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« am: 30.05.2012, 00:39:50 »
"Zunächst einmal", erklärte sich Samuel, "hatte ich nicht die Absicht, jemanden zu beleidigen. Aber ich bin weder ein Politiker, noch in allen Details mit den Kämpfen vertraut, die Sie, meine Herren, früher ausgefochten haben. Noch dazu bin ich erst sehr kurz in der Stadt und möchte nicht behaupten, auch nur einen in der Runde wirklich zu kennen. Meine Fragen mögen naiv erscheinen, doch ich stelle lieber eine naive Frage zu viel, als eine entscheidende zu wenig. Meine Absicht ist lediglich, ein sehr komplexes Gebilde in sehr kurzer Zeit zu verstehen, und nicht, irgendwen zu beleidigen. Oder, um es anders auszudrücken, Herr Seelig - ich versuche nicht, Ihnen das Alphabet beizubringen, sondern mir die mir noch fehlenden Buchstaben aufzudecken."
Mit einem respektvollen, aber keinesfalls unterwürfigen Nicken wandte er sich an Seelig. "Aber Ihre Worten überzeugen mich und beantworten auch gleich einige der weiteren Fragen, die ich ansonsten gestellt hätte. Auch verstehe ich den Mangel an Zeit. So müssen wir also mit Wissenslücken leben. Wie bei einem guten Schachspiel allerdings würde ich nicht aufs Risiko gehen, sondern versuchen, jede andere Figur, die ein Schach erzwingen will, zunächst ihrerseits in eine bedrohte Stellung zu positionieren. Hierfür brauchen wir weniger Zeit, als Intelligenz. Und ich denke, davon ist genug in diesem Raum vorhanden."
Damit wandte er sich an Mommsen, und nickte auch ihm respektvoll zu. "Und auch Ihre Worte passen auf das Schachbrett, denn ja, wir müssen alle Figuren mobilisieren, die auf unserer Seite stehen - selbst die, die lieber dort stehen bleiben würden, wo sie gerade sind. Sie müssen begreifen, dass sie vielleicht geschlagen und vom Feld genommen werden, wenn sie nicht selber handeln."
Samuel wusste nicht genau, ob seine Stimme in dem allgemeinen Getuschel und Gerede überhaupt wahrgenommen wurde, doch setzte er schlicht auf die Stärke seines Organs. "Aber um in mehr als nur Metaphern zu sprechen. Sie, meine Herren, sprechen davon, die besten Figuren an vorderster Front kämpfen zu lassen. Der Gedanke, Friedrich zu einer Machtübergabe an ein Parlament zu motivieren, geht schon eher in die richtige Richtung. Bringen wir auch die übrigen gegnerischen Figuren dazu, sich dorthin zu bewegen, wo wir sie haben wollen! "
Er wandte sich an die beiden Nobel-Brüder. "Würden Sie es vorziehen, in Sicherheit gebracht zu werden, bis alles vorbei ist? Oder lieber die Attentäter aus ihrem Loch locken, und sie zu Fall bringen?" Er drehte sich zurück zu den übrigen Professoren. "Und was ist, wenn Preußen oder Österreich noch etwas in der Hinterhand hat, von dem wir nichts ahnen? Bringen wir sie vorab zu einer Zusage. Sind irgendwelche bedeutenden preußischen oder österreichischen Männer in der Stadt?"
Ein überraschender Eifer hatte Samuel gepackt, während er Pläne schmiedete. Er sah bereits das Ergebnis vor sich, nur war ihm die dazu gehörige Formel noch nicht ganz bekannt. Doch sie offenbarte sich, Stück für Stück.
"Meine Herren, wir müssen Mittel einsetzen, die man uns nie zutrauen würde. Unser Erfolg kann nur in der Überraschung liegen."