Lucia ist froh, sich ihre Fragen zunächst verkniffen zu haben, denn sonst wäre sie wohl an Levin statt wegen unhöflichem Verhalten von ihrem Gastgeber zurechtgestutzt worden. Nun besteht jedenfalls kein Zweifel, warum Verus Crandel früher auch „Der Hitzköpfige“ genannt wurde. Dennoch scheint zumindest seine Frau ihn im Griff zu haben – ein durchaus amüsanter Anblick, würde für Lucia so etwas von näherer Bedeutung sein. Dennoch fällt es ihr auf und sie kommt nicht umhin, wie gewohnt innerlich ihre Gesprächspartner zu analysieren, um sich ein Bild von deren Persönlichkeiten zu machen.
Zwischendurch antwortet die junge Detektivin nur kurz mit einem Lächeln ihrerseits und den höflichen Worten „Danke für Eure Gastfreundschaft – sie sind geschäftig, wie immer“ bezüglich Menas‘ und ihrer Eltern antwortet, um das Gespräch nicht lange zu unterbrechen und Branda Crandel weiterreden zu lassen.
… Vermutlich, neben all den anderen Dingen, damit, sich um einige ihre zukünftigen Pläne Sorgen zu machen, weil zwei ihrer Kinder ihnen nach Cassomir entflohen sind. Erst ich, und nun auch Menas, fügt Lucia jedoch in Gedanken hinzu, denn so sind die Starlings, besonders ihr Vater nun einmal: Bevormundend und auf das Vermögen sowie den Ruf der Familie bedacht, so wie viele einflussreiche, adelige Geschäftsleute in Absalom. Doch Lucia ist das herzlich egal. Hauptsächlich hat sie Absalom verlassen, weil ihr als Ermittlerin diese riesige Stadt mit den immer und immer gleichen Problemen in letzter Zeit lang zu langweilig geworden ist.
Sie hört den weiteren Ausführungen der Dame Crandel mit Interesse und Aufmerksamkeit zu. Die Crandels scheinen sich tiefgreifende Sorgen um ihren Freund zu machen, was Lucia schon einiges über Taergan Flinn verrät.
„Natürlich, dem werden wir uns annehmen“, versichert sie schließlich, als die Gruppe gebeten wird, sich das Haus des Vermissten genauer anzusehen. Kurz blickt sie zu Menas herüber. Dass dieser ihr Bruder ist, dürfte nun inzwischen auch Levin Jasper Constantin von Mendenhall klar geworden sein, und das Spielchen, das Menas mit diesem gespielt hat, ist damit wohl beendet.
„Uns ist es eine besondere Freude, Freunden der Familie behilflich zu sein“, bezieht Lucia ihren Bruder mit ein. Im Grunde macht es für sie keinen Unterschied, für wen sie arbeitet, solange der betreffende Fall sie nicht anödet, doch kann nie verkehrt sein, Bekanntschaften und Freundschaften zu festigen.
„Ich nehme stark an, dass Ihr von Taergan Flinn Unzuverlässigkeit nicht gewohnt seid“, fährt Lucia fort, „und Ihr schon versucht habt, ihn zu benachrichtigen“, und schließt auch sogleich ihre ersten Fragen an, um sich ein erstes, grobes Bild zu verschaffen:
„Besteht die Möglichkeit, dass er Euer Treffen aus Geschäftigkeit vergessen hat?“, interessiert es sie zu erfahren. Dass die Sorge um Taergan Flinn unbegründet ist, ist durchaus möglich. Lucia will nicht vom Schlimmsten ausgehen. Aber auch nicht vom Besten. Nein, sie möchte vollkommen unvoreingenommen ins Geschehen tauchen. Vorurteile behindern nur das Finden der Wahrheit. Zum finden der Wahrheit, braucht man mehrere Optionen und Betrachtungsweisen. Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.
„Wisst Ihr zufällig, womit er sich zuletzt beschäftigt hat?“
Dies könnte schon einige erste Anhaltspunkte geben.
„Und auch wenn Ihr die Zahl der Feinde und Neider möglicherweise nicht benennen könnt: Haben in der Vergangenheit besondere Rivalitäten und Konflikte, in die Herr Flinn verwickelt gewesen war oder gewesen sein könnte, hervorgestochen?“
Besondere Feinde – besondere, ausschlaggebende Motive, dem Halbelfen Schaden zuzufügen.
„Gibt es Orte, an denen er sich bevorzugt aufhält, außer seinem Heim?“
Irgendwo müssen sie die Suche beginnen, ja. Doch würde sie schon am Haus des Vermissten enden? Vermutlich nicht, schätzt Lucia. Weitere Orte in der Hinterhand zu haben, kann nicht schaden.