Kaum hatte der Student die Tür geöffnet, betrat Samuel den Hörsaal. Er würdigte die Studenten keines Blickes, während er – ein Wasserglas in der einen Hand, einige Unterlagen in der anderen – zum Rednerpult schritt. Er knallte seine Unterlagen auf das Pult, und stellte nicht weniger heftig sein Glas darauf ab. Das Wasser darin spritzte hoch, und einige Tropfen bahnten sich ihren Weg das Glas herunter bis zum Pult.
Nun erst sah er sich im Hörsaal um. Kurz blickte er zu dem Soldaten, der das Rednerpult so mühsam geputzt hatte, und deutete auf die Tür.
„Schließen“, befahl er mit einem kurzen Nicken. Während der Soldat der Anweisung folgte, war beinahe spürbar, wie sich die Empörung weiter im Saal ausbreitete.
Ohne sich vorzustellen oder die Anwesenden zu begrüßen, geschweige denn, sich für seine Verspätung zu entschuldigen, nahm er etwas von seinen Unterlagen, und schritt nach vorne auf die Studenten zu.
„Ich halte hier in meinen Händen ein bedeutendes Buch“, erklärte er. Kurz hielt er es nach vorne, deutete mit dem Finger der freien Hand darauf, und ließ es dann von der einen Hand in die andere wandern, während er mit der nun freien Hand gestikulierte.
„Ein Buch, das ihnen, meine Herren, die Augen öffnen wird, wenn sie sich seiner Bedeutung gewahr werden. Wer von ihnen kann mir sagen, welches Buch es ist, oder zumindest eine Vermutung anstellen, um welche Art von Buch es sich handeln könnte?“Er sah sich unter den Studenten um. Den meisten war anzusehen, dass sie noch immer überlegten, den Hörsaal zu verlassen. Samuel suchte sich einige Gesichter heraus, Studenten, die sich noch immer eine gewisse Offenheit bewahrt hatten.
„Ja, Sie, in der ersten Reihe?“Der Student, ein junger Mann mit etwas zerzausten kurzen blonden Haaren, zögerte kurz, dann sah er Samuel in die Augen.
„Es ist ein schwarzes Buch, vielleicht ein Gesetzestext oder… eine Bibel?“Samuel sah dem Mann kurz in die Augen, dann wandte er sich dem nächsten Studenten in der Reihe zu.
„Und wie ist Ihre Meinung? Sehen Sie sich das Buch ruhig ganz genau an.“Er fixierte den Studenten mit seinen Augen. Fixierte ihn so sehr, dass dieser auch ihm nur in die Augen sah.
„Es ist dann wohl ein Gesetzestext“, antwortete der Student mit offener Ablehnung in seiner Stimme.
„Ein Gesetzestext also. Was fällt Ihnen an diesem Buch noch auf?“ Er deutete auf einen Studenten in der zweiten Reihe.
„Sie.“Samuel hielt das Buch hoch, zeigte darauf, und ließ es schnell von einer Hand in die andere und wieder zurück wandern.
„Es ist ein dickes Buch“, erklärte der Student.
„Sehr gut. Und nun betrachten Sie das Rednerpult. Was fällt Ihnen daran auf?“Kurz starrte der Student ihn verwirrt an, dann sah er zu dem Pult.
„Ihr Wasserglas steht darauf, und einige Wassertropfen laufen an dem Pult entlang nach unten.“Samuel nickte, und sah in die Reihen der Studenten.
„Können alle von Ihnen die Aussagen Ihrer Kommilitonen bestätigen?“Ein allgemeines Nicken ging durch die Reihen.
Auf einmal veränderte sich etwas. Das zunächst herrische, leicht hektische Verhalten Samuels wich einer plötzlichen Ruhe, und ein Lächeln erschien in seinem Gesicht.
„Nun, meine Herren, ich frage Sie: Wie kann es sein, dass Sie einige winzige, transparente Wassertropfen auf einem Rednerpult bemerken, dass einige Meter von ihnen entfernt steht – aber Ihnen fällt nicht auf, dass das schwere, dicke Gesetzesbuch“ – er machte eine Pause und überreichte den Gegenstand in seiner Hand dem Studenten, den er zuerst angesprochen hatte –
„nichts weiter ist als ein dünnes, schwarzes Blatt Papier?“[1]Es herrscht ein kurzer Moment der Stille. Der Student, der das Buch – oder vielmehr das Blatt Papier – in Händen hielt, drehte es herum, versuchte mit offenem Mund herauszufinden, wie dieser Trick funktioniert hatte.
„Empörung.“Samuels durchdringende Stimme ließ das Wort einige Sekunden im Saal verharren, bevor er weiter sprach.
„Ich begrüße Sie, meine Herren, zu unserer heutigen Vorlesung der Psychophysik. Ich bin Doktor Samuel Weissdorn, und Sie sind Teil eines kleinen Experiments geworden, mit dem ich Ihnen die mathematische Berechenbarkeit der menschlichen Wahrnehmung präsentieren möchte.“Nach einem Moment der Stille ging ein Raunen durch den Saal, das in heftiges Tuscheln überging.
„An dieser Stelle möchte ich Herrn Riensche danken, der mir so hervorragend bei dem Experiment assistiert hat. Während ich da draußen vor der Tür gewartet habe, hat er in mühevoller Arbeit das Rednerpult poliert. Eine Arbeit, die ich dann bei meinem zu späten Erscheinen mit dem achtlosen Abstellen des Wasserglases ruiniert habe. Sie haben ihm lange bei dieser Arbeit zugesehen, zudem waren sie bedingt durch meine Verspätung und seine nicht sehr hilfreichen Antworten emotional stark involviert. Ihre Wahrnehmung war auf die Ordentlichkeit und Sauberkeit des Rednerpults geschärft. Hingegen-“Er deutete auf das Blatt Papier, das bereits durch die Reihen der Studenten ging.
„Hatten Sie aufgrund meiner gezeigten Impertinenz wenig Interesse, mir zuzuhören oder den von mir präsentierten Dingen Beachtung zu schenken. Mit ein wenig geschicktem Gestikulieren konnte ich Sie nicht nur Glauben machen, dass es sich bei einem Blatt Papier um ein Buch handelt, Sie haben sich sogar der kollektiven Täuschung hingegeben, dass es sich um ein dickes Gesetzesbuch handelt.“Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht.
„Nehmen Sie es nicht zu schwer, meine Herren, Sie sind schlicht und ergreifend Opfer physikalischer Gesetze geworden. Und um eben diese Gesetze soll es in dieser Vorlesungsreihe gehen. Was macht Wahrnehmung aus? Wieso nehmen wir bestimmte Dinge wahr, andere aber nicht? Wie kommt eine Sinnestäuschung zustande? Sie werden sehen, dass all diese Dinge nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar mathematisch berechenbar sind. Ich werde Ihnen die theoretischen Grundlagen und Formeln nahebringen, und Sie selbige anhand praktischer Beispiele wirklich verstehen lassen.“Er ging zum Rednerpult, legte die Unterlagen, die er achtlos darauf geworfen hatte, sauber zusammen, und tupfte mit einem Ärmel das Wasser weg, das von seinem Glas herunter gelaufen war. Dann drehte er sich wieder um und sah mit einem freundlichen Lächeln die Studenten an.
„Ich hoffe, ich kann Sie für diese Themen begeistern und habe Sie nicht durch meine für das Experiment leider notwendige Verspätung und das dazu gehörige hochmütige Verhalten verschreckt. Wenn dem so ist, wenn Sie also Begeisterung für dieses Thema empfinden können, möchte ich Sie hiermit noch einmal ganz herzlich Willkommen heißen.“Er kam nicht ganz dazu, den Satz in Ruhe auszusprechen, da sich der Raum durch das anerkennende Klopfen der Studenten im Saal mit Lärm füllte. Samuel allerdings schüttelte nur den Kopf.
„Bitte, meine Herren. Wir wollen die Zeit doch für die Wissensvermittlung nutzen. Und dieses Wissen entstammt keinesfalls nur meinem Kopf, sondern auch der genialen Vorarbeit von Menschen wie Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt oder auch Leonardo da Vinci.“[2]