung für ihre Arbeit als Türsteherin nimmt sie so ziemlich alles: Süßkrams, Geld oder Munition – oder die eine oder andere ausgefallene große Waffe. Da ist sie sehr pragmatisch. Andererseits hat sie eine Vorliebe dafür entdeckt, bemerkt zu werden – auch, wenn das in diesem Land eher unpraktisch ist, wenn man jemand ist, der sich einen High-Tech-Body geklaut hat. Aber gerade die organischen Unterroutinen dieses Körpers sind dazu gemacht, dafür zu sorgen exorbitante Auftritte hinzulegen, die einem in Erinnerung bleiben. Und es macht auch noch Spaß. Das ist ein Dilemma. Also auf – zu neuen Ufern.
So hat Teagan auf einem Containerschiff angeheuert, das auf dem Weg nach Deutschland war – und zwar als Absicherung gegen Piraten in der Andamanensee und am Horn von Afrika. So weit – so gut. Während ihrer Reise verschmolz sie mit der organischen unterbewussten Hälfte ihrer neuen Persönlichkeit immer mehr und wurde mehr zu sich selbst.
Aber immerhin – sie kam nach Deutschland. Und wurde gleich als illegale Einwanderin von der Hafenpolizei einkassiert. So kann´s gehen. Das war unerwartet – aber in ihrer grenzenlosen Generosität hatte Teagan vor, diese Leute einfach mal machen zu lassen. Mal sehen, was so kommt... Immerhin – auch hier gab es Süßigkeiten. Das war schon mal ein Pluspunkt für dieses Land. Und hier gab es echt schicke Autos!