Udeon war hier... Doch zu welchem Zweck? Wollte er Bewohner des Sanatoriums auf Aguas' Seite ziehen, so wie Esulilde es mit Cederons Frau versuchte?
Vielleicht hatte sein Auftauchen auch keine weitere Bedeutung, ihr Herr hätte ihr bestimmt ihren ersten prophetischen Traum geschickt, wenn eine größere bedeutung in seinem Auftauchen gelegen hätte.
Doch ihr Herr hatte ihr auch nicht in ihren Meditationen und stummen Gebeten in der Kirche gezeigt, dass diese Mauern fallen und ihre Brüder und Schwestern den Tod finden würden.
Die Gedanken der Priesterin schweiften in die Ferne... wann würde Aguas ihr gewähren, Blicke in die Zukunft zu erhaschen?
Vor ihrem inneren Auge spielte sich eine erneute Szene aus der Vergangenheit ab: In dunkler Nacht lief Esulilde durch das Haus, um noch ein wenig Wasser zu trinken. Dann vernahm sie das prasseln des Kamins. Leise schlich sie sich zum Kaminzimmer und öffnete die angelehnte Tür einen Spalt breit. Das Fenster im Kaminzimmer war einen Spalt geöffnet. Vor dem flackenden Feuer erkannte sie ihre Mutter, in die Schwarze Priesterinnenrobe gehüllt, unbewegt dasitzen. War dies ihre Art zu meditieren? Gerade wollte sie wieder umkehren, dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter - Doch gleichzeitig klang sie fremdartig, als würde eine andere Person sprechen. Esulilde stand wie gelähmt am Türspalt - sollte sie in den Raum stürmen und die Fremde Person niederschlagen? Sollte sie in die Nacht fliehen?
"Wenn die Sonne sinkt, verlängern sich die Schatten" erklang die fremdartige Stimme. Für den Bruchteil einer Sekunde war Esulilde wie zu Eis erstarrt als ihr die Stimme durch Mark und Bein fuhr. Ihre Mutter zuckte zusammen, kippte ein Stück nach vorne, fing den Fall mit ihren Händen ab. dann drehte sie sich um, erkannte Esulilde und zuckte erneut, dieses mal vor Schreck, zusammen. Doch dann erhob sie sich, ging auf Esulilde zu und legte die Arme sanft um sie. "Verzeih mir, Esulilde, ich hatte wohl die Tür nicht richtig verschlossen, sie muss sich durch einen Windhauch geöffnet haben. Du musst keine Angst vor dem haben, was du gehört und gesehen hast. Ich habe unseren Herrn gebeten, mir einen Blick auf das, was kommen wird, zu gewähren. Und er hat mir nicht nur Dinge gezeigt, sondern auch von Dingen erzählt. Dafür ist es nötig, dass ich ihm als sein Gefäß diene, damit er eine Stimme erhält." Esulildes Angst wich bei den Worten ihrer Mutter aus ihrem Gesicht. Ihre Mutter streichelte sie, während sie mit Esulilde zum Tisch in der Küche, auf dem der Wasserkrug stand, ging. "Alle Gläubigen Aguas' lernen, ihn um Visionen und Einblicke in die Zukunft zu bitten, ganz gleich ob Kleriker oder Prediger. Auch du wirst es lernen, wenn die Zeit gekommen ist.", erzählte ihre Mutter ruhig, während sie einen Tonbecher mit Wasser füllte. "Sieh, dieser Tonbecher ist das Gefäß für das Wasser, so wie ich von Zeit zu zeit das gefäß für meinen Herrn bin. Unser Herr füllte mich mit seiner Gegenwart, so wie ich diesen Becher mit Wasser fülle."Sie gab Esulilde den Becher, welche daraus trank. "Geh nun wieder zu Bett", sagte Esulildes Mutter, nachdem Esulilde den Becher geleert hatte. "Du wirst bestimmt gut schlafen, den Aguas hat mir gesagt, dass wir bald einen weiteren Schlag gegen Elendra und ihre Gefolgsleute führen werden." Bei diesen Worten huschte ein Grinsen über das Gesicht der Mutter und auch Esulildes Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
Die Szene verblasste und Esulilde starrte auf Ihr Trinkgefäß vor ihr, während sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte.