Die Nacht des 21. Tages im 2. Vikentori, 488 nach Gründung Mechanika, 27:00 Uhr
Ruhig stand er dort, der Turm der Ewigkeit. In Mitten des Platzes der Helden, zwischen den Statuen längst vergangener Brigadiere... Eine Erinnerung an die dunklen Jahrhunderte, die Zeit der Verzweiflung und des Leids und ein Mahnmal daran, wie unzählige Männer und Frauen für uns in den Tod gegangen waren. Auf dass sie uns eines Besseren belehren und wir unser Leben als das wertschätzen, was es ist. Eine Chance.
Unsere wohl letzte, verfluchte Chance.
Theodor Smaugle war an diesem Abend wohl erneut über seiner Lektüre eingenickt, was offengestanden nicht sonderlich zur Verwunderung einlud. Der Schlaf war einer der ärgsten Gegner des mittlerweile über einhundertundfünfundneunzig Jahre alten Kobolds, und er hatte schon vor einiger Zeit resignierend erkannt, dass er zumindest diese Auseinandersetzung nicht mehr gewinnen würde. So kam es also, dass er an diesem Abend und um dieser Stunde wieder friedlich mit dem Kopf auf dem selbstverfassten Buch schlummerte, inmitten seiner bescheidenen Behausung nicht weit ab der Stufen, welche auf den Plateaukreis des Platzes der Helden führte, aus welchem sich, wie oben bereits erwähnt, eben auch besagter Uhrturm erhob... Bis ihn ein eigenartig vertrautes Geräusch weckte.
Betrübt öffnete er die vom Alter gezeichneten Augen und seufzte, ob er jenes eben Gehörte nun wahrlich vernommen hatte oder ihm gar das Reich der Träume einmal mehr einen Streich spielte? Verdutzt richtete er sich auf dem knarzenden Stuhl auf und ließ den Blick durch das kleine Zelt schweifen, welches er seit über hundert Jahre sein Zuhause nannte. Er erkannte, dass sich nichts verändert hatte. Die unzähligen Bücher und Schriftrollen, welche in Regalen aufgereiht waren, am Tisch ausgebreitet oder die den Großteil des Bodens beanspruchten... Nichts fehlte oder hätte dem Kobold Grund zur Besorgnis geben können. Doch innerlich spürte er, dass dennoch etwas nicht in Ordnung war. Er war bei Leibe kein abergläubischer Mann, doch wenn er etwas gelernt hatte, dann dass er seinen Nackenhaaren vertrauen konnte!
Blinzelnd versuchte er, den vom Schlaf immer noch eingenommenen, milchigen Blick zu klären und tastete mit seinen knorrigen Fingern nach der notwendigen Brille, als er das Geräusch erneut hörte. Was war das? Es klang, als würde sich Stein auf Stein bewegen. Er verharrte noch an den Tisch gelehnt und unterband jegliche Bewegung, um weiter mit seinen spitz zulaufenden Ohren zu lauschen. Dort! Da war es schon wieder. Als würde sich ächzend uralter Stein unter der Last seiner Bürde beklagen, kam ihm in den Sinn, als die Erkenntnis ihn wie einen Schlag traf und just der Stuhl unter seiner daraus folgenden, ruckartigen Bewegung samt Kobold nach hinten kippte.
Polternd landete Theodor in einem weniger sorgsam aufgestapelten Haufen mehrerer Pläne, welche seine Landung bremsten.“Verflixt und Zugenäht!“ fluchte er, während er auf die Beine schnellte und sich überstürzt den Weg durch das Chaos des Zeltes bahnte, bis er den Vorhang, welcher als Tür diente, endlich erreichte. Das Geräusch ertönte erneut und schien nun in besorgniserregender Regelmäßigkeit lauter zu werden, als der Kobold aus seinem Zuhause stolperte und schließlich am Fuße des nahen Turmes zum Stehen kam. Dort verharrte er von Ehrfurcht ergriffen und riss die Augen weit auf, als ihm die Wahrheit über den Ursprung der nächtlichen Störung bewusst wurde.
Tränen bildeten sich in seinen Augen und er kam nicht umhin, leise zu flüstern :“Ich habs doch gewusst... Bei Mutter Pint. Ich habs doch gewusst!“
Obgleich er am liebsten dem Drang eines lauten Freudenschreies hätte nachgeben wollen, besann er sich und sortierte seine Gedanken. Dafür war er all die Jahre hier geblieben! Ein weiterer Ruck durchfuhr ihn und er verschenkte keinen weiteren Augenblick. In für sein Alter äußerst ungewöhnlicher Schnelligkeit rannte er die Stufen erneut hinab und stürzte zurück in das Zelt, in welchem er noch vor wenigen Minuten friedlich geschlafen hatte. Vor Euphorie gepackt verringerte er dabei keineswegs die eigene Geschwindigkeit und knallte als Resultat dessen mit voller Wucht gegen den Tisch, wobei er mehrere Bücher umstieß und einen Wasserkrug über den Boden auskippte. Laut fluchend fuchtelte er eine Schriftrolle hinfort, welche sich an seinem Unterarm verfangen hatte, und fand endlich das Objekt seiner Begierde, das ans Graphennetz angeschlossene Audiophon. Zitternd besann er sich gedanklich erneut seiner Aufgabe und atmete tief durch, bevor er den Hörer abnahm und den Wählhebel betätigte.
Freundlich meldete sich eine Frau am anderen Ende der Leitung. „Guten Abend Sir, wie kann ich dienen?“
Theodor hob seine Stimme und versuchte so deutlich wie möglich zu sprechen, wobei er zwischen einzelnen Worten absichtlich Pausen einstreute.
„Ich benötige Widwicky 403. Ich wiederhole, W-i-d-w-i-c-k-y 4-0-3.“ Die Dame des Graphennetzes antwortete rasch mit einem, nicht minder netten: „Ich verbinde Sir, einen schönen Abend wünsche ich!“ bevor die Verbindung mehrmals knackste und sich die Weiterleitung einschaltete.
Unterdessen bemerkte der Kobold, wie das gesamte Zelt zu rütteln begann. Das mahlende Geräusch hatte sich bereits zu einem ohrenbetäubenden Lärm entwickelt, als sich endlich am anderen Ende die Stimme eines Mannes meldete. „Haus Ornstein, mit wem spreche ich?“
„Ich muss sofort mit der Senatorin reden, sagen sie Ihr, es ist von bedeutender Wichtigkeit!“ rief Theodor in den Apparat, während er sich mit der anderen Hand das freie Ohr zu hielt, als das Dröhnen immer lauter wurde. Klirrend fiel ein Reagenzglas aus einem Regal hinter ihm.
„Smaugle, nehme ich an...?“ der andere Mann seufzte hörbar. „Was ist es denn dieses Mal? Hat sich denn der Minutenzeiger wieder um eine Viertelsekunde bewegt?“ scherzte er verächtlich, was Theodor augenblicklich zur Weißglut brachte.
„Verflucht nochmal, LaVeil, sie einfältiger Freggle! Wecken sie sofort Ornstein, ich muss mit ihr sprechen!“
„Ich bitte Sie, Smaugle. Benehmen Sie sich! Ich werde die Senatorin nicht um diese Uhrzeit stören. Also legen Sie sich wieder schlafen und-“ Ein lauter Knall ließ den Butler des Hauses Ornstein kurzzeitig verstummen.
„Zum Kuckuck Smaugle, was ist da bei Ihnen schon wieder los?“
Der Kobold hatte sich bereits unter den schweren Holztisch zurückgezogen, als das Zelt unter der Belastung des Bebens nachgab. Die wenigen Möbel stürzten um und der gesamte Hausrat wirbelte wie von Geisterhand getragen durch die Luft. Magie bahnte sich seinen Weg ungezügelt durch die Umgebung und füllte die Atmosphäre kribbelnd mit Energie. Nervös tastete Smaugle nach dem Audiophon, welches zu seinem Glück nicht weit ab am Boden lag. Er konnte nur hoffen, dass die Kabel nicht abgerissen wurden und die Verbindung weiter bestehen blieb, doch wollte er dies nicht nachprüfen, denn er musste so schnell wie möglich hier weg! Hastig hob er also den Hörer und schrie:
„Er öffnet sich! Bei Mutter Pint, sagen sie Ornstein ich hatte Recht! Der Turm öffnet sich!“