Die Situation hat eine für Lucia sehr unerwartete Wendung genommen. Sie ärgert sich über sich selbst, dass sie die Illusion nicht durchschaut hat. Das nagt sogar nicht wenig an ihr. Allerdings ist nun nicht der rechte Zeitpunkt, sich darüber aufzuregen – zumindest nicht äußerlich –, denn Menas hat das Problem, das sie nun haben, richtig erkannt: Wenn nun noch lebende Wachen sie entdecken würden, zusammen mit den Leichen, wäre die Katastrophe perfekt. Andererseits kommt Lucia durchaus der Gedanke, nun bewusst Wächter einzuschalten. Bestünde nicht der Umstand, dass sie selbst nun auf der Stelle sich genauer hier umsehen möchte, hätte sie das sogar ernsthaft in Erwägung gezogen. Eigentlich ist es, so unpassend es klingt, in gewisser Form erleichtert, dass die toten Wächter ihr nun nicht mehr ins Handwerk pfuschen können.
„Ich bezweifle nicht, dass auch diese beiden vor ihrem Tod echte Wächter waren“, kommentiert die Detektivin die Formulierung Menas‘ Aufforderung, die Leichen ins Haus zu schaffen. Gegen diese Vorgehensweise hat sie in diesem Fall nichts einzuwenden. Da die Wächter hier nicht an Ort und Stelle getötet wurden, können auch nicht wichtige Spuren verwischt werden, wenn die Leichen bewegt würden. So schnappt Lucia sich kurzerhand die Beine des zweiten Toten und schleift diesen ebenfalls ins Haus, um ihn direkt neben der anderen Leiche abzulegen. Sofort und ohne Scheu, sobald alle im Haus sind und die Tür geschlossen ist, sinkt sie auf die Knie, um die Leichen genauer zu untersuchen. Berührungsängste kennt sie dabei nicht, zieht ihre Handschuhe aus, krempelt die Ärmel hoch und lässt ihren Bruder gewähren, der offenbar ebenfalls die Toten untersuchen will.
„Sie sind noch nicht lang tot, höchstens zwanzig Minuten“, sagt Lucia, während sie jeweils die Temperatur der beiden Leichname fühlt, „wobei durchaus deutlich weniger Zeit verstrichen sein könnte. Vorhin sind sie am Grundstück vorbeigelaufen“, erinnert sie sich. „Da haben sie schätzungsweise noch gelebt.“
Ungeachtet des vielen Blutes, das sie dabei berühren muss, schaut sich Lucia nun die Wunden der Wächter an, und macht dazu die Haut frei, wo Kleidung ihr sie Sicht versperrt. Dabei durchsucht sie auch die Taschen der Männer. Sie tragen die Standardausrüstung der Stadtwache bei sich und insgesamt sechs Goldmünzen. Das Geld legt sie wieder zurück und kümmert sich lieber um ihre Untersuchung, die sie in fast schon begeisterten statt entgeisterten Ton monologisierend begleitet.
„Unzählige Kratzer, Blutergüsse… Mmh, was haben wir hier?“
Lucia besieht sich einen Arm sehr interessiert aus nächster Nähe, wofür sie die schlaffe, geschundene Gliedmaße vom Boden anhebt und so dreht, dass sie die Wunden am besten begutachten kann.
„Bissspuren… Und nicht nur das, Fleisch fehlt.“
Die Detektivin legt den Arm wieder ab und öffnet neugierig den Mund des Mannes, mit dem sie sich gerade befasst, weil ihr das blutbesudelte Gesicht ins Auge gefallen ist.
„Keine Zunge.“
Sie prüft dies auch beim anderen Wächter, sagt aber nichts dazu, dass diesem ebenfalls die Zunge herausgerissen worden wurde. Nun ist sie eher am klaffenden Loch in der Brust der jeweiligen Opfer interessiert. Sie ahnt, dass die Herzen der Wächter fehlen, doch von Ahnungen hält sie wenig. Fakten sind das, was zählt. Sie hat ausgeblendet, dass sie nicht allein ist und beobachtet wird – das ist ihr, schlichtweg, egal, genauso wenig wie der offenkundig grausame Tod der Wächter ihr wirklich nahe zu gehen scheint. Die Detektivin führt einfach die Hand in die Brust ihres Studienobjekts ein, um ihre Theorie mithilfe ihres Tastsinns zu prüfen – für eine genaue optische Einschätzung ist einfach zu viel Blut im Weg und nicht das richtige Licht vorhanden. Als sie kurz darauf zu der Erkenntnis erlangt ist, die sie hat haben wollen, lässt sie von den Leichen ab und steht wieder auf.
„Fast könnte man meinen, diese beiden Männer seien von einem tollwütigen Tier angefallen worden“, berichtet sie der Runde, während sie versucht, ihre Hände mit einem Taschentuch zu säubern, was jedoch nicht so recht funktioniert.
„Zunge und Herz wurden mit Gewalt und großer Kraft entfernt, ohne Zuhilfenahme einer Klinge. Die Kratzer überall am Körper lassen auf einen Kampf schließen, doch einige sind ihnen sicher gezielt unter Folter zugefügt worden, durch die sie schließlich zu Tode gekommen sind. Die Bissspuren, die sie tragen, lassen jedoch auf kleine Angreifer schließen. Und nun wird die Angelegenheit erst richtig interessant: Nicht nur irgendwelche kleinen Angreifer, sondern Kinder, der Kiefergröße und den Gebissprofilen nach zu urteilen. Hast du dem irgendetwas hinzuzufügen, Menas?“