Theudis antwortete nicht sofort und Finlay glaubte schon, der Mann hätte sich entschieden zu schweigen.
Was, dann muss ich jetzt singen? Das war doch nicht ernst gemeint! Obwohl, die Stille, die ertrag ich wirklich nicht. Einsam gehen wir durchs Leben, schweigend in den Tod. Aber dann antwortete Theudis doch noch, dazu in allem Ernst, auf Finlays Frage. So, William brauchte also bloß ruhig zu atmen und an nichts zu denken, um Frieden zu finden. Was für ein glücklicher Mensch!
"Friede, nein, den werd' ich im Leben nicht haben." Flüstert eine Göttin mir zu aus jedem Bach, Fluss oder Strom.
"Da sind die Wahrsagerinnen sich einig. Mit etwas Glück finde ich ihn vielleicht im Tod."Und selbst dafür standen die Karten momentan schlecht—für Theudis offenbar auch. Heldenhaft in der Schlacht hatte er fallen wollen, statt dessen war er auf der Flucht in eine Grube gestürzt. Das musste ihn fast noch mehr ärgern, als es Finlay ärgerte, aber man sah's ihm gar nicht an, so ruhig wie er dasaß. William schien ein verdammt guter Lehrer gewesen zu sein.
"Man kann's sich halt nicht aussuchen. Natürlich hast du recht, dass ich nicht viel von Krieg und Schwertern versteh, aber ich denk' mir trotzdem, dass Gorum dein ganzes Leben betrachten wird, nicht bloß das Wie und Wann deines Todes, über das wir ja zumeist keine Kontrolle haben. Sonst wäre es am Ende reiner Zufall, wer in Gorums Hallen landet."Und damit war irgendwie alles gesagt. Finlay bemerkte, dass er schon die ganze Zeit mit seinem Dolch herumspielte. Plane immer für das Schlimmste, hatte Theudis vorhin gemeint. Ja, etwas anderes erwartete Finlay vom Leben eh nicht mehr. Aber durfte er so schnell aufgeben? Würde es ihm nicht als Feigheit statt als Liebe ausgelegt?
"Das Licht wird nicht mehr lange halten und dann war's das[1]", sagte er. Ob er so lange ausharren sollte? Er kam sich schon sehr befangen vor, so unter Theudis' Blick auch nur das Für und Wider abzuwägen. Aber der Gedanke, dass ihn nicht nur die Enge einer Gruft, sondern auch deren Dunkelheit umfangen würde, war schlimmer als der, dabei beobachtet zu werden. Er stellte sich all die Erde vor, die von oben und von allen Seiten auf sie drückte... Luft, er bekam keine Luft!
Ersticken. Natürlich, warum hatte er das nicht gleich gesehen? Sie würden ersticken, nicht verhungern oder verdursten. Wie lange konnte die Luft hier herinnen halten? Jedenfalls nicht lange genug, als dass jemand in Falkengrund sie vermissen und ihnen einen zweiten Trupp hinterherschicken könnte. Schon gar nicht, wie die Dörfler da drauf waren. Finlay hatte es nicht begriffen. Wenn bei den Zigeunern Kinder vermisst wurden, dann machte alles, was noch oder schon laufen konnte, sich sofort auf, um sie zu suchen! Aber hier? Hier hatte man fünf Fremde angeheuert. Nun gut, er musste die Welt nicht begreifen. Jetzt nicht mehr.
"Vielleicht geht es auch aus, sobald ich... Also, wenn du willst, ich hab Kerzen dabei. Die verbrennen die Luft nicht so schnell wie Fackeln. Bedien dich einfach." Er deutete auf seinen Rucksack, dann stand er auf und zog Jacke und Wams aus. Darunter kam ein auffallend gut gearbeitetes Kettenhemd zutage. Auch dieses hob Finlay mit einiger Mühe über den Kopf, und zu guter letzt folgte auch noch das Unterwams.
Dass Finlays Unterarme tättowiert waren, hatte Theudis natürlich schon gesehen, jetzt kamen auch die Tattoos auf den Oberarmen, Brust und Rücken zum Vorschein. Besonders ins Auge fiel der Schwan, der mit weit ausgebreiteten Flügeln die Brust zierte. Der zur Seite gebogene Kopf deutete genau aufs Herz. Direkt unter der Schnabelspitze müsste man ansetzen und könnte es nicht verfehlen.
Aber habe ich mir die Ewigkeit mit ihr schon verdient? Sehr viel geleistet hab' ich ja noch nicht; allein noch gar nichts. Und sterben tue ich auf einer ganz und gar unwürdigen Mission. Aber ach, der Mensch braucht doch was zu beißen und warme Klamotten bei der Kälte, und am Ende war's die Einsamkeit, die mich dazu gebracht hat, mich diesem Himmelfahrtskommando anzuschließen. Jedenfalls hat's keinen Zweck, noch länger zu warten. Von eigener Hand muss es sein! Einfach bloß ersticken, weil man in eine Grube gefallen ist, die man übersehen hat, das ist kein Liebesbeweis. Ich muss Naderi schon vertrauen, dass sie mein Herz und meine Seele kennt und ihr Versprechen erfüllt, denn ich habe meins erfüllt so gut es nur eben ging.Er nickte Theudis zu.
"Seh' dich auf der anderen Seite wieder. Oder vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon."Zugegeben, es war ein sehr unangenehmes Gefühl: dass er einen Zuschauer haben würde. Eigentlich hätte es ein privater Augenblick werden sollen, nur er, Rhianna und der Fluss. Er wandte Theudis den Rücken zu, zog seinen Dolch, hob ihn zum Herzen und machte sich bereit.
Bruder Oldroyd hatte ihm erklärt, dass es ansonsten keines großartigen Rituals und keiner weiteren Vorbereitung bedürfe: Dolch oder Fluss, und die Gedanken bei der Liebsten. Und doch hatte Finlay es sich eigentlich immer so ausgemalt: ein letztes Lied, auf der Brücke, bevor er sprang. Eins, dass die Seele berührte und die Sphären durchdrang und vielleicht, vielleicht von ihr gehört wurde. Da sie noch lebte, konnte er sich letzteres nicht erhoffen, aber er beschloss, es trotzdem so zu machen. Er und Rhianna hatten viel gesungen. Sie hatte ihm rostländische Lieder vorgesungen, er ihr varisische, und gemeinsam hatten sie das Leben und ihre Liebe besungen.
Also schloss er die Augen, beschwor Rhiannas Anblick aus der Erinnerung und sang das Lied, das ihr immer am besten gefallen hatte.
[2] "A través da noite silenciosa, noite sen estrelas
Deseñan melancolicamente as melodías do xitano;
Como o mendigo ás portas
Suplica alí debaixo da fiestra:
»Abre-me, querida, e escoita as miñas palabras do amor.«
»Vagabundo bronce, o teu canción é tan doce!
A túa voz seduce os seus sentidos
De todas mulleres. Son tolo por ela.
Comeza a túa música, vai, vai, comeza!
Oh, xitano co pelo negro - canta, canta para min!«
»Lonxe de aquí hai un poderoso auga.
Ademais de que vive libre, bonito, mellor!
Veña, oh veña, vou levar-te alí.
Ningún toque de malicia vai tocar en ti,
Eternamente serei fiel aos meus votos do amor!«
»Oh xitano bronce co pelo negro
A túa voz me seduciu tamén, me pobre moza!
Pero a túa música fuxiu sen lealdade.
Ti tamén me deixaches, infiel!
A ningunha muller, só á rúa na que es fiel.«"[3]Schon während er sang, ärgerte Finlay sich über seine Wahl. Nein, nein, nein, das stimmte ja alles nicht, das war bloß das Vorurteil. Niemand war treuer als ein Zigeuner. Niemand war treuer als er! Zwar brachte er das Lied zu Ende, aber er musste sich zwingen und an den schlimmsten Stellen verzog er das Gesicht und als er geendet hatte, fluchte er leise vor sich hin. Nein, so wollte er sich nicht verabschieden, das Lied sollte nicht sein letztes sein. Doch welches dann? Mit der Stirn an die kühle Wand gelehnt, stand er da und überlegte.