So vertagte man die Entscheidung, was mit den Gefangenen zu tun war, auf den nächsten Morgen, denn müde, wie sie alle waren, waren sie mit den Gedanken ohnehin eher bei ihrer Nachtruhe - schließlich war es inzwischen inmitten der ganzen Aufregung auch späte Nacht geworden. Der Rest der Nacht immerhin verlief ruhig, und auch die Gefangenen versuchten im Angesicht der aufmerksamen Wachen nichts, was ihre Lage womöglich noch weiter verschlimmern würde.
Am nächsten Morgen erwachten sie im Nebel, der aber bereits an der einen oder anderen Stelle von kräftigen Sonnenstrahlen durchdrungen wurde. Es war abzusehen, dass sie spätestens am späten Vormittag durch herrlichen Sonnenschein reiten würden, und so verbreitete sich trotz des Überfalls am vorigen Abend eine gute Laune innerhalb der Karawane. Vielleicht war es diese heitere Stimmung, die dafür sorgte, dass man letztlich darauf verzichtete, die Gefangenen an den nächsten Baum zu knüpfen. Stattdessen löste die Fesseln aller Ulfen bis auf einen, die dann auch, ihr Glück kaum fassend, nach einer kurzen Unsicherheit, welches Spiel hier wohl mit ihnen getrieben wurde, die Beine in die Hand nahmen und in den Büschen abseits der Straße verschwanden. Der letzte Gefangene, so hatte man es beschlossen, würde sie nach Kalsgard begleiten, um vielleicht doch noch ein paar Informationen aus ihm herauszubekommen.
Nach längerer Diskussion beschloss man auch, Sandrus Bedenken Folge zu leisten und das Schiff nicht mit nach Kalsgard zu nehmen. Stattdessen ließ man es einfach an Ort und Stelle liegen, und brach schließlich auf, um den Ort des Überfalls hinter sich zu lassen.
Die Reise verlief, ganz wie das Wetter es versprochen hatte, ausgezeichnet und man kam schnell voran, so dass die Karawane nach einer diesmal ereignislosen Nacht und einem weiteren Reisetag am späten Nachmittag des nächsten Tages vor sich die Mauern Kalsgards erblickte. Schon von weitem bot die Stadt einen Anblick, der nur die wenigsten der Reisenden nicht zu beeindrucken vermochte. Vom Fluss ab, an dessen Ufer sich die Straße entlangschlängelte, zog sich die Stadtmauer tausende Schritte nach links ins Land hinein - war es wirklich möglich, dass eine einzige Stadt sich auf eine solche Fläche erstreckte? Der ein oder andere dachte daran, wie man die ganzen Menschen wohl ernähren sollte, aber hauptsächlich kam man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was würde sie in dieser Stadt wohl erwarten? Und viel wichtiger: Wie sollten sie hier irgendetwas finden?
Ameiko schien sich zumindest einige Gedanken darüber gemacht zu haben, was zu tun wäre, wenn sie Kalsgard erreichten. Als sie durch das östliche Stadttor das Eichenviertel der Stadt betraten
[1], teilte sie den anderen ihre Planungen mit:
"Wir haben eine Spur, der wir zuerst folgen sollten: Mein Großvater hat das Schwert, das wir suchen, einem Händler namens Fynn Snaevald verkauft.[2] Das ist zwar sicher schon sechzig Jahre her, aber vielleicht gibt es einen Nachfahren, der uns weiterhelfen kann. Händler haben ja manchmal Aufzeichnungen über ihre Geschäfte, und wer weiß: Vielleicht hat er das Schwert für seine Sammlung behalten?"Während die Karawane an zahlreichen Zimmermannswerkstätten vorbeizog, sprach Ameiko weiter.
"Außerdem führt uns unser Weg unweigerlich nach Minkai. Ob wir das Schwert finden oder nicht, ich muss und ich werde dorthin reisen. Und auch wenn ich nicht viel über die Heimat meiner Vorfahren weiß, so weiß ich zumindest, dass es eine gefährliche Reise ist, die man nicht ohne einen kompetenten Führer antreten sollte. Also müssen wir einen solchen finden.
Zuerst aber brauchen wir eine Unterkunft. Ich schlage vor, wir suchen uns etwas hier in den äußeren Bezirken, um nicht zuviel Aufmerksamkeit zu erregen."In diesem Moment kehrte Sandru, der etwas abseits mit Einwohnern gesprochen hatte, mit einem etwa zehnjährigen Jungen zu den anderen zurück.
"Während du hier deine Pläne schmiedest, habe ich mich informiert." entgegnete er Ameiko mit einem überlegenen Grinsen.
"Wir gehen ins Knochenviertel. Olaf hier wird uns hinführen - dort lagern so ziemlich alle Karawanenen, die aus Varisia kommen. Zum einen bin zumindest ich auch hier, um ein paar Geschäfte zu machen, und außerdem: Wo wären wir weniger auffällig?"Ameiko und auch die anderen stimmten schnell zu, und so gelangten sie schließlich an ihr Ziel, wo Sandru Olaf mit einer Münze verabschiedete. Tatsächlich gab es hier ein großes Areal, wo sich die verschiedensten Gruppen niedergelassen hatten und gemeinsam einen großen Markt bildeten - von allen Seiten hörten die Reisenden die Rufe der Händler, die ihre Güter anpriesen. Schnell fand auch Sandru einen Platz, an dem er sein Lager aufschlagen wollte. Man einigte sich, dass er mit seinen Leuten die Karawane vorbereiten würde auf ihre Weiterreise nach Minkai, während Gorog, Garridan, Shuo, Mugin und auch Cliff sich eine Unterkunft suchen würden und dort mit der Suche beginnen, um nicht womöglich noch Aufmerksamkeit auf die Karawane zu lenken, bei der Ameiko bleiben würde. Gerade sie musste vorsichtig sein, denn der Zwischenfall mit den Räubern war ihnen allen noch in Erinnerung, und es war durchaus möglich, dass nach ihr gesucht wurde.
Den Fünfen war es recht, denn so hatten sie endlich wieder die Aussicht auf ein bequemes Bett, und so fanden sie schließlich Unterkunft in einem geschäftigen Gasthaus am Rande des Knochenviertels, dem
Röhrenden Ren.
Von hier konnten sie nun ihre Suche starten.