Nach einer Weile schläft Cyparus ein, vorsichtig festgebunden mit einigen Lederbändern von Qocauthas und Caliooqs Sätteln. Dadurch rutscht er nicht vom Rücken seines Rosses, sondern kann sich entspannen, soweit das gefesselt möglich ist.
Shadi neben ihm hält auch nicht viel länger durch. Ihre Wunde schmerzt diabolisch, sodass sie eine Weile länger braucht, um wegzudämmern. Schließlich verlangt der erlittene Blutverlust seinen Tribut.
Sie kann noch den Atemzauber reaktivieren, dann fällt auch sie der Verlockung des Schlafs anheim.
Die nächsten zweieinhalb Tage verlaufen recht ereignislos.
Weder findet sich ein Zeichen von Harnaby noch den Jägern oder ihrem Schiff. Keine Farm liegt auf ihrem Weg, keine Sahuagin zeigen ihre hässlichen Häupter.
Ihre kargen Mahlzeiten bestehen aus Einsiedlerkrebsen, aufgebrochenen Seeigeln, einigen kleineren Fischen und der einen oder anderen vielarmigen Kreatur, die die Menschen noch nie zuvor gesehen haben. Die Vielfalt des Lebens ist unter den Wellen noch phantastischer als über ihnen.
Ab und zu verschwindet Huilo für ein paar Stunden und beschafft irgendwoher Süßwasser. Trotzdem fühlen sich die Kehlen der beiden Menschen praktisch konstant wie Rinde an. Obwohl sie von Wasser umgeben sind, mangelt es ihnen daran.
Die Tage vergehen ermüdend langsam und werden nur unterbrochen, um den Rössern eine Pause zu gönnen oder zu ruhen. Die zweite Nacht müssen sie ungeschützt verbringen, frei im Ozean schwebend und ohne Deckung. An Schlaf ist kaum zu denken.
Die Landschaft ist eintönig und wird höchstens von ein paar Felsen hier und dort durchbrochen. Sonst gibt es nichts als eine blaue Weite, in der sich der Blick im Irgendwo verliert.
Meist hält sich die Gruppe in höheren Gefilden auf, um möglichst viel der einfallenden Sonnenstrahlen einzufangen. Obwohl sich ihre Haut anfühlt, als könne man sie einfach abziehen wie schleimigen Belag, geht es Shadi und Cyparus allmählich besser.
Letzterer ist zwar dauerhaft unterkühlt, entgeht einer Krankheit jedoch aufgrund seines eisenharten Trainings damals im Kloster. Dort musste er teilweise ähnliche Entbehrungen wie dieser Tage erleiden. Trotzdem zehrt die ständige Kälte enorm an seinen wenigen noch verbliebenen Kraftreserven.
Shadi für ihren Teil kann sich zwar relativ sicher sein, ohne Wundbrand davonzukommen, muss jedoch bei jeder sich ergebenen Gelegenheit aufs neue erfahren, wie sehr sie durch ihren fehlenden Arm behindert wird. Sie muss ihre kompletten Gewohnheiten umstellen, auf vieles verzichten und für die meisten komplexeren Tätigkeiten mehr Zeit einplanen. Als genüge dies nicht, pocht die Wunde weiterhin wie ein rasendes Herz.
Den Locatha scheint es kaum besser zu ergehen. Ialoc wirkt abweisend wie eh und je, Huilo hält sich kaum noch in ihrer Nähe auf, Caliooq erleidet immer wieder Zusammenbrüche und Qocauthas Maske der Beherrschtheit bröckelt zusehens. Wahrscheinlich realisieren sie gerade erst, dass ihre Heimat zerstört und ihre Verwandten wahrscheinlich entweder verschleppt oder tot sind.
Am dritten Tag ist die Stimmung am Tiefpunkt angelangt.
Cyparus und Shadi sind geistig, seelisch und körperlich ausgelaugt. An ihrem Zustand hat sich nicht viel geändert
[1]. Beide haben ihre eigenen Gedanken oder Beschäftigungen, weshalb sie kaum auf ihre Umgebung achten.
Plötzlich erhebt sich Qocauthas Stimme mit einer Dringlichkeit, die sich automatisch jeder Aufmerksamkeit versichert:
“Qiooah! Bollwerk!”
Als die Menschen ihre Blicke heben, realisieren sie im ersten Moment kaum, was sich dort in der Ferne aus der Weite schält. Sie ist doch nicht endlos.
Gewaltige Felswände erheben sich bis hinauf in den Sonnenschein und weit über die Wogen hinaus. Ihre unterseeischen Ausläufer sind mindestens so zerklüftet wie die Umgebung von Cyparus´ altem Kloster. Gewaltige Felsbrocken formen eine eigene, pittoreske Landschaft, auf und in der eine komplette Stadt Platz findet.
War Uuhicath eine vor Leben nur so wimmelnde Handelststadt, so ist Qiooah eine Festung.
Überall erheben sich Türme, die teilweise bis knapp unter die Wellen reichen. Ganze Schulen von Seerössern tragen Gerüstete durch enge, leicht zu verteidigende Alleen Es blitzt und funkelt zwischen den Gebäuden nur so vor Stahl. Meterlange Banner wogen in der Brandung, die weiter oben an den Klippen zerschellt. Die Gebäude bestehen nicht aus dem Korallenmaterial, sondern massivem Gestein. Die größten der Felsen scheinen ausgehöhlt worden zu sein.
Viel können die Menschen aus der Ferne nicht erkennen, aber es scheinen fast nur Locathas präsent zu sein, keine Merrow, Tritonen oder Merkwürdigeres. Das bereits bekannte Rufen der Muscheltrompeten kündet von ihrer Entdeckung.
Eine blühende Landschaft aus Feldern erstreckt sich vor der grauweißen Masse Qioaahs. Dort scheint alles mögliche zu wachsen, ist die Vielfalt der Farben und Formen doch enorm. Mit der kargen Umgebung Uuhicaths ist das nicht zu vergleichen.
Die Hililoq beschleunigen automatisch; es bedarf nicht einmal eines leichten Schenkeldrucks. Sie scheinen derart erpicht darauf, endlich wieder in Frieden unter Artgenossen zu sein, dass sie am Rande der Felder gebremst werden müssen. Vor ihnen erstreckt sich ein weites Feld rostroter Algen, das von einem etwa knöchelhohen Steinumzäunung abgegrenzt ist.
“Wir werden hier warten, bis sie zu uns kommen!”, beschließt Qocautha. “Ihr seid als Fremde nicht gern in Bollwerk gesehen. Wir werden für euch sprechen!”
Ialoc, Huilo und Caliooq berühren beide die Oberflächler, ersterer nur zaghaft, aber dennoch bestimmt. Entweder wollen sie ihnen Mut machen oder ihren Beistand versichern, vielleicht beides.
“Habt ihr noch Fragen, bevor sie kommen?”
[2]