Dorgen Gilmarik - Kleriker des Lathander
4.Eleint 1374 TZ, Kurz vor Sonnenaufgang
Dorgen war eine Stunde vor Sonnenaufgang in einem Einzelzimmer im Gasthaus „Zur Lindwurm-Schildwache“ erwacht. Das Zimmer war nicht groß, aber komfortabel eingerichtet. Das Bett war am gestrigen Abend für ihn frisch bezogen worden. Es war weich - fast schon zu weich, nach seinem Empfinden - und gemütlich gewesen. Nach der Reise von Marsember aus, an der Küste entlang bis Wheloon war es jedoch genau das Richtige gewesen, um zur Ruhe zu kommen. An der, dem Bett gegenüberliegenden, Wand stand ein Tisch, auf dem eine Schüssel mit frischem Wasser platziert worden war. Vor dem Tisch befand sich noch ein Stuhl, auf dem Dorgen einige seiner Sachen abgelegt hatte. Neben den Tisch hatte man noch eine verschließbare Truhe gestellt. Der kleine Schlüssel für das stählerne Schloss an der Truhe befand sich an einem Bund mit einem größeren, massiven Exemplar - dem Zimmerschlüssel.
Einen Moment lang hatte er sich orientieren und sich den vergangenen Tag durch den Kopf gehen lassen müssen. Er war am späten Nachmittag des dritten Eleint in Wheloon angekommen, einem friedlich anmutenden Städtchen. Das Erste, was Dorgen aufgefallen war, waren die im Licht der untergehenden Sonne glänzenden, grünen Dächer. Es gab kein noch so kleines Häuschen, das nicht mit einem solchen Dach verziert war. Die Stadt war erfüllt von dem Lärm rumpelnder Wagen, die von Osten auf dem Weg des Mantikor nach Westen Waren transportierten, von den Geräuschen arbeitender Hände, die damit beschäftigt waren, die ohnehin recht ansehnlichen Häuser noch zu verschönern, und von den Rufen der Handwerker, ihrer Frauen und ihrer Kinder, die Dorgen mit offenen Mündern anstarrten, weil sie nicht allzu oft solch prächtige Rüstungen wie Dorgens sahen.
Dorgen war eine Weile durch die Stadt gelaufen, um einen Eindruck zu gewinnen, nicht nur von der Stadt selbst, sondern auch von ihren Bewohnern. Es gab einige Läden, die gleichzeitig als Wohnungen fungierten und deren Türen offen standen, so dass man ihren Bewohnern bei der Arbeit zu sehen und zu gleich erahnen konnte, wie einfach sie teilweise lebten. Sie waren jedoch zumeist so beschäftigt, dass sie Dorgen nicht einmal bemerkten. Andere Einwohner, die ihm entgegen kamen, starrten ihn unverhohlen und misstrauisch an, die meisten aber grüßten ihn freundlich mit einem Lächeln auf den Lippen.
Am Abend war er am Ufer des Lindwurmlaufs spazieren gegangen, hatte auf den Sonnenuntergang gewartet, der aufgrund des alternden Jahres inzwischen zeitig begann und umso schneller beendet war. Nach Sonnenuntergang waren mehrere Männer mit Laternen durch die Stadt gezogen und hatten an Häuserwänden befestigte Laternen entlang des Wegs des Mantikors und größerer Straßen entzündet. Selbst nach Einbruch der Dunkelheit waren die geschäftigen Geräusche nicht verebbt. Dorgen hatte einen der Männer gefragt, wo er ein Gasthaus finden könne, und er war an das „Lindwurm-Schildwache“ verwiesen worden.
Dorgen fuhr sich kurz über das Gesicht, bevor er damit begann, sich auf den Tag vorzubereiten. Als er kurz vor Sonnenaufgang in den Schankraum trat, waren die beiden Schwestern Baerill und Asanta bereits dabei, die Tische zu reinigen und das Frühstück für ihre Gäste zuzubereiten. So wie Dorgen es am gestrigen Abend aufgeschnappt hatte, waren die beiden Schwestern seit dem Fortgang ihres Vaters die Eigentümerinnen des Gasthauses. Allerdings konnte Dorgen noch immer nicht recht glauben, wohin Buldegas Mhaerkoon gegangen war: ausgerechnet nach Arabel, von dem aus so viele Menschen nach Wheloon geflüchtet waren. Und warum? Um dort ein Gasthaus zu errichten. Dorgen schüttelte lächelnd den Kopf. Aber vielleicht war ein Gasthaus ja auch genau das, was Arabel knapp drei Jahre nach dem Ende der Goblinkriege gebrauchen konnte.
Das Angebot Baerills, ihm ein Frühstück zu bringen, lehnte Dorgen ab. Stattdessen begab er sich auf den Weg zum Lindwurmlauf, um den Sonnenaufgang zu betrachten. Die Männer, die am Vorabend die Laternen entzündet hatten, löschten sie nun wieder, während Dorgen seinen Weg dem Licht entgegen weiter ging.
Wenige Stunden später stand Dorgen vor dem Wachhaus, das aus zwei Gebäudeteilen bestand, die durch einen kurzen Mittelgang miteinander verbunden waren. Der südliche Teil hatte nur kopfgroße, vergitterte Fenster und war von vier Wachen in Purpur umstellt. Das Gefängnis schien demnach direkt an das Wachhaus angeschlossen. Dorgen wandte sich der doppelflügligen, massiven Holztür des zweiten Gebäudeteils zu. Er war unsicher, ob er einfach eintreten sollte, denn einen Türklopfer gab es nicht. Gerade, als er eine der Wachen, die den Gefängnisteil umstellten, fragen wollte, lief eine Frau in den Mittvierzigern an ihm vorbei. Ihr Haar war zu einem langen, braunen Zopf geflochten, ihr Körper, der zum größten Teil unter einem schlichten Kleid in einem blassen Rotton verborgen war, war rundlich, aber keineswegs korpulent. Ihr Gesicht zeigte helle, wache Augen, eine kleine, wohlgeformte Nase und volle Lippen. Ja, Dorgen wäre geneigt gewesen, sie als schön zu bezeichnen, wenn nicht dieser wutverzerrte Ausdruck über ihrem Gesicht gelegen hätte. Sie stieß schwungvoll einen Flügel der Tür auf und trat ungefragt ins Wachhaus. Dorgen beschloss diese Einladung zu nutzen und den Purpurdrachen endlich seine Hilfe zu entbieten, die dieser Tage, an denen Lathanders Scheibe oft von Wolken - gefüllt mit den Tränen der Götter - verdeckt wurde, überall gerne angenommen wurde.
Fabulon - Späher aus dem Hochwald
4. Eleint 1374 TZ, Sonnenaufgang
Vier Tagesreisen lagen hinter Fabulon. Er blickte gen Norden, während zu seiner Rechten langsam Lathanders Scheibe ihren herbstlich-müden Gang über das Firmament begann. Arabel - es schien Ewigkeiten her, seit er die Stadt erreicht hatte. Er schloss kurz die Augen, dachte an den Königswald und an jene, die von dort vertrieben worden waren. Er hatte gehofft, sie in Arabel wieder zu treffen, sie zu finden, zu sehen, dass es ihr gut ging, doch seine Hoffnung war enttäuscht worden. Stattdessen hatte er nur erfahren, dass viele beim Einfall der Horden, und zu einem guten Teil auch schon zuvor, geflohen waren, viele in Richtung Süden in eine kleinere Stadt namens Wheloon. Ob seine Schwester sich unter den Flüchtlingen befunden hatte, hatte er nicht in Erfahrung bringen können. Der Weg nach Wheloon war ein Weg der Hoffnung, die letzte, die er noch hatte, sie wieder zu sehen.
Die Nacht hatte er auf einem der zahlreichen Hügel des Umlandes verbracht. Er atmete tief durch. Als die Sonne das Land in warmes, orangenes Licht tauchte, drehte sich Fabulon gen Süden und blickte direkt auf die Stadt, in der er sie wieder zu treffen hoffte. Wheloon war noch gute zwei Wegstunden entfernt, doch aufgrund seines erhöhten Standpunktes konnte er die Stadt gut überblicken. Auf dem Lindwurmlauf, dem er nun seit vier Tagen folgte, waren immer wieder Schiffe in die eine oder andere Richtung an ihm vorbei gezogen. Wie er nun sehen konnte, schien Wheloon einer der Umschlagplätze zu sein. Etwas weiter östlich der Stadt erregte jedoch noch etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Dichter Nebel zog über einen großen Landstrich hinweg, vor dem man Fabulon eindringlich gewarnt hatte - der Weite Sumpf. Er ließ seinen Blick nicht lange auf dem Nebel verweilen. Er war nicht sein Ziel. Stattdessen schulterte er seine Sachen, überprüfte, ob er nichts an seinem Ruheplatz vergessen hatte und als die Sonne jeden ihrer Strahlen über den Horizont erhoben hatte, setzte er einen Fuß vor den anderen in Richtung Wheloon.
Zwei Stunden später verlangsamten sich seine Schritte. Aufmerksam lief er auf sich windenden und den natürlichen Erhöhungen und Senken folgenden Straßen entlang. Es gefiel ihm, dass man der Natur nicht Einhalt gebot, sie begrenzte und veränderte, sondern stattdessen im Einklang mit ihr - soweit das Menschen möglich war - baute. Über ihm waren graue Wolken aufgezogen, doch sie vermochten es nicht, das Licht Lathanders auszusperren. Fabulon bewunderte die grünen Dächer der Häuser, die im Sonnenlicht schimmerten, als wären sie mit Hunderten von frischen Tautropfen besetzt. Er blieb stehen. Unwillkürlich war er seit dem Morgen auf den höchsten Punkt der Stadt zugelaufen, einem kleinen Hain auf einem Hügel. Nun blickte er vom Hain hinab auf die Stadt und glaubte einen kurzen Moment, dass die Stadt aus Bäumen bestünde, die glänzende, frische und gesunde, grüne Kronen trugen. Aber dieser Moment war schnell vorüber. Vielleicht sehnte er sich auch zu sehr nach seiner Heimat. In der Umgebung der Stadt gab es zwar zahlreiche, kleine Wäldchen, aber im Vergleich zum Hochwald waren das nur karge Baumgruppen, die die Bezeichnung Hain oder Wäldchen gar nicht verdienten. Aber was erwartete er? Niemals war es irgendwo schöner als in der Heimat, sagte man das nicht so? Außerdem war er ja auch nicht hier, um ein lauschiges Plätzchen zu finden. Er wollte heraus finden, wo seine Schwester war, ob sie überhaupt noch lebte. Er atmete tief durch, genoss den Wind, der frisch und wohltuend durch die Stadt zog und betrachtete den Hain, dessen Grenze er nun unbewusst überschritt. Es war ruhig. Der Lärm der Stadt, der bisher zu ihm durchgedrungen war, verebbte. Und doch war er keineswegs allein. Viele Menschen gingen schweigend auf den angelegten Pfaden spazieren, ein paar junge Tunichtgute lagen auf den hellen, kleinen Flecken, die winzige Lichtungen bildeten, aber auch sie wagten es nicht, lauter als ein Flüstern zu sprechen. Doch es hing keineswegs Trübseligkeit über dem Ort. Jeder, dem Fabulon begegnete, lächelte. Er hatte den Eindruck, als wären sie vollkommen zufrieden und auch er selbst fühlte sich ein wenig von dem Kummer und der Last seiner Reise befreit. Wenn sie tatsächlich bis nach Wheloon gereist war, wenn sie es geschafft hatte, dann war sie bestimmt auch hier gewesen. Er lauschte den unterschiedlichen Vogelstimmen und entdeckte einen kleinen Schrein im Herzen des Hains. Einst war er vermutlich ein kleiner Turm gewesen, aus hellgrauen Steinen gemauert. Doch dieser war längst eingefallen. Kreisförmig angeordnet stand nur noch eine mannshohe Mauer, die immer wieder von Stellen unterbrochen wurde, an denen die Steine bis zum Grund des weichen Waldbodens eingefallen waren. Durch eine dieser Lücken erblickte Fabulon einen Altar, der aus denselben Steinen gemauert war. Er war schlicht und schmucklos, aber auf seltsame Art ergreifend. Pflanzenranken schlängelten sich an ihm empor, ohne aber den Altar in Besitz zu nehmen und die steinerne Oberfläche, auf der an jedem kurzen Ende des rechteckigen Gebildes eine kleine, hölzerne Schale - gefüllt mit klarem, glitzerndem Wasser - stand, war unbedeckt. Vor dem Altar stand ein älterer Mann. Sein Haar war kurz geschnitten und kohlschwarz, nur die Seiten waren leicht ergraut. Er trug einfache Gewänder, die ihn an einen Priester erinnerten, aber es war kein Symbol eines Gottes erkennbar. Noch mehr aber überraschte es Fabulon, als der Mann eine kleine Phiole aus seinem Talar zog, sich kurz umsah und einige Tropfen bläulicher Flüssigkeit in eine der Wasser gefüllten Schalen träufelte. Er lächelte dabei unergründlich.
Arion - Paladin im Namen Torms
4.Eleint, Eine Stunde nach Sonnenaufgang
Müde schleppte sich der Mann auf seinem Ross durch die windigen Straßen der Stadt. Alles hatte er auf sich genommen, um endlich mit Regentin Alusair sprechen zu können. Aber bisher war ihm dieser Wunsch verweigert worden. Aufgrund der vergangenen und aktuellen Ereignisse war sie viel zu sehr damit beschäftigt, Cormyr zu regieren und eindringende Feinde im Schach zu halten. Auch das Befehligen der Purpurdrachen war keine einfache Aufgabe. Eine solche Streitmacht musste koordiniert werden. Ganz klar, dass sie da nicht unbedingt ein Ohr für einen Mann hatte, der in eine Stadt wollte, in der ihn nur der Tod oder das Verschwinden im Chaos erwarten konnte. War es überhaupt eine gute Idee, Tilverton betreten zu wollen, nach allem, was mit der Stadt geschehen war? Aber er musste erfahren, was dort vor sich ging und was aus seiner Familie geworden war. Er konnte doch nicht einfach so weiter leben, ohne über ihr Schicksal Bescheid zu wissen. Warum ließ man ihn nicht einfach ein? Es war doch sein eigenes Leben, das er riskierte.
Sein Blick wurde verschwommen. Er hätte in der Nacht eine Rast einlegen sollen, auch um seines Pferdes Willen, das mittlerweile den Kopf hängen ließ. Irgendwie musste er sich verschätzt haben, hatte er doch geglaubt, die Stadt noch am späten Abend erreichen zu können. Aber vielleicht kam die Müdigkeit auch nicht von seiner langen Reise, vielleicht kam sie eher von der zunehmenden Hoffnungslosigkeit, endlich mit Alusair sprechen zu können. Nun war er hier, weil er glaubte, dass ihm dieser Auftrag dabei helfen könnte, endlich bei ihr vorsprechen zu dürfen. Torm stand ihm bei, hatte ihm auf seiner langen Reise immer beigestanden. Aus dieser Erkenntnis schöpfte er neue Kraft. Er hob den Kopf und konnte so endlich sehen, in was für eine Stadt er gelangt war. Wheloon, so hatte man ihm in dem Brief mit dem Auftrag geschrieben, war eine jener Städte, die den Angriff der Horden vor einigen Jahren einigermaßen heil überstandenhatte und seither erblühte. Das Besondere an der Stadt aber sei, dass es die einzige Stadt in Cormyr war, die einen Tempel der Mutter der Magie hatte. Angeblich war er neu erbaut worden, erst wenige Wochen alt. Arion hatte den Auftrag erhalten, sich den Tempel anzusehen und den Priestern seine Hilfe anzubieten, falls sie in diesen ersten Monaten Hilfe gebrauchen konnten. Auch wenn Torm der einzig Wahre war, so war es nicht schlecht, sich mit den Vertretern anderer Götter gut zu stellen, vor allem wenn man auf einer ähnlichen Seite kämpfte, wenn es auch nicht ganz die gleiche war. Arion war sich nicht sicher, warum man ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Ja, er konnte mit Menschen umgehen, er hatte sich stets durchgebissen und einen langen Weg hinter sich. Er hatte sich seinen Platz hart erkämpft. Aber diplomatische Beziehungen knüpfen? Solche Aufgaben waren ihm eher weniger zuteil geworden. Dennoch wollte er im Namen seines Gottes und seiner Kirche alles daran setzen, um den Auftrag auszuführen und zu einem glücklichen Abschluss zu bringen.
Er ließ den Blick schweifen, bewunderte die schönen Straßen und Gassen, die gepflegten Häuser, sah ab und an den lachenden und scheinbar vollkommen unbeschwerten Kindern beim Spielen zu. Hier war alles in Ordnung und er konnte wohl mit Stolz behaupten, dass er auch seinen Teil - wenn er vielleicht auch klein war - dazu beigetragen hatte, dieses Land wieder sicherer zu machen. Aber jedes Glied in der Kette war wichtig, zerbrach nur eines davon, hatte man auch das Ganze nicht mehr. Er lächelte und fühlte seine alte Stärke und Zuversicht zurück kehren. Dennoch: Er musste sich ein wenig ausruhen und auch seinem treuen Gefährten Ruhe gönnen. Es war früh am Morgen, wenn er ein Gasthaus fand und sich ein wenig zur Ruhe legte, dann konnte er am Mittag oder am Nachmittag immer noch zum Tempel aufbrechen. Er wollte gerade einen beschäftigten Handwerker fragen, ob er ihm helfen könne, ein Gasthaus zu finden, bei dem er auch sein Pferd abstellen konnte, als er einen kleinen Jungen am Straßenrand sitzen sah. Er weinte und rieb sich das Knie, unter dem ein wenig Blut hervor quoll. Drei andere Jungen, kaum älter als er, standen im Halbkreis um ihn herum.
“Heulsuse, Heulsuse!”
“Geh doch zu deiner Mami, du Weichei!”
“Ja, oder zu deinem Papi und hilf ihm beim Schöpfen der Latrinen!”
Arion fiel auf, dass die drei anderen Jungen sehr gut gekleidet waren. Der Junge aber, der am Boden saß und weinte, hatte schmutzige Sachen an, die ihm zudem zu klein waren. Sein Gesicht war ebenso schmutzig, doch seine Tränen reinigten die roten Wangen. Der Junge blickte zu Boden und machte nicht den Anschein, als wolle er sich gegen die drei Anderen wehren. Nein, er schien es aufgegeben zu haben. Er schien sich aufgegeben zu haben.