7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 09:46 Uhr - Christian-Albrechts-Universität - Alter Hörsaal
Fiete, der junge, noch etwas verschlafen wirkende studentische Soldat oder soldatische Student nickte, ob der Anweisung Samuels und begann sich die Uniform zu richten. Wahrscheinlich hatte er gar nicht auf sein Aussehen geachtet, als er zur Vorlesung gehastet war.
"Danke.", sagte er lakonisch, aber freundlich auf die Anweisungen und Hilfestellungen und wartete darauf, dass der Dozent den Hörsaal verließ. Dann ging er langsam zum Haupteingang, überprüfte seinen Scheitel und den Sitz seiner Kleidung, streckte den Rücken durch und öffnete die Tür...
7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 08:57 Uhr - Frau Borggrefes Haus, Unter Arrest
Emil nickte schließlich, er vertraute seinem Bruder in der Angelegenheit. Er überprüfte den Sitz der Kleidung und blickte kurz mit zweifelndem Blick in das verschneite Gaarden. In der weißen Pracht würde man über hunderte von Metern in den dunklen Kleidern zu erkennen sein. Der Weg würde wahrlich gefährlich werden, wenn sie nach Kiel laufen mussten. Wie weit es wohl zur Universität sein würde? Emil konnte sich diese Frage kaum beantworten, aber er stellte sie auch nicht. Immerhin würden von der Förde selbst kaum Angriffe kommen. Sie war zwar weitestgehend offen gebrochen, aber frei manövrieren würde man wohl kaum, und wenn es bereits einen Angriff im Hafengebiet gegeben hatte, würde man zumindest eine Wachstaffel für die Bewachung des Hafens eingesetzt haben, und sei es nur, um die Bürger zu beruhigen.
Es klopfte an der Tür, es war Rixens Stimme.
"Herr Nobel. Ich würde Sie bitten, so schnell wie möglich ihre Besitztümer zu packen. Wir müssen los." Emil öffnete die Tür und so konnte der Obergefreite Rix sehen, dass Alfred und Emil ihre Sachen schon längst gepackt hatten, was der Obergefreite mit einem breiten Lächeln quittierte. Wahrscheinlich wusste er, dass seine Befehle durch das ganze Haus zu hören waren. Alfred sah an den Augenränder und den leicht zusammengekniffenen Augen des Soldaten, dass er noch etwas mit den Auswirkungen des gemeinsamen Trinkens zu kämpfen hatte. Aber auch für holsteinische Soldaten galt die urdeutsche Feststellung einer Parallelgesellschaft. Dass Privatleben und Berufsleben zu trennen sein und dass der Spaß und die Freude nicht in den Weg der Pflicht kommen durfte. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.
Rix trug selbst bereits einen prall gefüllten Rucksack auf dem Rücken, obwohl er nur leichtes Gepäck ausgegeben hatte. Entweder galt es nur für Hammer und Fritz, oder man wollte besser nicht wissen, was schweres Gepäck für jene Soldaten war. In der linken Hand trug er ein Gewehr. Alfred konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Emil es auffallend genau musterte und ein zufriedenes Nicken von sich gab.
"Dann wollen wir mal.", sagte Rix wahrscheinlich mehr zu sich selbst als zu den beiden Nobelbrüdern.
"Wir werden jetzt in die Hörsäle verlegen. Dort werden Sie mit dem Kameraden Schlosser zusammentreffen, und auf den Herrn Himly treffen, der gemeinsam mit Schlosser auf sie wartet." Man hörte wie Fritz halb laufend, halb stolpernd die Treppen runterhastete, damit er die Vorhut stellen konnte. Hammer lachte auf, trat dann zu Rix und übergab diesem einen Säbel und eine alte Pistole.
"Hier, Rix. Nimm meinen Säbel mit und die Pistole. Falls sie an uns vorbeikommen, brauchst du mehr Munition." Rix nickte und band sich den Säbel samt Scheide an sein Wehrgürtel und hing die Pistole samt Holster ebenfalls dran. Dann sprintete auch Hammer die Treppe runter, ebenfalls mit einem solchen Rucksack und mit einem Gewehr, welches aber deutlich archaischer als Rixens Gewehr aussah.
"Ich bitte Sie, dass sie die Augen ebenfalls aufhalten und die Köpfe runternehmen. Es sind zwar nur im Laufschritt eine Wegstrecke von etwas mehr als fünfzehn Minuten, aber wir sollten Vorsicht walten lassen."Ehe sie sich versahen, drehte sich der Obergefreiter um.
"Kommen Sie." Noch einmal versicherten sich die Nobels, dass sie alles mitgenommen hatten und dann endete ihr kurzer Hausarrest im Haus der Borggrefe auch schon. Mit dem Klacken des einrasteten Schlosses beendete Alfred seine Gefangenschaft.
7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 09:11 Uhr - Am Bahnhof, Ziegelteich
"Es sind nur noch fünfhundert Meter.", rief Rix. Durch die breite Hauptstraße konnte man bereits schemenhaft das Kieler Schloss ausmachen. Rechts von ihnen war die Förde und sie hatten sogar schon die Garnison und den Altenstift hinter sich gelassen. Rix hatte es sich nicht anmerken lassen, aber bei der Garnison hätte eigentlich die von Kamerad Fritz alarmierte Verstärkung ihren Weg schützen sollen. Zwar hätten sie im Hintergrund bleiben sollen, aber soweit Emil und Alfred das beurteilen konnten, hatte sie keinen Soldaten auf dem Weg gesehen.
Ein Schuss erklang aus dem Nichts. Die Nobels und Rix zogen unwillkürlich die Köpfe ein, denn das Geräusch war bedrohlich nah. Ein Mann stürzte vom Dach ab und schlug vor den Nobels auf das Kopfsteinpflaster auf. Ein furchtbarer Anblick und das Brechen der Knochen ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Wenn der Schuss in den Hals ihn nicht getötet hatte, dann war es der Aufprall aus acht oder neun Metern Höhe. Er trug eine holsteinische Uniform, ein kleiner Mann , der schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte und einen schmalen Oberlippenbart trug.
"Behrend, verdammt.", fluchte Rix.
"Sie haben uns eine Falle gestellt. Sie haben den Weg antizipiert. Wir brechen Richtung Südfriedhof[1] aus und nähern uns dann über den Exerzierplatz[2] dem Schloss[3]." Schnell lief Rix westwärts und die Nobels folgten hastig, den toten Soldaten liegend lassen.
Die Idee von Rix hatte eine gewisse Gefahr, dessen war er sich bewusst. Wenn es irgendwo liegende und verborgene Schützen gab, war der Exerzierplatz selbst ein Todesurteil, denn weit über einhundert Meter über offene Fläche zu laufen, war reiner Selbstmord, wenn irgendwo ein guter Schütze lag. Dasselbe mochten Alfred und Emil denken, als der unbebaute Exerzierplatz in Sichtweite kam, doch Rix zog sich hinter die Gebäude zurück und rannte in eine Straße, die als Kirchhofallee bezeichnet war.
"Wir pflügen durch den den Botanischen Garten[4] der Universität. So ein Mist, dass es kein Sommer ist, dann würde man uns gar nicht sehen...Wir kommen dann am Kloster[5] raus und von da an sollten wir es zum Schloss schaffen."Sie rannten zwischen manchen Reihe von Baumstümpfen und immergrünen Pflanzwerk
[6] zwei- oder dreimal, in der Hoffnung mögliche Verfolger zu verwirren. Alfred und Emil brannte die Lunge, oder auch Rix war bereits schweißüberströmt. Zweimal hörte sie in der Ferne noch Schüsse, die sie daran erinnerte, dass sie das Laufen nicht einstellen sollten. Dann sprangen sie über den Zaun des Botanischen Gartens am Kloster, vorbei am alten Refektorium
[7], in schmale Gässchen, in denen die eine oder andere Studentenkneipe ihren Sitz hatte. Doch bei diesem Wetter und der Uhrzeit waren die kleinen, studentischen Vergnügungsgässchen eher nicht beseelt. Doch wenige Meter weiter, hatten sie endlich das Schloss erreicht. Sie rannten am prächtigen, barocken Palais vorbei in eine mehr als ungeschmückte und profane Backsteinbaut, welche nur dadurch Aufmerksamkeit erringen konnte, dass auf einem Schild die Christiana Albertina
[8] abgebildet war und in Frakturlettern
[9] Hörsäle geschrieben stand.
7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 09:50 Uhr - Christian-Albrechts-Universität - Alter Hörsaal
Über eine halbe Stunde hatten sie länger gebraucht als sie beabsichtigt hatten. Sie hatten Wege doppelt und dreifach genommen und jeglichen Kontakt zu Fritz und Hammer verloren. Ein völlig ermatteter Rix, blickte zu einem ebenso ermatteten Emil Nobel. Es war bewunderswert, was Menschen aus sich herauszuholen in der Lage waren, wenn der Henker hinter ihnen er war. Emils Bein hatte diese Belastungsprobe mit Bravour bestanden. Während sie an den Hörsälen vorbeischritten, sahen sie, dass nur einer geöffnet war, die anderen drei Hörsäle waren wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Vor der offenen Tür stand ein schlanker Mann mit dunklem Haar, einer auffallend großen Nase und einer kleinen, runden Brille. Er war kein Riese, aber doch etwas größer gewachsen als der Durchschnittsbürger. In seinem dunklen Anzug und dem sorgsam gebundenen Krawattenschal machte er einen seriösen, wie auch selbstbewussten Eindruck
[10]. Neben ihm stand ein Soldat mit halblangen, rostroten Haar, mit ebenso auffälliger Nase. Er war untersetzt, hatte einen merkwürdig verstockten Gang und blickte desinteressiert an den Nobels vorbei zu Rix. Es war der bebrillte Mann, der auf die Nobels zutrat.
"Herr Nobel! Sie haben es geschafft! Welch eine Ehre, welch eine besondere Ehre, sie in der CAU begrüßen zu dürfen. Ich bin Carl Himly."Himly schüttelte den beiden Nobels die Hände und klopfte ihnen aufmunternd auf die Schulter.
"Ich habe uns Plätze besetzen lassen. Ruhen Sie sich erstmal nach der sicher aufregenden, wenn ich ihren Schweiß interpretieren darf, Reise hierhin aus. Das Haus ist gesichert, keine Sorge. Wir werden Sie zwischen den Gästen der Vorlesung gut verbergen, und wenn alle den Hörsaal später verlassen, können wir Sie in aller Ruhe, ohne viel Aufhebens in eine neue Unterkunft bringen."Alfred und Emil folgten Carl Himly in den Hörsaal, der schon fast bis zum Bersten gefüllt war. Studenten, auch ältere Herren, vor allem wohl Dozenten, saßen auf den Plätzen, die jüngsten Studenten mussten stehen. Sie schauten wild tuschelnd einem Soldaten zu, der das Redepult unter der großen, wandfüllenden Christiana Albertina putzte, als würde er einen Tanzboden bohnern.
Sie setzen sich an einen Tisch in der relativen Mitte des Auditoriums.
"Ich bin außerordentlich erfreut, Sie hier sehen zu können, Herr Nobel." Doch bevor Carl etwas sagen konnte, begab sich ein weiterer Mann mit Brille zu Carl Himly und Alfred Nobel. Er stellte sich nur kurz als Gustav Karsten
[11] vor und setzte sich dann sichtlich nervös an seinen Platz neben Carl Himly.
"Entschuldigen Sie, die Nervosität meines Kollegen, Herr Nobel." Karsten wurde bei dem Namen kurz hellhörig und musterte Alfred mit einem freundlichen Lächeln, drehte sich dann wieder zum Pult, an dem ein stämmiger, etwas verschlafen wirkender Soldat noch immer das Rednerpult polierte.
"Aber Herr Karstens neuer Schützling hält gleich seine Antrittsvorlesung. Herr Samuel Weißdorn. Wir dürfen sehr gespannt sein."7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 10:16 Uhr - Christian-Albrechts-Universität - Alter Hörsaal
Tatsächlich beruhigten sich Puls der beiden Nobels wieder, alles setzte sich ein wenig
[12]. Rix und der rothaarige Soldat, der wohl Schlosser war, waren draußen geblieben und der Soldat im Inneren des Hörsaals hatte sich inzwischen neben den Dozenteneingang gestellt. Um 10:00 hätte der Dozent erscheinen sollen, und dass er nicht zeitig zu seiner Antrittsvorlesung erschien, um pünktlich um Viertel nach zehn zu beginnen, schien vor allem jene Besucher mit preußischem Geiste zu verwirren und zu stören. Immer wieder fragten sie den Soldaten, wann Herr Weißdorn denn zu erscheinen gedenke und immer wieder antwortete er nur lakonisch:
"Bald."Doch die Nachfragen wurden immer dreister und verärgerter und als sich die ersten anschickten, ihre Papiere für die Mitschriften wieder zusammenzusammeln und die Vorlesung zu verlassen, öffnete der Soldat die Tür des Dozenteneinganges und ging kurz durch die Tür, um nur Sekunden später wieder zu erscheinen. Still schweigend stellte er sich neben die nun geöffnete Tür. Ein Murren ging durch den Saal.