Dabei hatte der Tag eigentlich ganz gut angefangen. Auch wenn niemand in ihrer kleinen Truppe so recht was mit ihm anzufangen wusste, auch wenn William sich fast die ganze Zeit mit diesem Theudis unterhielt—mit dem Finlay selbst bisher kaum ein Dutzend Worte gewechselt hatte—und die beiden anderen, Tobin und Carver, miteinander, denn sie zogen schon seit Jahren zusammen durch die Gegend, auch wenn Finlay also so etwas wie das fünfte Rad am Wagen war und von allen eher misstrauisch beäugt wurde, so hatte er sich trotz allem bei ihrem hastigen Frühmahl zum ersten Mal seit Wochen wieder wie ein Mensch gefühlt. Er war nicht mehr allein! Er hatte Leute um sich, mit denen er reden könnte, wenn er sich nur dazu entschlösse, endlich selbst den Mund aufzumachen. Bis dahin aber lauschte er ihren Gesprächen, und das allein war schon eine Wohltat nach Wochen der Stille.
Natürlich hatte man am Anfang das übliche Frage-Antwort-Spiel gespielt:
"Wo machst du so, was hast du drauf, wo kommst du her?" Finlay hatte einsilbig geantwortet:
"Gaukler; alles, wozu es Körpergefühl und geschickte Finger braucht; aus Brevoy." Die ersten beiden Antworten ließen Augenbrauen in die Höhe schnellen, doch man hakte nur bei der dritten nach:
"Aus Brevoy? Du bist aber weit von zuhaus." Finlay erklärte noch knapp, dass er seine Jugend bei einer varisischen Gauklertruppe verbracht habe und sein Nachname außerdem Alt-Taldane wäre (wie die Mutter es nannte; gemeint war Azlanti) und "Sohn eines Lachses" hieße, und Lachse seien ja die größten Wanderer unter den Fischen und das sei er eben auch. Als Tobin ihn darauf fragte, warum er nicht mehr bei seiner Gauklertruppe sei, schwieg Finlay. Trotzdem lieh der Mann ihm beim Nachtlager seinen Mantel, denn es war bitterkalt und Finlay besaß nichts außer den Kleidern am Leib und einer dünnen Decke, die nun einmal nicht für ein Wintercamp im Freien gedacht war.
Jedenfalls tat es gut, gemeinsam unterwegs zu sein. Am nächsten Tag, in den Zwergenruinen, nachdem man zusammen gegen die seltsamsten Monster gekämpft hatte, die Finlay nicht einmal aus Geschichten kannte, und er sich dabei aber wacker geschlagen hatte, ließ auch das Misstrauen nach und zweimal wurde ihm auf die Schulter geklopft, einmal von Tobin, einmal von William.
Dieser William stellte Finlay allerdings von Anfang an vor ein Problem. Ein Paladin! Mal von dem schwer erträglichen Gequatsche über Tapferkeit, Ehre, Gerechtigkeit und den elf Wundern der Iomedae abgesehen, stellte sich nämlich die Frage:
Kann ich einen Paladin täuschen? Wenn ich zauber, wird er nicht sofort bemerken, dass es göttliche Magie ist, die ich wirke, so sehr ich auch versuche, sie als Bardenmagie zu tarnen? Wage ich es überhaupt? Wenn er mir nämlich draufkommt, wird's eine herrliche Aufregung geben, wo ein anderer Mann vielleicht nur mit der Schulter zucken würd'. Nein, ich glaub, ich wag' es nicht—außer, es geht nicht anders. Im Kampf, wenn ein Leben auf dem Spiel steht.Dann begegneten sie ihrem ersten Untoten. Obwohl Kleriker, war Finlay sein Lebtag noch keinem Untoten begegnet. Als Naderipriester zählte es nicht zu seinen Aufgaben, solche zu bekämpfen, und er verstand auch nicht so ganz, warum William
derartig abdrehte. Ein Allip, so viel wusste Finlay—denn Bruder Oldroyd hatte darauf bestanden, seinen jungen Schützling zumindest in der Theorie auf Begegnungen mit solchen Kreaturen vorzubereiten, denn: "Du weißt nie, ob du nicht einmal einen erlösen musst, damit zwei Liebende zusammenkommen. Schau nicht so skeptisch, mir ist so ein Fall schon untergekommen, da war er zum Untoten geworden und sie wandte sich an einen Erzmagier, damit er ihr helfe, auch eine Untote zu werden. Ich habe dann aber ihren Geliebten erlöst und sie ist lieber in den Fluss gegangen. Also es kommt vielleicht nicht oft vor, dass wir mit Untoten zu tun haben, aber es kommt vor!"—ein Allip also war der spektrale Überrest eines intelligenten Wesens, das vom Wahn in den Selbstmord getrieben wurde.
[1] Das war aber schon alles, was Finlay wusste, denn er hatte sofort seine Ohren auf Durchzug gestellt. Von Allips wollte er nicht mehr wissen! War das sein Schicksal? Würde er so enden? Denn was war Liebe anderes als ein Wahn? Doch halt, nein, Naderi würde es nicht zulassen, sie würde sich an ihr Versprechen halten, Finlay würde mit der Liebsten vereint werden und nicht zu
sowas werden. Trotzdem waren Bruder Oldroyds Ausführungen beendet, bevor Finlay wieder aufmerkte.
Ganz anders verhielt es sich bei den Ghulen. Über Ghule wusste Finlay so ziemlich alles, was es zu wissen gab.
[2] Irgendwie bedauerte er dieses Wissen gerade, wie er so im Dunklen in der Fallgrube, halb auf, halb unter seinem Gepäck lag und sich freizustrampeln versuchte. So grotesk und schrecklich-widerwärtig die vorigen Kreaturen waren: Ghule waren um ein Vielfaches grotesker, schrecklicher, widerwärtiger. Die Todesschreie der Gefährten hallten noch in seinen Ohren wider. Carver war tot, bevor die anderen auch nur begriffen, von was sie da angegriffen wurden. Tobin, was hat Tobin sich bloß gedacht? Wollte er den Freund rächen? Dachte er, Carver könne noch geheilt werden, wenn man ihn da nur fortzerren könnte? Und William, natürlich stürzte William sich todesmutig ins Gemetzel, obwohl ihm zu dem Zeitpunkt klar war:
"Es sind zu viele, lauft, ihr beiden, ich versuche, sie lange genug zu beschäftigen!"Natürlich lief Theudis nicht und auch Finlay versuchte mit ihm—denn eine Flucht allein würde er eh nicht überleben—William da herauszuschlagen. Finlay wollte sogar zaubern, nein, er wollte die ihm von Naderi verliehenen heiligen Kräfte
direkt gegen die Ghule einsetzen, doch da war William auch schon tot. Tot und halb aufgefressen. Bei einem solch reichgedeckten Tisch aber war die Hälfte der Ghule erst einmal beschäftigt, die andere dagegen wurde ganz furchtbar neidisch.
Und so flohen Finlay und Theudis Hals über Kopf und entkamen... in eine Grube.
~~~
Das erste, was Finlay in der Grube tat, war ein Licht zu zaubern.
[3] Dann sortierte er seine Gliedmaßen und rappelte sich auf. Betrachtete seine Umgebung. Tastete sie ab. Sah zur Decke. Versuchte mehrmals, diese zu erreichen und sich dort irgendwo festzukrallen—was er erreichen wollte, wenn es ihm gelänge, war ihm nicht so ganz klar—aber es gelang ihm nicht.
[4]Er setzte sich wieder, sah Theudis mit weit aufgerissenen Augen an, in denen das Entsetzen über das gerade Erlebte überdeutlich zu lesen stand, und sagte:
"Nun gut. Das löst meine Geldsorgen natürlich auch."