Da eine Verständigung nicht gelingt, zieht die Gruppe mit einigem Bedauern weiter. Lîf ärgert es, dass sie der Gebärenden nicht helfen konnte, während Aeryn sich wünscht, man hätte die Bohabangai fragen können, ob ihnen Kolkar hier im Wald begegnet seien, und wo. Abdo dagegen fühlt sich an seine Anfangszeit auf Albion erinnert, als er selbst sich nur mühsamst mit Gesten und einem mageren Dutzend aufgeschnappter Worten verständigen konnte. Dagegen sind seine heutigen Schwierigkeiten mit der Landessprache nichts!
Und so hat die Begegnung den Gefährten eines vor Augen geführt, das man zuvor gar nicht bedacht hat: bisher ist man unter Menschen unterwegs gewesen, mit denen eine Verständigung stets möglich war – oder zumindest niemals allein an der Sprache scheiterte. Das gilt nun nicht mehr. Mit jedem Schritt lässt man das Menschenreich weiter hinter sich und obwohl die Gefährten sprachlich eine Begegnung weder mit Elben noch Kolkar noch den Dain fürchten müssen, so ist doch nicht abzusehen, welch sonstiges Volk man hier wohl antreffen mag. Ishalón, beispielsweise, der Satyr, den sie suchen – was, wenn er keine der drei Sprachen spricht?
Diese Frage spricht Lîf erschrocken aus
[1].
"Choron warnte mich, dass die Feen im Wald viel wilder seien als er und seine Geschwister beim Fall, aber mir fiel nicht ein nachzufragen, ob sie denn auch unsere Sprache verstünden! Er und seine Schwestern leben bereits seit Jahrhunderten gleich neben einer menschlichen Siedlung, da leuchtet es ein, dass sie auch deren Sprache sprechen, aber Ishalón, Herr des Waldes? Obwohl... es heißt ja, dass er jede hübsche Maid umgarnt, auch Elben- oder Menschenweib, da muss er sich wohl auch sprachlich mit ihnen verständigen können...? Dazu hätte Choron mir nicht geraten, ihn zu befragen, wenn das sprachlich unmöglich wäre. Ach, und überhaupt, der Reim! Ishalón dichtet offenbar in Suli! Eine Übersetzung würde sich nicht reimen..."Das weiß sie von ihrem Gatten. Wie oft hat sie Tristan fluchen gehört, seit sie auf dem Festland unterwegs waren, wenn er sich damit abmühte, seine hübschen Verse aus dem Värangsk ins Suli zu übertragen. "Es reimt sich einfach nicht! Es reimt sich ums Verrecken nicht!" Lîf seufzt erleichtert. Zumindest mit dem Satyr würde man sich verständigen können – wenn man ihn denn fände.
Das erinnert sie an ihren Plan, Ishalón auf sich aufmerksam zu machen. Laut Choron entgeht ihm ja angeblich nichts in seinem Reich.
Jeder Baum, jeder Strauch flüstert ihm zu hört sie die lehrmeisterliche Stimme in ihrem Kopf,
er sieht, was sie sehen, hört, was sie hören, und spürt den Wind, der sie streichelt. Und jede hübsche Maid, die er sieht, die will er umgarnen. Was also könnte sie tun, damit der Satyr auf sie aufmerksam wird? Damit er sie vielleicht von sich aus aufspüren will? Und wie sieht das mit Aeryn aus? Zwei Köder sind besser als einer! Hübsch ist die Elbin ja auch, nur macht sie so gar nichts aus sich. Weder schmückt sie sich noch trägt sie hübsche Kleidung und ist in ihrer ganzen Art überhaupt das völlige Gegenteil von kokett.
"Eigenartig", kommt Lîf noch der Gedanke,
"dass Ishalón in Suli dichtet, nicht in seiner eigenen Sprache, findet ihr nicht?"~~~
Doch erst einmal verfolgen die Gefährten die Spuren der fürstlichen Gefolgsleute. Viel weiter kommen sie an dem Tag nicht mehr, bevor die Nacht einbricht, aber immerhin erreichen sie noch die auf der Karte eingezeichnete Straße. Auf den ersten Blick wird klar, dass diese schon seit langem nicht mehr benutzt wird, außer von Wild oder Waidmann. Gepflastert wie die Kellerrampe im Fürstenhaus, bemoost, zerbrochen, überwuchert, teils ganz unter Laub und Gestrüpp verschwunden, zieht sie dennoch bis heute eine nahezu schnurgerade Schneise durch den Wald.
Eine kleinen Ruine – ehemals womöglich eine Wegstation, heute eine Handvoll Mauerreste, an keiner Stelle mehr als brusthoch – bietet ihnen dennoch ein wenig Schutz vor dem nicht nachlassenden Nieselregen, sodass sie hier ihr Nachtlager errichten. Wachen sind schnell eingeteilt, die Nacht vergeht ereignislos. Am nächsten Morgen, während andere sich um Mahl und die notwendigen Dinge kümmern, sucht Rogar die Ruine und Umgebung nach einem vielleicht noch erhaltenen Keller ab, wird aber nicht fündig.
"Freydis bat mich, nach weiteren akadischen Ruinen wie jenen unter dem Fürstensitz zu suchen", erklärt er sein Tun.
"Und, falls ich dabei Runen finde, diese für sie abzuzeichnen." Er klopft auf den Beutel, in welchem er sein Notizbuch bei sich trägt.
Der zweite Reisetag führt die Gruppe auf der alten akadischen Straße weiter in den Wald hinein. Auch das Wetter klart ein wenig auf: immer noch kühl bleibt es größtenteils trocken. Doch die Hoffnung auf ein gutes Vorankommen erlischt, als man eine Gabelung erreicht. Auf der Karte ist diese wohl eingezeichnet. Der rechte Abzweig führt zum Morgentor, der südlichere zu der Brücke über den Iló, in deren Nähe sich das alte Schlachtfeld befinden soll, und weiter quer durch den gesamten Wald bis zum Turm 'Nirins Wacht', welcher nördlich der heutigen 'Wacht am Wall' fast schon am Loch Leskos liegt.
Da sich leider keine Spuren finden, welchen Abzweig die Männer des Fürsten nahmen, beschließt die Gruppe zu rasten, während Aeryn, Wulfgar und Brakus gemeinsam beide Möglichkeiten erkunden. Die Sonne hat ihren Zenit bereits überschritten, als die beiden mit der Nachricht eintreffen, auf dem nördlichen Abzweig Spuren entdeckt zu haben.
[2] Die Gefährten machen sich also weiter auf den Weg in Richtung des Morgentors. Dahinter befand sich ein großes umrandetes Gebiet mit dem Warnhinweis:
Achtung! Betreten nicht ohne Erlaubnis. Gefahr für Leib und Leben.Ob diese Warnung, welche immerhin drei bis vier Jahrhunderte alt ist, heute noch gilt? Haben die Männer des Fürsten diese vielleicht missachtet oder vielmehr wussten nichts davon, ohne im Besitz dieser Karte zu sein? Doch womöglich führte ihr Weg gar nicht so weit. Das Morgentor dürfte noch drei oder gar vier Tagesreisen entfernt sein, je nachdem, wie passierbar die Straße bleibt.
Kaum hat Rogar diesen letzten Gedanken laut geäußert, gelangt man auch schon an das erste Hindernis. Eine Brücke, welche hier einst ein kleines Tal überspannte, ist wohl schon vor Jahrhunderten eingebrochen, und so muss man also mühevoll den Abhang hinabsteigen, das kleine Bächlein überqueren – vielleicht macht man hier eine Rast, wäscht sich, füllt die Trinkschläuche auf – und auf der anderen Seite wieder hinauf. Wulfgars Maultier, trotz seiner Last, macht die Sache munter mit, einigen der Zweibeiner fällt es deutlich schwerer. Überhaupt noch viel mühsamer, auch gefährlicher, wird die Angelegenheit durch die Ziegen, von denen es in diesem Tale hunderte zu geben scheint und welche allesamt neugierig herbeiströmen und die Gefährten übermütig umspringen. Am ärgsten scheinen Lîf und Arnvidh es den Tieren angetan zu haben, denn diese werden so dicht und so wild umdrängt, dass es da doch so manches Mal brenzlig wird. Von Wulfgar dagegen halten sie – dank Brakus – gehörig Abstand.
Um die zweifach verlorene Zeit aufzuholen, reisen die Gefährten abermals bis zum letzten Licht. So müde ist man beim Errichten des Nachtlagers, dass man so gerade eben nur die nötigsten Arbeiten verrichtet, Wachen einteilt, und sich aufs Ohr haut. Auch die zweite Nacht im Wald verläuft ereignislos.
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Am Morgen des dritten Tages kehrt das schlechte Wetter zurück. Noch immer folgt man der Straße. Hin und wieder entdecken Wulfgar oder Aeryn Spuren ihrer Beute, bisweilen sind diese auch deutlich genug, dass selbst ein Laie sie erkennt: ein verlassenes Nachtlager etwa, ein zum Zeitvertreib erstelltes Schnitzwerk, eine verlorene Kappe.
Gegen Mittag begegnet ihnen eine weitere Gruppe Bohabangai, Männer und Jünglinge ausschließlich und allesamt bewaffnet. Man beäugt sich gegenseitig mit Misstrauen – und passiert einander mit Abstand.
Nähert die Gruppe sich vielleicht einem Bohabangai-Gebiet? Ist es das, vor dem die Karte warnt? Doch wenn dem so wäre, hätten die Krieger sich ihnen sicherlich in den Weg gestellt, oder? Wenn man nur mit ihnen reden könnte!
Ansonsten verläuft der dritte Tag ereignislos, außer das einerseits der Zwerg immer mal wieder anhielt, um irgendwelche Mauerreste zu untersuchen, oder andererseits die Druidin, um die Veränderung des Waldes um sie herum genauer wahrzunehmen. Was ihren Begleitern zunächst entging, wird doch zunehmend auch dem Unkundigsten bewusst: der Wald um sie herum wird dichter, höher, dunkler... älter.
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Und dann – am Vormittag des vierten Reisetages, dem 12. Tag des Erntemondes – steht man plötzlich vor dem Morgentor. Dass man sich einer Lichtung nähert, hat man wohl schon etliche Schritte voraus erkannt, doch nichts hätte auf diesen Anblick vorbereiten können. Gerade noch befand man sich im dichtesten Wald, drei Schritte später auf einer riesigen Schneise, auf der außer Gras und dem mickerigstem Kraut nichts wächst. Ein Blick zurück lässt an den eigenen Sinnen zweifeln: die Schnur eines Maurers hätte keine geradere Linie durch die Landschaft ziehen können, wie hier der Wald urplötzlich endete. Weder in südlicher noch nördlicher Richtung lässt sich ein Ende des baumlosen Streifens erspähen, und voraus erstreckt der Streifen sich an die zweihundert Schritt.
Dahinter erhebt sich, ebenso unnatürlich akkurat gezogen, eine zweite Wand aus Bäumen: deutlich höher als die hinter ihnen liegende und im Gegensatz zu dieser überwiegend aus Laubbäumen bestehend, deren vielfingrige Kronen dazu die phantastischsten Formen bildeten.
Das Morgentor selbst ist strahlend weiß, bestimmt 60 Schritt hoch, dabei kaum vier Wagen breit, von zwei dünnen Säulen unterteilt und offenbar in tadellosem Zustand. Ein dunkler Schatten in Bodennähe deutet auf leichten Moosbewuchs, aber ansonsten: als sei der Zahn der Zeit spurlos an ihm vorübergegangen.
Welchen Nutzen das Tor hat, mag man sich fragen, so freistehend mitten in der Landschaft? Nun, es schließt sich zwar keinerlei Mauer an, doch der Wald zu beiden Seiten ist sicherlich nicht weniger undurchdringlich als eine solche. Die Stämme der Bäume drängen hier noch mal so dicht an einander wie hinter ihnen, das Unterholz wirkt gar dreimal so dicht, dazu setzt es sich bis hoch in die Kronen fort, dank Lianen, Ranken und derlei Schlingern. Nur die höchsten Spitzen sind frei und strahlende Gaja, in welche Höhen streben diese empor! So hohe Bäume haben Lîf oder Abdo oder Rogar noch nie gesehen.
Aeryn dagegen schon. Im Gegensatz zu ihren Kameraden steht sie als einzige nicht mit offenem Mund staunend da. Ja, ja, das ist ein Elbenwald. So sieht's bei uns daheim auch aus. Na ja, bis auf diese seltsame Schneise natürlich, und ein Tor haben wir auch noch nie gebraucht... Sie hat gar nicht gewusst, dass es hier noch Elben gibt. So verstreut man auch heutzutage lebt, die Elben der einzelnen Wälder halten dennoch Kontakt miteinander. Selbst aus Albion und dem höchsten Norden tauchen regelmäßig Boten und Besucher in Aeryns Heimat auf. Aber von hier, was doch relativ nah ist, niemals. Das macht ihr wenig Mut auf einen freundlichen Empfang.
Noch steht die Gruppe unschlüssig da, ein paar Schritte auf der Schneise, der Waldrand noch in rettender Nähe.